National Security Strategy vom September 2002

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von Wolfowitzdoktrin)

Die National Security Strategy (NSS, auch bekannt als Bush-Doktrin) der Vereinigten Staaten von Amerika vom September 2002 ist Teil regelmäßig ergänzter und überarbeiteter Berichte zur außenpolitischen Nationalen Sicherheitsstrategie, die von der US-Regierung dem Kongress vorzulegen sind. Der Bericht der Bush-Regierung vom September 2002 erlangte besondere Bedeutung aufgrund eines Inhalts, der Elemente der bisherigen internationalen Ordnung in Frage stellt. Dieser Teil des Berichts, der sich unter anderem mit Präventivkriegen befasst, wird auch als Bush-Doktrin beziehungsweise Wolfowitz-Doktrin bezeichnet.

Die Bush-Regierung hat in der Fassung der National Security Strategy vom März 2006 keine wesentlichen Veränderungen gegenüber der von 2002 vorgenommen.

Grundsätzliches

Die NSS proklamiert einen „ausgeprägten amerikanischen Internationalismus“, zu verstehen als Gegensatz zur isolationistischen Politik früherer Jahrzehnte. Demnach will die Regierung der USA die neue internationale Ordnung nicht nur hinnehmen, sondern entscheidend und prägend gestalten:

  • Sicherheitspolitischer Realismus: Die neue internationale Situation nach dem Kalten Krieg soll erkannt, Terrorismus und Proliferation bekämpft werden.
  • Klassischer republikanischer Liberalismus (nach Immanuel Kant): Demokratie und Menschenrechte sollen auf der Welt verbreitet werden.
  • Klassischer ökonomischer Liberalismus (nach Adam Smith): Die internationale Ausbreitung von Marktwirtschaft und Freihandel soll vorangetrieben werden.
  • Neuer Institutionalismus: Das bestehende System der internationalen Kooperation soll an die neuen Gegebenheiten angepasst werden.

Internationale Ordnung

Die ursprüngliche Wolfowitz-Doktrin sah in Erhalt und Ausweitung der US-Hegemonie die oberste Priorität:

Our first objective is to prevent the re-emergence of a new rival, either on the territory of the former Soviet Union or elsewhere, that poses a threat on the order of that posed formerly by the Soviet Union. This is a dominant consideration underlying the new regional defense strategy and requires that we endeavor to prevent any hostile power from dominating a region whose resources would, under consolidated control, be sufficient to generate global power.

” (deutsch: „Unser erstes Ziel ist, das Wiederauftreten eines neuen Rivalen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion oder woanders zu verhindern, der eine Gefahr […] darstellt, wie es einst die Sowjetunion getan hat. Dies ist eine der neuen regionalen Verteidigungsstrategie zugrunde liegende Berücksichtigung, die alles erfordert um eine feindliche Macht daran zu hindern eine Region zu dominieren, deren Ressourcen unter konsolidierter Kontrolle ausreichen würden, eine Weltmacht entstehen zu lassen.“)

Russland und China sollen deshalb vor allem eingedämmt werden (Containment-Politik):

We continue to recognize that collectively the conventional forces of the states formerly comprising the Soviet Union retain the most military potential in all of Eurasia; and we do not dismiss the risks to stability in Europe from a nationalist backlash in Russia or efforts to reincorporate into Russia the newly independent republics of Ukraine, Belarus, and possibly others. […] We must, however, be mindful that democratic change in Russia is not irreversible, and that despite its current travails, Russia will remain the strongest military power in Eurasia and the only power in the world with the capability of destroying the United States.“ (deutsch: „Wir erkennen weiterhin an, dass die konventionellen Streitkräfte der Staaten, die früher die Sowjetunion bildeten, zusammengenommen das größte militärische Potenzial in ganz Eurasien besitzen; und wir schließen die Risiken für die Stabilität in Europa nicht aus, die von einer nationalistischen Gegenreaktion in Russland oder von Bemühungen ausgehen, die neuen unabhängigen Republiken der Ukraine, Weißrusslands und möglicherweise anderer Staaten wieder in Russland einzugliedern. [...] Wir müssen jedoch bedenken, dass der demokratische Wandel in Russland nicht unumkehrbar ist und dass Russland trotz seiner derzeitigen Schwierigkeiten die stärkste Militärmacht in Eurasien und die einzige Macht der Welt bleiben wird, die in der Lage ist, die Vereinigten Staaten zu vernichten.“)

Ihrem Selbstverständnis gemäß wollen die USA ein Mächtegleichgewicht zu Gunsten der Freiheit auf der Welt schaffen und mit Verbündeten gegen „Terroristen und Despoten“ kämpfen, die dieses Gleichgewicht stören wollen. Um dies durchzusetzen, soll neben den anderen obigen Punkten das internationale System neu geordnet werden. So sollen die Länder der Welt besser zusammenarbeiten, „um den Frieden konkurrieren, anstatt sich ständig auf den Krieg gegeneinander vorzubereiten“. Der NSS zufolge will man Russland und die Volksrepublik China in die westliche Gemeinschaft integrieren. Ein „globaler Konsens über grundlegende Prinzipien“ wird für realistisch gehalten.

Die Partnerschaft mit Russland soll durch eine Unterstützung von Russlands Beitritt in die WTO, den Kampf gegen den Terrorismus und eine vertiefte Kooperation im NATO-Russland-Rat gefestigt werden. Die gegenwärtige US-Regierung sieht die Entwicklung in China als sehr positiv an: Sie veranlasse die dortigen Machthaber zu einem kooperativen Kurs gegenüber dem Westen.

Förderung von Demokratie und freier Marktwirtschaft

Der Nationalen Sicherheitsstrategie zufolge ist die oberste Priorität der US-amerikanischen Außenpolitik der Aufbau von demokratischen Strukturen nicht zuletzt, um Ereignisse wie den 11. September zu verhindern. Nicht allein Armut mache die Menschen zu „Terroristen“, ursächlich seien auch korrumpierte staatliche Institutionen. Die Zustände im Nahen Osten seien friedensgefährdend und strukturell instabil. Die fehlende „Modernisierung“ seitens der Regierungen sei Hauptursache für den „Extremismus“. Ein Neuanfang in diesen Regionen sei „unvermeidbar“.

Die NSS der Bush-Regierung deutet an, dass die USA im Nahen Osten ein ähnliches Engagement vorhaben könnten wie nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa (Nation-Building). Dies seien allerdings nicht die einzigen problematischen Länder; viele unterentwickelte Staaten litten unter mangelhafter Führung, Bürokratie und Korruption. Entwicklungshilfe gelange oft in die falschen Hände; zur Unterbindung dieses Missstands müssten Strategien entwickelt werden. Die USA bekunden, ihre Bemühungen im Bereich der Entwicklungshilfe verstärken zu wollen.

Bekämpfung von Terrorismus und „Schurkenstaaten“

Neue Bedrohungen der internationalen Sicherheit bestünden aus terroristischen Netzwerken und der Verbreitung neuer Technologien. Terroristischen Netzwerken und „Schurkenstaaten“ sei deshalb mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Es sei wesentlich einfacher als früher, an Massenvernichtungswaffen zu kommen; die westlichen Industriestaaten seien dadurch erheblichen Bedrohungen ausgesetzt. Dem soll größtenteils mit traditionellen Mitteln (Diplomatie, Rüstungskontrolle, multilaterale Exportkontrolle, „threat reduction assistance“ (Beistand bei der Verminderung von Bedrohungen)) entgegengewirkt werden. Gescheiterte Staaten sollen stabilisiert werden, da von ihnen die größte Gefahr ausgehe. Wenn diese Mittel zur Bekämpfung der Gefahren nicht ausreichen, sollen sie durch folgende ergänzt werden:

Reaktionen

Kritisiert wurde an der NSS vor allem die geplante Anwendung von Präventivschlägen, die gegen das Völkerrecht verstoßen. Die Bush-Regierung verstand es geschickt, diese völkerrechtlich nicht legitimen Präventivschläge zu Präemptivschlägen, die in der modernen Entwicklung des Völkerrechts durchaus akzeptabel sind, umzudeuten. Diese Vorgehensweise wird mit der Kreuzung von Extremismus und Massenvernichtungswaffen begründet, die die bislang eher enge Definition von Präventivschlägen obsolet macht. Respektive argumentiert die Bush-Regierung, dass das Völkerrecht in diesem Punkt einer Reform bedarf, wie sie die USA auch anstreben, um den neuen Gefahren gerecht zu werden. Viele sind auch der Meinung, dass es den USA mit der „Bush-Doktrin“ nur darum gehe, ihre Stellung als (in der eigenen Vision) alleinige Supermacht auf der Welt zu festigen, was zwar in dem Papier wörtlich nicht zu finden ist, aber in zahlreichen anderen Äußerungen, vor allem gegenüber dem US-amerikanischen Volk, mit Vehemenz unterstrichen wird.

Vorherrschaft im Weltall

Im Spätsommer bzw. öffentlich im Oktober 2006 hat die US-Regierung unter George W. Bush auch die Vorherrschaft im Weltraum als offizielle Doktrin verkündet. Der National Space Policy zufolge wollen sich die USA bei der Nutzung des Raums keiner supranationalen Instanz unterwerfen, eine konsequente Fortsetzung des unilateralistischen Kurses der Bush-Regierung. Jenen Nationen, die nach US-amerikanischer Einschätzung gegen die Interessen der Vereinigten Staaten verstoßen, soll der Zugang zum All verwehrt bleiben (vgl. dazu: Weltraumvertrag, Weltraumwaffen).

Siehe auch

Zur militärisch-technologischen Basis der „Bush-Doktrin“

Literatur

  • Doug Bandow: Foreign Follies: America’s New Global Empire. Xulon Press, Oktober 2006, ISBN 1-59781-988-3. vgl. Doug Bandow: America’s budget black hole (Japan Times, 3. März 2007, über die Militärausgaben der USA; Doug Bandow war „Special Assistant“ des US-Präsidenten Ronald Reagan; siehe Doug Bandow in der englischsprachigen Wikipedia)
  • Sidney Blumenthal: How Bush Rules. Chronicles of a Radical Regime. Princeton University Press, September 2006, ISBN 0-691-12888-X (Blumenthal galt als einer der wichtigsten Berater von Ex-US-Präsident Bill Clinton; vgl. The Guardian)
  • Mary Buckley (Herausgeber), Robert Singh: The Bush Doctrine and the War on Terrorism: Global Reactions, Global Consequences. 1. Auflage. Routledge, London April 2006, ISBN 0-415-36831-6.
  • Manfred Budzinski: America first. Die Bush-Doktrin und ihre Folgen. 1. Auflage. Evangelische Akademie Bad Boll, 2004, ISBN 3-936369-05-4.
  • Thomas Donnelly: The Military We Need: The Defense Requirements of the Bush Doctrine. American Enterprise Institute Press, April 2005, ISBN 0-8447-4229-5.
  • Melvin Gurtov: Superpower on Crusade: The Bush Doctrine in US Foreign Policy. Lynne Rienner Publisher, Januar 2006, ISBN 1-58826-407-6.
  • Jan H. Kalicki, David L. Goldwyn (Hrsg.): Energy and Security: Toward a New Foreign Policy Strategy. Johns Hopkins University Press, Oktober 2005, ISBN 0-8018-8278-8.
  • Claus Kleber: Amerikas Kreuzzüge. Was die Weltmacht treibt. Pantheon, Mai 2006, ISBN 3-570-55001-X.
  • Arthur R. Kreutzer: Preemptive Self-Defense. Die Bush-Doktrin und das Völkerrecht. 1. Auflage. Meidenbauer, Oktober 2004, ISBN 3-89975-503-0.
  • Martin Kunde: Der Präventivkrieg. Geschichtliche Entwicklung und gegenwärtige Bedeutung. 1. Auflage. Peter Lang, Frankfurt November 2006, ISBN 3-631-56030-3 (Rezension: FAZ.net)
  • Christopher Layne: The Peace of Illusions: American Grand Strategy from 1940 to the Present. (Reihe: Cornell Studies in Security Affairs). Cornell University Press, Mai 2006, ISBN 0-8014-3713-X.
  • Heiko Meiertöns: Die Doktrinen U.S.-amerikanischer Sicherheitspolitik – Völkerrechtliche Bewertung und ihr Einfluss auf das Völkerrecht. Baden-Baden, Nomos 2006, ISBN 3-8329-1904-X.
  • Peter Scholl-Latour: Koloß auf tönernen Füßen. Amerikas Spagat zwischen Nordkorea und Irak.Ullstein, Berlin November 2006, ISBN 3-548-36890-5 (Taschenbuch; die gebundene Ausgabe erschien 2005 bei Propyläen)
  • Christian Stelter: Gewaltanwendung unter und neben der UN-Charta, Duncker und Humblot, Berlin 2007, ISBN 978-3-428-12547-0 Verlagsanzeige.
  • Peggy Wittke: The Bush Doctrine Revisited. Eine Untersuchung der Auswirkungen der Bush-Doktrin auf das geltende Völkerrecht. Nomos, Baden-Baden 2018, ISBN 978-3-8452-8747-8 (zugl. Diss., Freie Universität Berlin, 2017).
  • Bob Woodward: State of Denial: Bush at War 3. New York: Simon & Schuster, Oktober 2006. - ISBN 0-7432-7223-4 (Rezensionen: die Presse, Bob Woodwards „State of Denial“ – Solche Sachen kann man nicht erfinden – FAZ.net; Interview: Spiegel Online)

Weblinks

Quellen

Sekundärdokumente