Siegerjustiz

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Siegerjustiz ist ein politisches Schlagwort. Es beschreibt die meist nach einem Krieg durch eine Siegermacht vollzogene Gerichtsbarkeit und Rechtsprechung, die gegebenenfalls von den Besiegten als benachteiligend empfunden wird.

Nachkriegsjustiz

In Deutschland und Österreich wurden durch die Kirchen, Juristen, Presse und Parteien in den Nachkriegsjahren die Nürnberger Prozesse, Fliegerprozesse und andere von Gerichten der Alliierten durchgeführte Gerichtsverfahren gegen Angehörige der Achsenmächte als „Siegerjustiz“ abgelehnt.[1][2] Der Vorwurf der Siegerjustiz wurde von den Strafverteidigern der angeklagten Repräsentanten der nationalsozialistischen Führung öffentlichkeitswirksam benutzt, um den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen die Rechtmäßigkeit abzusprechen.[3] In einem Schreiben an Kardinal Josef Frings, Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz, verteidigte der US-Militärgouverneur Lucius D. Clay 1946 das „War Crimes Program“ und betonte, die Kriegsverbrechertribunale seien „in der Hoffnung errichtet worden, dass die Welt ihren Beitrag zum Frieden anerkennen würde und dass sie ein Abschreckungsmittel für künftige Angreifer darstellen möchten“.[4][1]

Die alliierte Nachkriegsjustiz wurde als Rückkehr zu einer Rechtsordnung begrüßt, aber auch vielfach als „Siegerjustiz“ empfunden. Mit dem Begriff war eine aufgezwungene, nicht gesellschaftskonforme Einstellung und Blickrichtung gemeint. Dabei zeigte sich, dass die im Zuge der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz entwickelten Formen der Strafrechtslehren vom politisch-gesellschaftlichen Kontext in besonderem Maße abhängig waren und deutliche Tendenzen zur Negation der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bestanden.[5] Der Stellvertreter des amerikanischen Chefanklägers bei den Nürnberger Prozessen, Robert Kempner, äußerte sich gegenüber diesen Tendenzen: „Es gibt in der Welt überhaupt nur Siegerjustiz … nur Siegerjustiz.“ (1976 in Marcel Ophüls’ Dokumentarfilm The Memory of Justice, dt.: Nicht schuldig?)[6] Zu den Autoren, die in jüngeren Publikationen von Siegerjustiz der Alliierten sprechen, gehört der umstrittene[7] Historiker und ehemalige Professor an der Universität der Bundeswehr München, Franz Wilhelm Seidler.[8]

Zu Beginn der 1990er Jahre entstanden nach dem Kalten Krieg die internationalen ad-hoc Strafgerichtshöfe für Jugoslawien und Ruanda.[9] Mit dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 wurde dann die Grundlage für den permanenten Gerichtshof in Den Haag geschaffen.[10] Im Rückblick präsentieren sich die als „Siegerjustiz“ geschmähten Nürnberger Prozesse als Geburtsstunde des Völkerstrafrechts, das Individuen für Staatshandeln strafrechtlich verantwortlich macht und Regierungsimmunität ablehnt.[11]

DDR-Aufarbeitung

Auch die Aufarbeitung der Vergangenheit der Deutschen Demokratischen Republik wird zuweilen als „Siegerjustiz“ bezeichnet,[12] insbesondere hinsichtlich des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes.[13] Die höchstrichterliche Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland stützte sich bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit hierbei zum einen auf die Radbruchsche Formel, nach der Recht, das gegen wesentliche Grundprinzipien verstoße, zu Unrecht würde, und zum anderen auf eine rechtsstaatliche Interpretation des Rechtes der DDR, die sich von der faktischen Auslegung durch die DDR-Justiz unterscheidet.[14]

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Die vergessenen Prozesse
  2. Winfried R. Garscha: Keine „Siegerjustiz“ – Vor 50 Jahren ging in Nürnberg der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher zu Ende, September 1996 (PDF; 231 kB): „Daß der Prozeß im kollektiven Gedächtnis präsent blieb, lag aber sicherlich in erster Linie an seiner permanenten Denunzierung als ‚Siegerjustiz‘ durch die politische Rechte in Deutschland und Österreich, womit die Rechtmäßigkeit des Verfahrens in Zweifel gezogen werden sollte.“
  3. Annette Weinke: Die Nürnberger Prozesse. C.H. Beck, München 2006, ISBN 3-406-53604-2, S. 57.
  4. Nazi-Verbrechern als „politisch Verfolgte und Opfer einer Siegerjustiz“ geholfen.
  5. Hanno Loewy, Bettina Winter (Hrsg.): NS-„Euthanasie“ vor Gericht. Campus, Frankfurt 1996, ISBN 3-593-35442-X, S. 21 zu Stw. „frühe alliierte Entnazifizierungspolitik“.
  6. Profil The Memory of Justice (1976) bei IMDb.com.
  7. Albert A. Feiber: Phantom der Berge. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Februar 2001, S. 10.
  8. Mehrfache Verwendung des Begriffs in: Franz Wilhelm Seidler: Siegerjustiz. Die KZ-Prozesse der alliierten Besatzungsmächte 1945–1950. Pour le Mérite, Selent 2006; Franz Wilhelm Seidler: Das Recht in Siegerhand. Die 13 Nürnberger Prozesse 1945–1949. Pour le Mérite Verlag, Selent 2007 und: Schuldig! Die alliierten Siegerprozesse gegen Soldaten, Polizisten und Zivilisten. Fliegerprozesse, Malmedy-Prozeß, Oradour-Prozeß, Schanghai-Prozeß. Pour le Mérite Verlag, Selent 2008.
  9. Werle und Jessberger: Principles of International Criminal Law. S. 13 f.
  10. Werle und Jessberger: Principles of International Criminal Law. S. 17 f.
  11. Carl-friedrich Stuckenberg: Völkerrecht und Strafverbrechen. In: Völkerrechtsprechung: ausgewählte Entscheidungen zum Völkerrecht in Retrospektive. Hrsg.: Jörg Menzel, Jeannine Hoffmann, Tobias Pierlings, Mohr Siebeck 2005, ISBN 3-16-148515-7, S. 769.
  12. Otto Köhler: Hitler ging – sie blieben. Der deutsche Nachkrieg in 16 Exempeln (Siegerrecht), KVV konkret, Hamburg 1996, ISBN 3-930786-04-4, S. 36 f.
  13. Bernhard Schlink, Rechtsstaat und revolutionäre Gerechtigkeit, Antrittsvorlesung an der HU Berlin vom 14. April 1994, S. 4 (PDF; 120 kB).
  14. Siegerjustiz nach der Wiedervereinigung?, DRiZ 2010, S. 314, 315 (pro: Erich Buchholz; contra: VRLG a. D. Hansgeorg Bräutigam); Bernhard Schlink, Rechtsstaat und revolutionäre Gerechtigkeit (Memento vom 30. Januar 2012 im Internet Archive), Antrittsvorlesung an der HU Berlin vom 14. April 1994, S. 6 ff. (PDF; 120 kB).