Quelltext der Seite Numerow-Verfahren

Das '''Numerow-Verfahren''' ist eine Methode zum numerischen Lösen [[Gewöhnliche Differentialgleichung|Gewöhnlicher Differentialgleichungen]] zweiter Ordnung, die keinen Term erster Ordnung enthalten. Es ist ein implizites [[Mehrschrittverfahren]] vierter Ordnung, kann jedoch explizit gemacht werden, wenn die Differentialgleichung linear ist.

Das Verfahren wurde von dem russischen Astronomen [[Boris Wassiljewitsch Numerow]] entwickelt.<ref>Numerow, Boris Wassiljewitsch (1924), "A method of extrapolation of perturbations", [[Monthly Notices of the Royal Astronomical Society]], 84: 592–601, {{bibcode|1924MNRAS..84..592N}}, {{doi|10.1093/mnras/84.8.592}}.</ref><ref>Numerow, Boris Wassiljewitsch (1927), "Note on the numerical integration of d<sup>2</sup>''x''/d''t''<sup>2</sup> = ''f''(''x'',''t'')", [[Astronomische Nachrichten]], 230: 359–364, {{bibcode|1927AN....230..359N}}, {{doi|10.1002/asna.19272301903}}.</ref>

== Das Verfahren ==
=== Lineare Gleichung ===
Das Numerow-Verfahren kann verwendet werden, um Differentialgleichungen der Form

:<math> \frac{d^2 y}{dx^2} = - g(x) y(x) + s(x). </math>

zu lösen. Drei Werte <math> y_{n-1}, y_n, y_{n+1} </math>, die auf äquidistanten Gitterpunkten <math> x_{n-1}, x_n, x_{n+1} </math> liegen, hängen zusammen über die Gleichung

:<math>\begin{align}
 y_{n+1} \left(1 + \frac{h^2}{12} g_{n+1}\right) & = 2 y_n \left(1 - \frac{5 h^2}{12} g_n\right) - y_{n-1} \left(1 + \frac{h^2}{12} g_{n-1}\right)\\ & + \frac{h^2}{12} (s_{n+1} + 10 s_n + s_{n-1}) + \mathcal{O}(h^6), 
\end{align}</math>

wobei <math> y_n = y(x_n) </math>, <math> g_n = g(x_n) </math>, <math> s_n = s(x_n) </math>, und <math> h = x_{n+1} - x_n </math>. Es lässt sich somit <math> y_{n+1} </math> ausgehend von zwei vorhergehenden Werten berechnen und die Lösung durch Iteration über das gesamte Gitter berechnen.

=== Nichtlineare Gleichung ===

Für nichtlineare Gleichungen der Form

:<math> \frac{d^2 y}{dx^2} = f(x,y), </math>

ergibt sich für das Verfahren

:<math> y_{n+1} - 2 y_n + y_{n-1} = \frac{h^2}{12} (f_{n+1} + 10 f_n + f_{n-1}) + \mathcal{O} (h^6) </math>

mit <math>f_n = f(x_n, y_n)</math>. Dies ist ein impliziter Zusammenhang, der sich auf die obige explizite Form reduziert, wenn <math> f </math> linear in <math> y </math> ist. Es erreicht eine Genauigkeit in vierter Ordnung.<ref>Hairer, Ernst; Nørsett, Syvert Paul; Wanner, Gerhard (1993), Solving ordinary differential equations I: Nonstiff problems, Berlin, New York: Springer-Verlag, ISBN 978-3-540-56670-0.</ref>

==Anwendung==

In der numerischen Physik wird das Verfahren angewendet, um Lösungen der eindimensionalen [[Schrödingergleichung]] für beliebige Potentiale zu finden. Ein Beispiel ist das Lösen der Radialgleichung für ein kugelsymmetrisches Potential, wie es im [[Wasserstoffatom#Lösung_der_Schrödinger-Gleichung_(Wasserstoffproblem)|Wasserstoffatom]] auftritt. Nachdem die Variablen separiert und der Winkelanteil analytisch gelöst ist, bleibt der radiale Anteil <math>R(r)</math> übrig:

:<math> \frac{d}{dr} \left(r^2 \frac{dR}{dr} \right) - \frac{2 m r^2}{\hbar^2} (V(r) - E) R(r) = l (l + 1) R(r). </math>

Diese Gleichung kann durch Substitution in die für das Numerow-Verfahren nötige Form gebracht werden:

:<math> u(r) = r R(r), </math>
:<math> R(r) = \frac{u(r)}{r}, </math>
:<math> \frac{dR}{dr} = \frac{1}{r} \frac{du}{dr} - \frac{u(r)}{r^2} = \frac{1}{r^2} \left (r \frac{du}{dr} - u(r) \right), </math>
:<math> \frac{d}{dr} \left(r^2 \frac{dR}{dr} \right) = \frac{du}{dr} + r \frac{d^2 u}{dr^2} - \frac{du}{dr} = r \frac{d^2 u}{dr^2}. </math>

Mit dieser Substitution wird die Radialgleichung

:<math> r \frac{d^2 u}{dr^2} - \frac{2 m r}{\hbar^2} (V(r) - E) u(r) = \frac{l (l + 1)}{r} u(r), </math>

oder

:<math> -\frac{\hbar^2}{2 m} \frac{d^2 u}{dr^2} + \left(V(r) + \frac{\hbar^2}{2 m} \frac{l (l + 1)}{r^2} \right) u(r) = E u(r), </math>

was äquivalent zur eindimensionalen Schrödingergleichung mit dem effektiven Potential

:<math> V_\text{eff}(r) = V(r) + \frac{\hbar^2}{2 m} \frac{l (l + 1)}{r^2} = V(r) + \frac{L^2}{2 m r^2}, \quad L^2 = l (l + 1) \hbar^2. </math>

ist. Um die Anwendbarkeit des Numerow-Verfahrens zu erkennen, lässt sich diese Gleichung umformen zu:

:<math> \frac{d^2 u}{dr^2} = - \frac{2 m}{\hbar^2} (E - V_\text{eff}(r)) u(r), </math>

:<math> g(r) = \frac{2 m}{\hbar^2} (E - V_\text{eff}(r)), </math>

:<math> s(r) = 0. </math>

==Herleitung==
Der Ausgangspunkt ist eine zu lösende Differentialgleichung der Form

:<math> y''(x) = - g(x) y(x) + s(x). </math>

Zur Herleitung des Verfahrens wird zunächst die Funktion <math> y(x) </math> um den Punkt <math> x_0 </math> mittels einer [[Taylorreihe]] entwickelt.

:<math> y(x_0 \pm h) = y(x_0) \pm hy'(x_0) + \frac{h^2}{2!}y''(x_0) \pm \frac{h^3}{3!}y'''(x_0) + \frac{h^4}{4!}y''''(x_0) \pm \frac{h^5}{5!}y'''''(x_0) + \mathcal{O}(h^6). </math>

Dabei wurde der Abstand zwischen <math> x </math> nach <math> x_0 </math> als <math> h = x - x_0 </math> definiert. Die Taylorentwicklung in Vorwärts- bzw. Rückwärtsrichtung unterscheiden sich dabei durch die Vorzeichen der ungeraden Ordnungen.

Wird der Raum in gleichmäßige diskrete Intervalle eingeteilt, ergibt sich ein Gitter von <math> x </math> Punkten mit <math> h = x_{n+1} - x_n </math>. Die obige Gleichung lässt sich auf jeden Gitterpunkt anwenden und ergibt einen Zusammenhang zwischen <math> y_n </math> und <math> y_{n+1} </math>:

:<math> y_{n+1} = y_n + hy'(x_n) + \frac{h^2}{2!}y''(x_n) + \frac{h^3}{3!}y'''(x_n) + \frac{h^4}{4!}y''''(x_n) + \frac{h^5}{5!}y'''''(x_n) + \mathcal{O}(h^6). </math>

Dies entspricht einem Vorwärtsschritt um <math> h </math>. Für einen Rückwärtsschritt ergibt sich aus der  Taylorentwicklung mit <math> -h </math>:

:<math> y_{n-1} = y_n - hy'(x_n) + \frac{h^2}{2!}y''(x_n) - \frac{h^3}{3!}y'''(x_n) + \frac{h^4}{4!}y''''(x_n) - \frac{h^5}{5!}y'''''(x_n) + \mathcal{O}(h^6). </math>

Addiert man beide Gleichungen, so verschwinden die ungeraden Ordnungen und es bleibt

:<math> y_{n+1} - 2 y_n + y_{n-1} = h^2 y''_n + \frac{h^4}{12}y''''_n + \mathcal{O}(h^6). </math>

Die zweite Ableitung kann mittels der zu Beginn gegebene Differentialgleichung <math> y''_n = - g_n y_n + s_n </math> ersetzt werden. Um einen Ausdruck für die vierte Ableitung <math> y''''_n </math> zu bekommen, wird die Differentialgleichung zweimal abgeleitet und die zweite Ableitung approximiert:

:<math> y''''_n = \frac{d^2}{d x^2} (-g_n y_n + s_n), </math>
:<math> h^2 y''''_n = -g_{n+1} y_{n+1} + s_{n+1} + 2 g_n y_n - 2 s_n - g_{n-1} y_{n-1} + s_{n-1} + \mathcal{O}(h^4). </math>

Wird die vierte Ableitung der obigen Gleichung mit diesem Ausdruck ersetzt, ergibt sich

:<math>\begin{align} y_{n+1} - 2 y_n + y_{n-1} & = {h^2} (- g_n y_n + s_n) + \frac{h^2}{12} (- g_{n+1} y_{n+1} + s_{n+1} + 2 g_n y_n - 2 s_n - g_{n-1} y_{n-1} + s_{n-1})\\ & + \mathcal{O}(h^6), \end{align}</math>

und nach Zusammenfassen der Terme

:<math>\begin{align} y_{n+1} \left(1 + \frac{h^2}{12} g_{n+1} \right) - 2 y_n \left(1 - \frac{5 h^2}{12} g_n \right) + y_{n-1} \left(1 + \frac{h^2}{12} g_{n-1} \right)\\ = \frac{h^2}{12} (s_{n+1} + 10 s_n + s_{n-1}) + \mathcal{O}(h^6). \end{align}</math>

Dies ist die Gleichung des Numerow-Verfahrens mit einem Fehler der Ordnung <math> h^6 </math>.

== Einzelnachweise ==
<references />

[[Kategorie:Numerische Mathematik]]
[[Kategorie:Theorie gewöhnlicher Differentialgleichungen]]