Numerow-Verfahren

Das Numerow-Verfahren ist eine Methode zum numerischen Lösen Gewöhnlicher Differentialgleichungen zweiter Ordnung, die keinen Term erster Ordnung enthalten. Es ist ein implizites Mehrschrittverfahren vierter Ordnung, kann jedoch explizit gemacht werden, wenn die Differentialgleichung linear ist.

Das Verfahren wurde von dem russischen Astronomen Boris Wassiljewitsch Numerow entwickelt.

Das Verfahren

Lineare Gleichung

Das Numerow-Verfahren kann verwendet werden, um Differentialgleichungen der Form

${\frac {d^{2}y}{dx^{2}}}=-g(x)y(x)+s(x).$

zu lösen. Drei Werte $y_{n-1},y_{n},y_{n+1}$, die auf äquidistanten Gitterpunkten $x_{n-1},x_{n},x_{n+1}$ liegen, hängen zusammen über die Gleichung

${\begin{aligned}y_{n+1}\left(1+{\frac {h^{2}}{12}}g_{n+1}\right)&=2y_{n}\left(1-{\frac {5h^{2}}{12}}g_{n}\right)-y_{n-1}\left(1+{\frac {h^{2}}{12}}g_{n-1}\right)\\&+{\frac {h^{2}}{12}}(s_{n+1}+10s_{n}+s_{n-1})+{\mathcal {O}}(h^{6}),\end{aligned}}$

wobei $y_{n}=y(x_{n})$, $g_{n}=g(x_{n})$, $s_{n}=s(x_{n})$, und $h=x_{n+1}-x_{n}$. Es lässt sich somit $y_{n+1}$ ausgehend von zwei vorhergehenden Werten berechnen und die Lösung durch Iteration über das gesamte Gitter berechnen.

Nichtlineare Gleichung

Für nichtlineare Gleichungen der Form

${\frac {d^{2}y}{dx^{2}}}=f(x,y),$

ergibt sich für das Verfahren

$y_{n+1}-2y_{n}+y_{n-1}={\frac {h^{2}}{12}}(f_{n+1}+10f_{n}+f_{n-1})+{\mathcal {O}}(h^{6})$

mit $f_{n}=f(x_{n},y_{n})$. Dies ist ein impliziter Zusammenhang, der sich auf die obige explizite Form reduziert, wenn $f$ linear in $y$ ist. Es erreicht eine Genauigkeit in vierter Ordnung.

Anwendung

In der numerischen Physik wird das Verfahren angewendet, um Lösungen der eindimensionalen Schrödingergleichung für beliebige Potentiale zu finden. Ein Beispiel ist das Lösen der Radialgleichung für ein kugelsymmetrisches Potential, wie es im Wasserstoffatom auftritt. Nachdem die Variablen separiert und der Winkelanteil analytisch gelöst ist, bleibt der radiale Anteil $R(r)$ übrig:

${\frac {d}{dr}}\left(r^{2}{\frac {dR}{dr}}\right)-{\frac {2mr^{2}}{\hbar ^{2}}}(V(r)-E)R(r)=l(l+1)R(r).$

Diese Gleichung kann durch Substitution in die für das Numerow-Verfahren nötige Form gebracht werden:

$u(r)=rR(r),$

$R(r)={\frac {u(r)}{r}},$

${\frac {dR}{dr}}={\frac {1}{r}}{\frac {du}{dr}}-{\frac {u(r)}{r^{2}}}={\frac {1}{r^{2}}}\left(r{\frac {du}{dr}}-u(r)\right),$

${\frac {d}{dr}}\left(r^{2}{\frac {dR}{dr}}\right)={\frac {du}{dr}}+r{\frac {d^{2}u}{dr^{2}}}-{\frac {du}{dr}}=r{\frac {d^{2}u}{dr^{2}}}.$

Mit dieser Substitution wird die Radialgleichung

$r{\frac {d^{2}u}{dr^{2}}}-{\frac {2mr}{\hbar ^{2}}}(V(r)-E)u(r)={\frac {l(l+1)}{r}}u(r),$

oder

$-{\frac {\hbar ^{2}}{2m}}{\frac {d^{2}u}{dr^{2}}}+\left(V(r)+{\frac {\hbar ^{2}}{2m}}{\frac {l(l+1)}{r^{2}}}\right)u(r)=Eu(r),$

was äquivalent zur eindimensionalen Schrödingergleichung mit dem effektiven Potential

$V_{\text{eff}}(r)=V(r)+{\frac {\hbar ^{2}}{2m}}{\frac {l(l+1)}{r^{2}}}=V(r)+{\frac {L^{2}}{2mr^{2}}},\quad L^{2}=l(l+1)\hbar ^{2}.$

ist. Um die Anwendbarkeit des Numerow-Verfahrens zu erkennen, lässt sich diese Gleichung umformen zu:

${\frac {d^{2}u}{dr^{2}}}=-{\frac {2m}{\hbar ^{2}}}(E-V_{\text{eff}}(r))u(r),$

$g(r)={\frac {2m}{\hbar ^{2}}}(E-V_{\text{eff}}(r)),$

$s(r)=0.$

Herleitung

Der Ausgangspunkt ist eine zu lösende Differentialgleichung der Form

$y''(x)=-g(x)y(x)+s(x).$

Zur Herleitung des Verfahrens wird zunächst die Funktion $y(x)$ um den Punkt $x_{0}$ mittels einer Taylorreihe entwickelt.

$y(x_{0}\pm h)=y(x_{0})\pm hy'(x_{0})+{\frac {h^{2}}{2!}}y''(x_{0})\pm {\frac {h^{3}}{3!}}y'''(x_{0})+{\frac {h^{4}}{4!}}y''''(x_{0})\pm {\frac {h^{5}}{5!}}y'''''(x_{0})+{\mathcal {O}}(h^{6}).$

Dabei wurde der Abstand zwischen $x$ nach $x_{0}$ als $h=x-x_{0}$ definiert. Die Taylorentwicklung in Vorwärts- bzw. Rückwärtsrichtung unterscheiden sich dabei durch die Vorzeichen der ungeraden Ordnungen.

Wird der Raum in gleichmäßige diskrete Intervalle eingeteilt, ergibt sich ein Gitter von $x$ Punkten mit $h=x_{n+1}-x_{n}$. Die obige Gleichung lässt sich auf jeden Gitterpunkt anwenden und ergibt einen Zusammenhang zwischen $y_{n}$ und $y_{n+1}$:

$y_{n+1}=y_{n}+hy'(x_{n})+{\frac {h^{2}}{2!}}y''(x_{n})+{\frac {h^{3}}{3!}}y'''(x_{n})+{\frac {h^{4}}{4!}}y''''(x_{n})+{\frac {h^{5}}{5!}}y'''''(x_{n})+{\mathcal {O}}(h^{6}).$

Dies entspricht einem Vorwärtsschritt um $h$. Für einen Rückwärtsschritt ergibt sich aus der Taylorentwicklung mit $-h$:

$y_{n-1}=y_{n}-hy'(x_{n})+{\frac {h^{2}}{2!}}y''(x_{n})-{\frac {h^{3}}{3!}}y'''(x_{n})+{\frac {h^{4}}{4!}}y''''(x_{n})-{\frac {h^{5}}{5!}}y'''''(x_{n})+{\mathcal {O}}(h^{6}).$

Addiert man beide Gleichungen, so verschwinden die ungeraden Ordnungen und es bleibt

$y_{n+1}-2y_{n}+y_{n-1}=h^{2}y''_{n}+{\frac {h^{4}}{12}}y''''_{n}+{\mathcal {O}}(h^{6}).$

Die zweite Ableitung kann mittels der zu Beginn gegebene Differentialgleichung $y''_{n}=-g_{n}y_{n}+s_{n}$ ersetzt werden. Um einen Ausdruck für die vierte Ableitung $y''''_{n}$ zu bekommen, wird die Differentialgleichung zweimal abgeleitet und die zweite Ableitung approximiert:

$y''''_{n}={\frac {d^{2}}{dx^{2}}}(-g_{n}y_{n}+s_{n}),$

$h^{2}y''''_{n}=-g_{n+1}y_{n+1}+s_{n+1}+2g_{n}y_{n}-2s_{n}-g_{n-1}y_{n-1}+s_{n-1}+{\mathcal {O}}(h^{4}).$

Wird die vierte Ableitung der obigen Gleichung mit diesem Ausdruck ersetzt, ergibt sich

${\begin{aligned}y_{n+1}-2y_{n}+y_{n-1}&={h^{2}}(-g_{n}y_{n}+s_{n})+{\frac {h^{2}}{12}}(-g_{n+1}y_{n+1}+s_{n+1}+2g_{n}y_{n}-2s_{n}-g_{n-1}y_{n-1}+s_{n-1})\\&+{\mathcal {O}}(h^{6}),\end{aligned}}$

und nach Zusammenfassen der Terme

${\begin{aligned}y_{n+1}\left(1+{\frac {h^{2}}{12}}g_{n+1}\right)-2y_{n}\left(1-{\frac {5h^{2}}{12}}g_{n}\right)+y_{n-1}\left(1+{\frac {h^{2}}{12}}g_{n-1}\right)\\={\frac {h^{2}}{12}}(s_{n+1}+10s_{n}+s_{n-1})+{\mathcal {O}}(h^{6}).\end{aligned}}$

Dies ist die Gleichung des Numerow-Verfahrens mit einem Fehler der Ordnung $h^{6}$.