Verstand

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Der Verstand ist in der Philosophie das Vermögen, Begriffe zu bilden und diese zu (wahren) Urteilen zu verbinden. Die heutige Verwendung des Begriffes wurde maßgeblich von Immanuel Kant geprägt, der dem Verstand häufig die Vernunft gegenüberstellt, ihn aber auch von der Wahrnehmung unterscheidet.

Der Begriff ist das Substantiv zu „verstehen“ von althochdeutsch „farstān“ mit der ursprünglichen Bedeutung „davor stehen“ (wodurch man z. B. eine Sache genau wahrnehmen kann), was von Anfang an im übertragenen Sinn („begreifen“, „durchschauen“) verwendet wurde.[1]

Erläuternde Zitate

Immanuel Kant definiert in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) den Verstand folgendermaßen:

„Verstand, als das Vermögen zu denken (durch Begriffe sich etwas vorzustellen), wird auch das obere Erkenntnißvermögen (zum Unterschiede von der Sinnlichkeit, als dem unteren) genannt, darum weil das Vermögen der Anschauungen (reiner oder empirischer) nur das Einzelne in Gegenständen, dagegen das der Begriffe das Allgemeine der Vorstellungen derselben, die Regel, enthält, der das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauungen untergeordnet werden muß, um Einheit zur Erkenntniß des Objects hervorzubringen. – Vornehmer ist also zwar freilich der Verstand als die Sinnlichkeit, mit der sich die verstandlosen Thiere nach eingepflanzten Instincten schon nothdürftig behelfen können, so wie ein Volk ohne Oberhaupt; statt dessen ein Oberhaupt ohne Volk (Verstand ohne Sinnlichkeit) gar nichts vermag. Es ist also zwischen beiden kein Rangstreit, obgleich der eine als Oberer und der andere als Unterer betitelt wird.

Es wird aber das Wort Verstand auch in besonderer Bedeutung genommen: da er nämlich als ein Glied der Eintheilung mit zwei anderen dem Verstande in allgemeiner Bedeutung untergeordnet wird, und da besteht das obere Erkenntnißvermögen (materialiter, d. i. nicht für sich allein, sondern in Beziehung aufs Erkenntniß der Gegenstände betrachtet) aus Verstand, Urtheilskraft und Vernunft.“

Immanuel Kant: AA VII, 196[2]

Umfassend ist die Definition von Rudolf Eisler, der in seinem Wörterbuch der philosophischen Begriffe (2. Auflage 1904) schrieb:

„Verstand (logos, epistêmê, intellectus, intelligentia, ratio, entendement, understanding) ist im weitern Sinn die Denkkraft, die Intelligenz gegenüber der Sinnlichkeit, im engeren, gegenüber der Vernunft (s. d.), die Einheit, Fähigkeit des geistigen Erfassens, des (richtigen) Begreifens (Abstrahierens) und Urteilens, kurz des beziehend-vergleichenden, analysierenden Denkens, sowie des »Verstehens«, d. h. des Wissens um die Bedeutung der Worte und Begriffe. »Gesunder Verstand« (»bon sens«) ist die natürliche (schon ohne besondere Ausbildung wirksame) Auffassungs- und Beurteilungskraft, das normale, aber unmethodische, daher auch leicht fehlgehende Denken.“

Für Arthur Schopenhauer beschränkt sich der Verstand auf das Erkennen von Ursache und Wirkung:[3]

„Das subjektive Korrelat der Materie oder der Kausalität, denn beide sind eines, ist der Verstand, und er ist nichts außerdem. Kausalität erkennen ist seine einzige Funktion, seine alleinige Kraft.“

Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung

Der Psychologie und Kognitionswissenschaftler Steven Pinker sieht den Verstand als ein Werkzeug, um Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen und daraus Schlüsse abzuleiten:[4]

„Der Verstand ist ein neuronaler Computer, der durch die natürliche Selektion mit kombinatorischen Algorithmen ausgestattet ist, um kausale und probabilistische Schlussfolgerungen über Pflanzen, Tiere, Dinge und Menschen zu treffen.“

„In einem Universum, in dem überhaupt Regelmäßigkeiten auftreten, sind Entscheidungen, die aufgrund von Erfahrungen getroffen werden, besser als Entscheidungen nach dem Zufallsprinzip. Dies ist immer so gewesen und man würde erwarten, dass Organismen, insbesondere informationsverarbeitende, wie die Menschen, eine ausgeprägte Intuition für Wahrscheinlichkeiten entwickelt haben.“

Siehe auch

Klassische Literatur

Philosophie der Neuzeit

  • René Descartes, Abhandlung über die Methode, richtig zu denken und Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen
  • John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand : in vier Büchern, Bd. 1., Buch I und II, 5., Aufl. Meiner, Hamburg 2000. ISBN 978-3-7873-1555-0, Bd. 2., Buch III und IV, 3. Aufl. Meiner, Hamburg 1988. ISBN 978-3-7873-0931-3
  • John Locke: Über den richtigen Gebrauch des Verstandes, übers. von Otto Martin, Leipzig: Felix Meiner, 1920; unveränd. Nachdr. d. Ausg. von 1920, Hamburg: Felix Meiner, 1978, ISBN 3-7873-0434-7
  • John Locke: Die Leitung des Verstandes. Übersetzt von Jürgen Bona Meyer, Wissenschaftlicher Verlag, Schutterwald/Baden 1998, ISBN 978-3-928640-61-9
  • David Hume, Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes
  • George Berkeley, Abhandlungen über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis
  • Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand
  • Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft

Weblinks

Wiktionary: Verstand – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23. Auflage. De Gruyter, Berlin 1999, ISBN 3-11-016392-6 (Bearb. von Elmar Seebold).
  2. Immanuel Kant, Gesammelte Schriften. Hrsg.: Bd. 1–22 Preussische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin 1900ff., AA VII, 196.
  3. Die Welt als Wille und Vorstellung, Erster Band, Erstes Buch §4 (zeno.org)
  4. D. Poole, A. Mackworth, W. Menzel: Artificial Intelligence - Chapter 6: Reasoning under Uncertainty, S. 2; 2010 bzw. 2015 - “The mind is a neural computer, fitted by natural selection with combinatorial algorithms for causal and probabilistic reasoning about plants, animals, objects, and people.” “In a universe with any regularities at all, decisions informed about the past are better than decisions made at random. That has always been true, and we would expect organisms, especially informavores such as humans, to have evolved acute intuitions about probability. The founders of probability, like the founders of logic, assumed they were just formalizing common sense.” Steven Pinker, How the Mind Works, 1997, pp. 524, 343.