Serotoninsyndrom

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von Serotonin-Syndrom)
Klassifikation nach ICD-10
T88.7[1] Nicht näher bezeichnete unerwünschte Nebenwirkung eines Arzneimittels oder einer Droge
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Das Serotoninsyndrom, genannt auch serotonerges Syndrom, ist ein Komplex aus Krankheitszeichen (Symptomen), die durch eine Anhäufung des Gewebshormons und Neurotransmitters Serotonin oder Serotonin-ähnlich wirkender Substanzen in Teilen des Körpers hervorgerufen werden. Charakteristisch für dieses Syndrom sind autonome, neuromotorische und kognitive Störungen sowie Verhaltensveränderungen. Es schließt Symptome wie Veränderungen der psychischen Verfassung, Ruhelosigkeit, rasche unwillkürliche Muskelzuckungen, gesteigerte Reflexbereitschaft, Schwitzen, Schüttelfrost und Tremor ein. Das Serotonin-Syndrom ist häufig das Resultat einer Arzneimittelwechselwirkung, die zu einer Erhöhung der Serotoninaktivität führen kann und insbesondere bei einer kombinierten Anwendung von serotonergen Arzneistoffen mit MAO-Hemmern beobachtet wird.

Definition und Diagnose

Die Kriterien für die Definition des Serotoninsyndroms wurden 1991 erstmals von Sternbach beschrieben.[2] Danach erfordert die Diagnose eines Serotoninsyndroms das Auftreten von mindestens drei der vom Autor beschriebenen Symptome: Entweder treten die Symptome auf infolge der primären Gabe eines Medikamentes, das den Serotoninspiegel im Gehirn erhöhen kann, dann als Folge einer weiteren Dosiserhöhung eines solchen Medikamentes oder aber schließlich als Folge der zusätzlichen Kombination mit einem weiteren Medikament (einer anderen Substanzklasse), von dem ebenfalls eine Erhöhung des Serotoninspiegels zu erwarten ist.

Symptome eines Serotoninsyndroms
autonom vegetative Symptome
Pulsanstieg Blutdruckanstieg
Schwitzen „Grippegefühl“
Übelkeit (akutes) Erbrechen
Durchfall Kopfschmerzen
schnelle Atmung Pupillenerweiterung
Symptome einer zentralnervösen Erregung
Unruhe Akathisie
Halluzinationen Hypomanie
Störungen des Bewusstseins Koordinationsstörungen
neuromuskuläre Symptome
Tremor gesteigerte Reflexe
Myoklonie pathologische Reflexe
Krämpfe Anfälle

Die von Sternbach beschriebenen Symptome werden heute zu drei Gruppen von Symptomen zusammengefasst (siehe Tabelle).

Durch das Serotoninsyndrom lassen sich z. B. paradoxe Unruhe- oder gar Angstzustände (Akathisie) erklären, die manchmal zu Beginn z. B. einer Therapie mit einem Antidepressivum aus der Gruppe der SSRI auftreten können, vor allem, wenn ein solches Medikament zu rasch aufdosiert wird. Auch das Auftreten suizidaler Gedanken wird in Verbindung mit dem Serotoninsyndrom gebracht.

Aufgrund der häufigen Verordnung von Medikamenten aus der SSRI-Gruppe besteht eine große Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines Serotoninsyndroms als Folge problematischer Wechselwirkungen bei Kombination dieser Medikamente mit anderen Medikamenten, die ebenfalls den Serotoninspiegel beeinflussen können. Zu solchen Medikamenten gehören beispielsweise bestimmte Schmerzmittel wie Tramadol, aber auch Mittel gegen Migräne bzw. Kopfschmerzen wie die Triptane, also Mittel, die von Betroffenen mit depressiven Beschwerden relativ häufig zusätzlich in Kombination zu einem SSRI eingenommen werden.

Differenzialdiagnose

Diagnostisch kann sich die Abgrenzung zu dem sogenannten malignen neuroleptischen Syndrom als schwierig erweisen. Das Serotoninsyndrom kann wegen der grippeähnlichen Symptome unter Umständen auch als Virusinfekt und bei Auftreten der zentralnervösen Symptomatik insbesondere als Meningoencephalitis[3] verkannt werden.

Auch psychische Erkrankungen – insbesondere Depressionen mit einer Angstsymptomatik – gehen oft mit einer Unruhe (Agitiertheit) einher, die sich als vegetativ-körperliche Beschwerdesymptomatik äußern kann. Die Abgrenzung eines Serotoninsyndroms von solchen Syndromen ist deshalb auch für den Arzt nicht immer einfach.

Zielführend für die Diagnose eines Serotoninsyndroms sind – neben der sorgfältigen Medikamentenanamnese – vor allem die neuromuskulären Symptome wie der Tremor bis hin zu den pathologisch gesteigerten Reflexen. Die allgemeine Erhöhung der Erregung der Muskulatur kann schließlich über eine Einbeziehung auch der Atemmuskulatur zu lebensbedrohlichen Zuständen bis hin zum Tode führen.

Ursachen

Das Serotoninsyndrom ist zumeist eine Folge einer Wechselwirkung zwischen Arzneimitteln, die das Serotoninsystem beeinflussen. Zumeist noch relativ mild ausgeprägte Symptome eines Serotonin-Syndroms können jedoch im Einzelfall bereits unter der Monotherapie mit Triptanen[4], tri-[5] und tetrazyklischen Antidepressiva,[6][7] selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern[8][9] oder Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern[10] beobachtet werden. Der kombinierte Einsatz verschiedener Arzneistoffe, die sich in ihrer Wirkung auf das Serotoninsystem synergistisch verstärken, kann zu einer lebensbedrohlichen Verstärkung dieser Symptome führen. Hierzu zählen beispielsweise Wechselwirkungen zwischen Arzneistoffen, welche die Wiederaufnahme von Serotonin aus dem synaptischen Spalt blockieren, und solchen, die den Abbau von Serotonin über das Enzym Monoaminooxidase Typ A hemmen. Eine weitere mögliche Ursache für ein Serotonin-Syndrom ist die kombinierte Anwendung serotoninerger Arzneimittel mit Arzneimitteln, welche den Abbau serotoninerger Arzneimittel hemmen. Dazu zählen Wechselwirkungen zwischen einigen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern und Stoffen, die das für deren Verstoffwechslung verantwortliche Cytochrom-P450-Enzymsystem hemmen.[11] Auch Interaktionen zwischen Arzneimitteln und Lebensmitteln können Ursachen für ein Serotonin-Syndrom sein.[11] Genetisch können auch die Wirkspiegel von Arzneimittel erhöht sein bei Poor Metabolizern von CYP2C19 und C2D6. In der Folge ist die Gefahr der Entwicklung eines Serotoninsyndroms bei Antidepressiva erhöht.[12]

Auf molekularer Ebene wird das Serotoninsyndrom auf eine unkalkuliert starke Aktivierung zentraler oder peripherer Serotonin-Rezeptoren, insbesondere 5-HT1 und 5-HT2, zurückgeführt.

Pharmakologische Mechanismen als mögliche Ursachen eines Serotoninsyndroms[13]
Mechanismus Wirkstoffe
Steigerung der Serotoninsynthese Tryptophan, 5-Hydroxytryptophan
Steigerung der Serotoninfreisetzung MDMA, Amphetamine, Tramadol, Nicotin[14]
Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin aus dem synaptischen Spalt Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (z. B. Fluoxetin, Fluvoxamin, Sertralin, Citalopram, Escitalopram und Paroxetin), Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (z. B. Venlafaxin), trizyklische Antidepressiva (z. B. Amitriptylin, Clomipramin), Trazodon, Nefazodon, Amphetamine, Kokain, Dextromethorphan, Pethidin und Johanniskraut
Hemmung des Serotoninabbaus MAO-A-Hemmer (z. B. Tranylcypromin und Moclobemid), Linezolid[15]
Stimulierung von Serotoninrezeptoren Buspiron, Triptane (z. B. Sumatriptan)
Verstärkung der Serotonineffekte Lithium
Hemmung des Abbaus oben genannter Arzneistoffe CYP2D6-Inhibitoren (z. B. Ritonavir), CYP3A4-Inhibitoren (z. B. Saquinavir, Efavirenz, Erythromycin, Grapefruitsaft)

Behandlung

Bei der Behandlung von Patienten, die ein Serotonin-Syndrom entwickeln, steht die Beseitigung dessen Ursachen im Vordergrund. Die ursächlichen Arzneimittel werden dazu abgesetzt und die Patienten überwacht.[13]

In milden Fällen wird Lorazepam zur Beruhigung empfohlen. Bei moderaten bis schweren Fällen können unspezifisch Serotonineffekte hemmende Arzneistoffe, wie Cyproheptadin, eingesetzt werden.[16]

Bei Auftreten von Anzeichen einer Hyperthermie, disseminierter intravasaler Koagulopathie, Rhabdomyolyse, Nierenversagen oder Einatmen von körpereigenen Sekreten (Aspiration) ist eine strenge Überwachung des Patienten mit zusätzlichen Notfallmaßnahmen nötig.[13]

Literatur

  • S. Rossi (Hrsg.): Australian Medicines Handbook 2005. Australian Medicines Handbook, Adelaide 2005, ISBN 0-9578521-9-3.
  • P. Birmes, D. Coppin, L. Schmitt, D. Lauque: Serotonin syndrome: a brief review. In: CMAJ. Band 168, Nr. 11, 27. Mai 2003, S. 1439–1442. Review PMID 12771076.
  • P. Schweikert-Wehner: Nebenwirkung von Antidepressiva Serotonin im Überschuss. In: Pharmazeutische Zeitung. Band 106, Nr. 9, 2015, S. 22–23.

Einzelnachweise

  1. Alphabetisches Verzeichnis zur ICD-10-WHO Version 2019, Band 3. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), Köln, 2019, S. 801
  2. H. Sternbach: The serotonin syndrome. In: Am J Psychiatry. Band 148, Nr. 6, Juni 1991, S. 705–713, PMID 2035713.
  3. Serotonin-Syndrom bei Mirtazapin-Monotherapie. (PDF; 138 kB). In: Schweiz Med Forum. 5, 2005, S. 859–861.
  4. O. P. Soldin, J. M. Tonning: Serotonin syndrome associated with triptan monotherapy. In: N. Engl. J. Med. Band 358, Nr. 20, Mai 2008, S. 2185–2186, doi:10.1056/NEJMc0706410, PMID 18480219.
  5. P. I. Rosebush, P. Margetts, M. F. Mazurek: Serotonin syndrome as a result of clomipramine monotherapy. In: J Clin Psychopharmacol. Band 19, Nr. 3, Juni 1999, S. 285–287, PMID 10350043.
  6. J. L. Hernández, F. J. Ramos, J. Infante, M. Rebollo, J. González-Macías: Severe serotonin syndrome induced by mirtazapine monotherapy. In: Ann Pharmacother. Band 36, Nr. 4, April 2002, S. 641–643, PMID 11918514.
  7. E. E. Ubogu, B. Katirji: Mirtazapine-induced serotonin syndrome. In: Clin Neuropharmacol. Band 26, Nr. 2, 2003, S. 54–57, PMID 12671522.
  8. V. Chechani: Serotonin syndrome presenting as hypotonic coma and apnea: potentially fatal complications of selective serotonin receptor inhibitor therapy. In: Crit. Care Med. Band 30, Nr. 2, Februar 2002, S. 473–476, PMID 11889332.
  9. S. Ozdemir, I. Yalug, A. T. Aker: Serotonin syndrome associated with sertraline monotherapy at therapeutic doses. In: Prog. Neuropsychopharmacol. Biol. Psychiatry. Band 32, Nr. 3, April 2008, S. 897–898, doi:10.1016/j.pnpbp.2007.11.018.
  10. J. J. Pan, W. W. Shen: Serotonin syndrome induced by low-dose venlafaxine. In: Ann Pharmacother. Band 37, Nr. 2, Februar 2003, S. 209–211, PMID 12549949.
  11. a b K. E. DeSilva, D. B. Le Flore, B. J. Marston, D. Rimland: Serotonin syndrome in HIV-infected individuals receiving antiretroviral therapy and fluoxetine. In: AIDS. Band 15, Nr. 10, Juli 2001, S. 1281–1285, PMID 11426073.
  12. P. Schweikert-Wehner: Serotonin im Überschuss. Hrsg.: Pharmazeutische Zeitung. Band 160, Nr. 9. Govi Verlag, Eschborn 26. Februar 2015, S. 22–23.
  13. a b c H, Sternbach: Serotonin syndrome:How to avoid, identify, & treat dangerous drug interactions. In: Current Psychiatry. Band 2, Nr. 5, 2003 (mdedge.com).
  14. Rahul R. Bhalsinge, Anita A. Barde, Pratibha S. Worlikar, Manasi V. Limaye, Mrunal P. Dhole: Effect of nicotine on serotonin (5-HT) levels in brain of depressed rats. In: International Journal of Basic & Clinical Pharmacology. Band 6, Nr. 4, 25. März 2017, ISSN 2279-0780, S. 938–941, doi:10.18203/2319-2003.ijbcp20171108 (ijbcp.com [abgerufen am 26. April 2020]).
  15. Mutschler et al.: Arzneimittelwirkungen. 10. Auflage, S. 768.
  16. T. M. Brown, B. P. Skop, T. R. Mareth: Pathophysiology and management of the serotonin syndrome. In: Ann Pharmacother. Band 30, Nr. 5, Mai 1996, S. 527–533, PMID 8740336.