Benutzer:Veliensis/Hungerkünstler

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Verlagseinband 1924

Ein Hungerkünstler ist der Titel eines 1924 erschienenen Sammelbandes von Franz Kafka, der neben der titelgebenden Erzählung noch drei weitere Prosatexte enthält. Drei der vier Erzählungen setzen sich ironisch mit einem Künstlerleben auseinander; in zwei Fällen wurden Zirkusfiguren gewählt. Es ist das letzte Buch Kafkas, das vor seinem Tod veröffentlicht wurde.

Sammelband

Neben der Erzählung Ein Hungerkünstler enthält es die Kurzgeschichten Erstes Leid, Eine kleine Frau und Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse.

Vor und nach der Jahrhundertwende war die Verwendung von Gauklern und Artisten, also Vertreter eher halbseidener Künste, in der Literatur sehr häufig. Siehe bei Frank Wedekind, Rainer Maria Rilke, Charles Baudelaire, Paul Verlaine.[1]

Wie öfter in Kafkatexten können sich Künstler und Zuschauer nicht verstehen: Den Artisten treibt innerer Zwang; das Publikum will kurzfristige Unterhaltung. Auch die Maus Josefine aus Kafkas letzter Erzählung ist ihrem Publikum fern in ihrer Selbstvergessenheit.[1]

Kafkas Interesse für den Zirkus und andere Formen der Schaustellerei sind in der Literaturwissenschaft als wichtige geschichtliche Entstehenszusammenhänge der Erzählung Ein Hungerkünstler untersucht worden.[2]

Die Erzählungen

Die Erzählung Ein Hungerkünstler entstand innerhalb weniger Tage im Frühjahr 1922, als die Arbeit am Roman Das Schloss ins Stocken geriet.[3] Sie erschien erstmals 1922 in der Zeitung Die neue Rundschau.[1] Die Wahl des Themas, nämlich das Hungern als Kunst, mochte den damaligen Lesern angesichts der Nachkriegsarmut (besonders der Hungersnot in Russland) eher zynisch erschienen sein.[4]

Ein Hungerkünstler lebt zunächst in Zeiten, in denen in der Öffentlichkeit ein reges Interesse an seiner Kunst besteht. In seinem Gitterkäfig wird er vom Publikum interessiert begutachtet und bewundert. Aber die Zeiten ändern sich und das Hungerkünstlertum kommt außer Mode. Schließlich befindet er sich in einem der vielen mit Stroh ausgelegten Käfige eines Zirkus neben den Tieren und hungert dort immer weiter, von Zuschauern kaum noch bemerkt.

Zwischen ihm und der Außenwelt besteht das grundlegende Missverständnis, dass für ihn das Hungern sein Lebensinhalt, „die leichteste Sache von der Welt“ ist, er mithin gar nicht anders kann, weil er die Speise, die ihm schmeckt, nicht gefunden habe. Das Publikum hingegen hält das Hungern für eine Art Kunststück, bei dem es möglicherweise sogar erlaubt sei, heimlich zu essen, und das nach einer gewissen Zeit beendet ist.

Arbeiter entdecken schließlich den Hungerkünstler ganz klein unter seinem Stroh. Nach seinem Tod wird ein junger kraftvoller Panther in seinen Käfig gesteckt, der sofort zum neuen Anziehungspunkt wird.

Textanalyse

In seinem Aufbau gleicht der Hungerkünstler[5] den Erzählungen Das Urteil sowie Der Bau. Da ist anfangs die Schilderung von Erfolg und Zufriedenheit in der Blütezeit des Schauhungerns. Schnell folgt der Umschwung ins Negative, das Unverständnis und die Begrenzung der Hungerzeit nach dem Geschmack des oberflächlichen Publikums. Am Ende steht der Tod und gleichzeitig erscheint der Hinweis auf eine andere Vitalität.

Deutungsansätze

Der Hungerkünstler kann als Symbol für den Künstler schlechthin gesehen werden. Die Kunst, die das Publikum als Leistung sieht, die mühsam errungen werden muss, ist für den Künstler ein Bedürfnis, fast ein Zwang, der seinem Wesen ganz und gar entspricht, wie nichts anderes in seiner Existenz. Die Kunst ist für den (Hunger-)Künstler die „leichteste Sache von der Welt“, die für ihn therapeutischen Charakter hat. Was für andere strenge Askese wäre, ist für ihn ein ganz natürliches So-Sein.

Ambivalent ist die Haltung des (Hunger-)Künstlers zum Publikum. Einerseits sonnt er sich in seiner Popularität und möchte auch das Verständnis seiner Zuschauer. Andererseits ist es ja gerade der Publikumsgeschmack, der den Impresario veranlasst nur jeweils 40 Tage hungern zu lassen. Das bekannte Problem des Künstlers, der sich dem Kunstbetrieb anpassen soll.

Ganz frei ist der (Hunger-)Künstler erst, als ihn kein Publikum mehr beachtet. Man kann hier an Kafka selbst denken, der viele seiner Schriften nicht für eine Leserschaft, sondern zur Vernichtung vorgesehen hatte. Aber was für eine jammervolle Figur ist der (Hunger-)Künstler zuletzt. Er wird von Arbeitern mehr entsorgt als bestattet. Kurz vor seinem Tod teilt er ihnen das Geheimnis seines Hungerns mit, nämlich dass er nie die Speise fand, die ihm schmeckte. Die Arbeiter können das aber nicht würdigen und halten ihn für geistesgestört.

Aber nicht erst am Ende seiner immer mehr versponnenen Existenz zeigt sich die Diskrepanz zwischen dem (Hunger-)Künstler und seiner Umgebung. Schon in seinen beruflichen Blütezeiten herrschte zwischen ihm und den Personen seiner Umwelt (dem Impresario, den zwei Ehrendamen, den Wächtern)[6] ein gespanntes Verhältnis, das von gegenseitigem Unverständnis geprägt ist. Insbesondere die Unvereinbarkeit mit den zwei Damen wird ausführlich beschrieben – Kafkas Verhältnis zu Frauen und enger Bindung. Man sieht hier den Künstler, der losgelöst von allen Bezügen nur seiner Kunst leben will und dafür sogar ein menschenunwürdiges Leben in Kauf nimmt.

Diese Geschichte eines fanatischen Ehrgeizes ist – ähnlich wie Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse – von starker Ironie geprägt.[7] Mit ironischem Pathos wird verkündet: „Versuche jemand die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen.“ Hier hört man Stoßseufzer von Goethes Faust: „Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nicht erjagen“.

Ebenso ironisierend ist die Nennung der Zahl 40 im Zusammenhang mit den Hungertagen. Es ist die Zahl, die im Alten und Neuen Testament mehrfach und auch im Zusammenhang mit Hungern genannt wird. Hier wird besonders die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Hungerkünstlers deutlich; er will sich selbst „übertreffen bis ins Unbegreifliche“.

Rezeption

  • v. Jagow, O. Jahraus (S. 538): „So sehr die Kunst des Hungerkünstlers körperlich beglaubigt wird, letztlich erzählt die Geschichte nicht von einem körperlichen Triumph, sondern von einem sozialen Scheitern. Zwischen diesen beiden Polen verläuft der Spannungsbogen der Geschichte.“

Ausgaben

  • Franz Kafka: Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten. Verlag Die Schmiede, Berlin 1924. (Erstausgabe)
  • Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen. Herausgegeben von Paul Raabe. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1970, ISBN 3-596-21078-X.
  • Franz Kafka Die Erzählungen. Originalfassung, Herausgegeben von Roger Herms. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-596-13270-3
  • Franz Kafka: Drucke zu Lebzeiten. Herausgegeben von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1996, S. 315–377, ISBN 3-10-038154-8.
  • Franz Kafka: Erzählungen: Vor dem Gesetz, Das Urteil, Der Landarzt, Ein Hungerkünstler, Blumfeld, Bericht für eine Akademie, Der Jäger Graccus uvm. Ideenbrücke, Braunschweig 2016, ISBN 978-3-96055-025-9.

Sekundärliteratur

  • Peter-André Alt: Franz Kafka: Der ewige Sohn. Eine Biographie. C.H. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53441-4.
  • Bernd Auerochs: Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten. In: Manfred Engel, Bernd Auerochs (Hrsg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart / Weimar 2010, ISBN 978-3-476-02167-0, S. 318–329, bes. 322 f.
  • Manfred Engel: Zu Kafkas Kunst- und Literaturtheorie. In: Manfred Engel, Bernd Auerochs (Hrsg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart / Weimar 2010, ISBN 978-3-476-02167-0, S. 483–498, bes. 487 f.
  • Bettina von Jagow, Oliver Jahraus: Kafka-Handbuch Leben-Werk-Wirkung. Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, ISBN 978-3-525-20852-6.
  • Reiner Stach: Franz Kafka. Die Jahre der Entscheidungen. Frankfurt am Main 2002.
  • Thorsten Carstensen und Marcel Schmid (Hg.): Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900. Bielefeld 2016, ISBN 978-3-8376-3334-4.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c Peter-André Alt: Franz Kafka: Der ewige Sohn. Eine Biographie. Verlag C.H. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53441-4, S. 647, 644, 664.
  2. Walter Bauer-Wabgnegg: Monster und Maschinen, Artisten und Technik in Franz Kafkas Werk. In: Wolf Kittler, Gerhard Neumann (Hrsg.): Franz Kafka. Schriftverkehr. Freiburg 1990. S. 316–382.
  3. Peter-André Alt, S. 647.
  4. Carsten Schlingmann: Literaturwissen Franz Kafka. Reclam, S. 138.
  5. Peter-André Alt, S. 649–651.
  6. Peter-André Alt, S. 649–651.
  7. Carsten Schlingmann: Literaturwissen Franz Kafka. Reclam, S. 139.


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