Wahl in Haiti 2010/11

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von Wahlen in Haiti 2010/11)

Die Wahl in Haiti begann am 28. November 2010. Sie umfasste neben der Wahl des neuen Staatspräsidenten von Haiti die Wahl zur Abgeordnetenkammer sowie die Wahl von elf der insgesamt 30 Senatoren. Die Wahlen waren ursprünglich für den 28. Februar 2010 angesetzt, wurden dann aber nach dem schweren Erdbeben vom 12. Januar 2010 auf das Jahresende verschoben. Rund 4,7 Millionen Haitianer waren zur Wahl aufgerufen.

Im ersten Wahlgang gelangte keiner der Präsidentschaftskandidaten über die notwendige 50-Prozent-Marke für eine Direktwahl. Der Termin für eine Stichwahl wurde Anfang Februar 2011 auf den 20. März 2011 verschoben, nachdem die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) Zweifel an dem Ergebnis des Zweit- und Drittplatzierten geäußert hatte.

Rechtliche Grundlagen

Haiti ist eine präsidiale Republik. Staatsoberhaupt und oberster Inhaber der Exekutivgewalt ist der auf fünf Jahre vom Volk direkt gewählte Staatspräsident. Die Amtszeit des Präsidenten ist auf eine Wahlperiode begrenzt; es ist nur eine Wiederwahl nach einer mindestens fünfjährigen Unterbrechung möglich.[1] Der seit 2006 regierende Amtsinhaber René Préval, der bereits von 1996 bis 2001 amtiert hatte, konnte somit nicht zur Wiederwahl antreten; seine Amtszeit endete am 7. Februar 2011.

Der haitianische Staatspräsident ernennt den Ministerpräsidenten, der vom Parlament bestätigt werden muss. Die Legislative liegt beim Zweikammer-Parlament, bestehend aus dem 30 Mitglieder umfassenden Senat und der Abgeordnetenkammer mit 99 Mitgliedern. Während die Wahlen zur Abgeordnetenkammer alle vier Jahre abgehalten werden beträgt die Amtszeit der Senatoren sechs Jahre. Alle zwei Jahre wird ein Drittel der Senatoren neu gewählt.

Hintergrund

Der durch das Erdbeben zerstörte Präsidentenpalast in Port-au-Prince

Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wurden von der angespannten humanitären und politische Lage in Haiti überschattet. Haiti zählt zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Soziale Unruhen hatten zuletzt im Jahr 2008 zur Entlassung der Regierung geführt.[2]

Beim schweren Erdbeben am 12. Januar 2010 starben mehr als 250.000 Menschen; zahlreiche Gebäude in der Hauptstadt Port-au-Prince und den umliegenden Provinzen zerstörte. Betroffen waren auch die Einrichtungen der Wahlkommission und der Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Haiti, weshalb eine Durchführung der Wahlen am 28. Februar 2010 nicht mehr möglich war.[3] Im Juni 2010 legte Präsident Préval den 28. November 2010 als neuen Wahltermin fest. Dies erfolgte auch auf internationalen Druck, da seit dem Erdbeben keine funktionsfähige Regierung mehr im Amt war und die UN-Friedenstruppen vielfältige Verwaltungsaufgaben übernommen hatten.[4]

Im Oktober 2010 brach in dem nördlich von Port-au-Prince gelegenen Département Artibonite eine Choleraepidemie aus, die sich bald auf die Hauptstadt ausweitete und die bis zum 22. November 2010 mehr als 1500 Todesopfer verursachte. Ungeachtet des sanitären Notstands wurden die Vorbereitungen für die Wahlen wie geplant fortgesetzt; die Forderung einiger Präsidentschaftskandidaten zur Verschiebung der Wahlen wurde von den staatlichen Stellen zurückgewiesen.[5]

Präsidentschaftswahl

Kandidaten

34 Personen hatten sich für das Amt des Staatspräsidenten beworben. Von diesen Bewerbern wurden allerdings nur 19 Kandidaten von der Provisorischen Wahlkommission für die Präsidentschaftswahl am 28. November 2010 zugelassen. Ein Bewerber zog seine Kandidatur zurück, so dass 18 Personen zur Präsidentschaftswahl antraten.[6] Der bekannteste Bewerber, der nicht zur Wahl zugelassen wurde, war der Musiker Wyclef Jean.[7]

Als aussichtsreichste Kandidaten galten Mirlande Manigat, die Ehefrau des ehemaligen Staatspräsidenten Leslie Manigat, der von René Préval geförderte Jude Célestin, der zweimalige Premierminister Jacques-Édouard Alexis, der Unternehmer Charles Henry Baker, der 2006 bei der Präsidentschaftswahl den dritten Platz belegt hatte, sowie der populäre Sänger Michel „Sweet Micky“ Martelly.

Wahlkampf

Der Präsidentschaftswahlkampf wurde überschattet von vereinzelten Ausschreitungen zwischen Anhängern der verschiedenen Parteien. Mehrere Menschen wurden bei Schießereien getötet, Anhänger Michel Martellys berichteten von einem versuchten Anschlag auf den Oppositionspolitiker.[8] Hinzu kamen gewaltsame Proteste gegen die UN-Soldaten in Haiti, die für die Ausbreitung der Cholera verantwortlich gemacht wurden.[9]

Internationale Wahlbeobachter befürchteten, dass sich die Angst vor der Epidemie auf die Wahlbeteiligung auswirken könnte. Zudem konnten sich zahlreiche Haitianer nicht für die Wahlen registrieren lassen, da notwendige Dokumente bei dem Erdbeben verloren gegangen waren.[10] Die Opposition warnte im Vorfeld der Präsidentschaftswahl vor einem möglichen Wahlbetrug. Die favorisierte Oppositionskandidatin Mirlande Manigat erklärte, dass bis zu 500.000 gefälschte Stimmzettel für den Regierungskandidaten Célestin vorbereitet seien. Auch der Leiter des nationalen Wahlregisters ging von Betrugsversuchen aus.[11]

Erster Wahlgang

Auch am Wahltag, dem 28. November 2010, wurden nach Angaben der Opposition zahlreiche Unregelmäßigkeiten registriert. Es lägen Berichte über manipulierte Wählerverzeichnisse, Wahllokale, die erst verspätet geöffnet wurden, und Einschüchterungsversuche gegenüber Wählern vor. Zwölf der 18 Präsidentschaftskandidaten hatten noch während der laufenden Wahl in einer gemeinsamen Pressekonferenz eine Annullierung der Wahlen gefordert.[12]

In den nordhaitianischen Städten Acul du Nord und Trou du Nord musste der Wahlgang nach Unruhen komplett abgesagt werden. Aus der Hauptstadt Port-au-Prince wurde die Erstürmung eines Wahllokals gemeldet.[13] Wahlbeobachter der CARICOM erklärten aber, dass die Wahlen trotz „ernsthafter Unregelmäßigkeiten“ gültig seien.[14]

Am 7. Dezember 2010, neun Tage nach der Wahl, gab der Provisorische Wahlrat (Conseil électoral provisoire – CEP) das Ergebnis des ersten Wahlgangs bekannt. Nur 23 Prozent der registrierten Wähler hatten sich beteiligt.[15] Keiner der Kandidaten kam über die notwendige 50-Prozent-Marke für eine Direktwahl. Dem Wahlrat zufolge konnte Mirlande Manigat die meisten Stimmen (31,37 Prozent) auf sich vereinen, gefolgt vom Regierungskandidat Célestin (22,48 Prozent) und dem populären Sänger Michel Martelly (21,84 Prozent).[16]

Kandidat Partei Stimmen in Prozent
Mirlande Manigat RDNP 336.878 31,37
Jude Célestin INITE 241.462 22,48
Michel Martelly Repons Peyizan 234.617 21,84
Jacques-Édouard Alexis Renmen Ayiti 87.834 8,18
Jean-Henry Céant MPH 32.932 3,07
Charles Henry Baker Respè 25.512 2,38
Jean Chavannes Jeune ACCRAH 19.348 1,80
Yves Cristalin LAVNI 17.133 1,60
Leslie Voltaire Ansanm Nou Fò 16,199 1,51
Josette Bijou parteilos 10.782 1,00
Génard Joseph Parti Solidarité 9.164 0,85
Wilson Jeudy Force 2010 6.076 0,57
Yvon Neptune Ayisyen Pou Ayiti 4.217 0,39
Jean Hector Anacacis MODEJHA 4,165 0,39
Léon Jeune KLE 3.738 0,35
Axan Delson Abellard KNDA 6.076 0.57
Garaudy Laguerre Mouvman Wozo 2.802 0,26
Gérard Marie Necker Blot 16 Désanm 2.621 0,24
Eric Smarki Charles PENH 2.597 0,24
Übrige Kandidaten 12.869 1,20

Nach der Bekanntgabe des Ergebnisses kam es zu gewalttätigen Unruhen, insbesondere durch die enttäuschten Anhänger Martellys.[17]

Stichwahl

Eine Stichwahl zwischen Manigat und Célestin war für den 16. Januar 2011 geplant, wurde aber auf unbestimmte Zeit verschoben,[18] nachdem die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) Zweifel am Ergebnis des ersten Wahlgangs geäußert hatte.[19] Es hätte Beweise für einen Wahlbetrug zugunsten Célestins gegeben, woraufhin die Organisation dem haitianischen Wahlrat empfahl, den Kandidaten auszuschließen.[20] Die bisherigen Ergebnisse sollten erneut ausgezählt werden. Der amtierende Präsident René Préval sagte daraufhin, dass er nicht zum Ende seines Mandats am 7. Februar 2011 aus dem Amt werde scheiden können, da es bis dahin kein neues Staatsoberhaupt geben werde.[21]

Am 26. Januar 2011 gab der Zweitplatzierte Jude Célestin bekannt nicht mehr zur Stichwahl antreten zu wollen. Als Grund wurde die Erhaltung der Stabilität in Haiti genannt.[22] Am 3. Februar verkündete der Wahlrat in Port-au-Prince, dass der bisher drittplatzierte Michel Martelly in einer am 20. März 2011 vorgesehenen Stichwahl gegen Mirlande Manigat antreten werde. Célestin schied damit aus.[23]

Im Vorfeld der Stichwahl galt Martelly als Favorit, der in Umfragen kurz vor der Abstimmung auf 53,4 Prozent Stimmenanteil gekommen war.[15] Die Wahl selbst verlief weitgehend störungsfrei, nachdem zu Anfang noch Stimmzettel gefehlt hatten. Die Polizei berichtete in Zusammenhang mit der Abstimmung von zwei Toten.[24] Der Wahlrat verschob die Bekanntgabe des vorläufigen Ergebnisses jedoch vom 31. März auf den 4. April 2011, nachdem bei der Auswertung der Stimmen ein „hoher Grad an Betrug und Unregelmäßigkeiten diverser Art“ festgestellt worden sei.[25] Das Endergebnis der Stichwahl war ursprünglich zum 16. April erwartet worden.[26] Am 4. April gab die Wahlkommission bekannt, dass nach dem vorläufigen amtlichen Wahlergebnis Michel Martelly mit 67,6 Prozent der Stimmen[27] der 56. Präsident Haitis ist.[28] Mirlande Manigat erreichte vorläufige 31,7 Prozent.[27]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Artikel 134 der Verfassung der Republik Haiti, inoffizielle englischsprachige Übersetzung (abgerufen am 28. November 2010).
  2. Die Welt: In Haiti stürzt die Regierung über Reispreise, 12. April 2008.
  3. Reuters: INTERVIEW-Haitian president says Feb. 28 elections postponed (Memento vom 24. Januar 2016 im Internet Archive), 27. Januar 2010.
  4. L’ONI relèvera-t-il le défi? In: Le Nouvelliste (Port-au-Prince), 22. November 2010.
  5. BBC News: Haiti cholera deaths still rising as election nears, 22. November 2010.
  6. Reuters: Factbox: Several frontrunners in Haiti presidential race, 27. November 2010.
  7. Rheinische Post: Wyclef Jean darf nicht zur Wahl antreten (Memento vom 24. August 2010 im Internet Archive), 21. August 2010.
  8. Spiegel Online: Schießerei bei Wahlkampfauftritt, 27. November 2010.
  9. Der Tagesspiegel: Unruhen wegen Cholera in Haiti, 16. November 2010.
  10. Die Zeit: Haiti sehnt sich nach einer Regierung, 26. November 2010.
  11. Donaukurier: Cholera und Betrugsvorwürfe überschatten Wahl in Haiti (Memento vom 30. November 2010 im Internet Archive), 27. November 2010.
  12. Spiegel Online: Kandidaten fordern Annullierung der Chaoswahl, 28. November 2010.
  13. Le Figaro: Haïti/présidentielle : plusieurs incidents, 28. November 2010.
  14. Der Standard: Wahlen in Haiti sind gültig, 30. November 2010.
  15. a b vgl. Les Haïtiens appelés aux urnes pour élire leur président bei lepoint.fr, 19. März 2011 (aufgerufen am 20. März 2011)
  16. Provisional Electoral Council: Presidential Election of 2010–2011, First round: 28 November 2010, abgerufen am 15. Juli 2019.
  17. vgl. Gewaltsame Auseinandersetzungen in Haiti (Memento vom 10. Dezember 2010 im Internet Archive) bei tagesschau.de, 9. Dezember 2010 (aufgerufen am 16. Januar 2011)
  18. vgl. APA: Stichwahl um Präsidentenamt in Haiti verschoben. 16. Januar 2011 (aufgerufen am 16. Januar 2011).
  19. Christine Keck: Der Plünderer im Allerheiligsten. In: Stuttgarter Zeitung, 12. Januar 2011, S. 3.
  20. vgl. Dillmann, Hans-Ullrich: Streit über Kandidatur in Haiti. In: die tageszeitung, 12. Januar 2011, S. 10.
  21. AFP: Festnahmen nach Ausschreitungen in Haitis Hauptstadt. 14. Januar 2011, Port-au-Prince (aufgerufen via LexisNexis Wirtschaft).
  22. Regierungskandidat steigt aus. In: die tageszeitung. 27. Januar 2011, abgerufen am 27. Januar 2011.
  23. vgl. Mirlande Manigat et Michel Martelly au second tour (Memento vom 25. Februar 2011 im Internet Archive) bei haitielections2010.com, 3. Februar 2011 (aufgerufen am 3. Februar 2011).
  24. Haiti: Zweite Wahl-Runde weitgehend störungsfrei. In: Berliner Morgenpost, 22. März 2011, Nr. 80, S. 4.
  25. AFP: Unregelmäßigkeiten verzögern Bekanntgabe der Wahlergebnisse in Haiti. 30. März 2011, Port-au-Prince (aufgerufen via LexisNexis Wirtschaft).
  26. AFP: Stichwahl um die Präsidentschaft in Haiti. 19. März 2011, Port-au-Prince.
  27. a b Martelly wird neuer Präsident. In: ORF. 5. April 2011, abgerufen am 5. April 2011.
  28. haitielections2010.com: Haïti Elections 2010 :: Toutes les infos sur les élections haïtiennes de 2010 (Memento vom 11. Februar 2012 im Internet Archive), Zugriff am 5. April 2011