Heinrich Gattineau

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Heinrich Gattineau (* 6. Januar 1905 in Bukarest; † 27. April 1985 in München) war ein deutscher Volkswirt, Direktor der I.G. Farben und Beschuldigter während der Nürnberger Prozesse.

Herkunft, Studium und Familie

Heinrich Gattineau war der Sohn des Zahnarztes Julius Gattineau und dessen Ehefrau Anna, geborene Schneeweiss.[1][2] Er besuchte Schulen in der Schweiz und Deutschland und beendete seine Schullaufbahn an einem Gymnasium in München. Ab 1923 gehörte er dem Bund Oberland an und betrieb aktiv Leichtathletik. Nach dem Abitur studierte er ab 1923 an der Universität München Staatswissenschaft, Rechtswissenschaft, Finanzwissenschaft, Volkswirtschaft und Geopolitik.[3] Im 1924 wurde er in das Corps Bavaria München aufgenommen[4], zu seinen direkten Gleichzeitigen zählten Eduard Brücklmeier und Karl Tempel. Gattineau schloss das Studium 1925 als Diplom-Volkswirt ab und promovierte nach Referendariatszeit und 1926 bestandenen Staatsexamen 1927 zum Dr. oec. publ. mit der Dissertation Der Urbanisierungsprozess in Australien in seiner Bedeutung für die Zukunft der weißen Rasse.[2] Seit 1929 war er mit Wera, geborene Fritzsche, verheiratet.[1] Das Paar bekam fünf Kinder.[5]

Berufseinstieg und Zeit des Nationalsozialismus

Gattineau war ab Januar 1928 bei der I.G. Farben als persönlicher Assistent Carl Duisbergs beschäftigt und stand ab 1931 dem handelspolitischen Referat sowie der firmeneigenen Pressestelle vor.[6] Auf Veranlassung des Vorstandsvorsitzenden Carl Bosch vermittelte Gattineau über Karl Haushofer und Rudolf Heß für den Direktor der I.G. Farben, Heinrich Bütefisch, 1932 ein Treffen mit Adolf Hitler, um ihn für die Herstellung synthetischen Benzins zu gewinnen.[7]

Gattineau trat 1933 der SA bei. In der SA wurde er wirtschaftlicher Berater im Stab des SA-Führers Ernst Röhm. Aufgrund des Kontaktes zu Röhm erhielt er Mitte 1933 den Rang eines SA-Sturmbannführers z. b. V. und bereits Ende 1933 den eines SA-Standartenführers z. b. V.[8] Nach dem sogenannten Röhm-Putsch war er kurzzeitig im KZ Columbiahaus inhaftiert und trat nach der Haftentlassung aus der SA aus.[9] In die NSDAP wurde er trotz Aufnahmesperre 1935 aufgenommen.[2] Nach eigenen Angaben gehörte er des Weiteren ab 1934 den NS-Organisationen DAF, der NSV, dem NS-Reichsbund für Leibesübungen an und ab 1936 als förderndes Mitglied dem NSKK.[10] Gattineau war Mitglied im F-Kreis,[5] Vorstandsmitglied im Nah- und Mittelost-Verein sowie dem Deutschen Herrenklub.

In der Berliner Zentrale der I.G. Farben leitete Gattineau von 1933 bis 1938 die Wirtschaftspolitische Abteilung und war Verbindungsmann der I.G. Farben zur Regierung.[2] Anschließend war er bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges als Direktor der Dynamit-Nobel-Fabrik in Bratislava für die I.G. Farben tätig. In Bratislava war er einer mehrerer Direktoren.[11] Zudem war er Direktor der Chemischen Industrie A.G. in Bratislava, im Vorstand der ostslowakischen Chemischen Fabrik AG und gehörte dem Verwaltungsrat weiterer Firmen in Südosteuropa an.[12]

Von 1934 bis 1945 war Gattineau Präsident des Sportvereins Zehlendorfer Wespen. Dort förderte er insbesondere die Eishockeyabteilung.[13]

Nachkriegszeit

Nach Kriegsende wurde Gattineau 1945 von der US-Army festgenommen und während der Nürnberger Prozesse im I.G.-Farben-Prozess mit 22 weiteren Beschuldigten angeklagt. Am 30. Juli 1948 wurde Gattineau mit zehn weiteren Angeklagten aufgrund der Beweislage freigesprochen.[14] Im Entnazifizierungsverfahren stufte die Hauptkammer Traunstein Ende 1948 Heinrich Gattineau in die Gruppe 5 der Entlasteten ein.[15]

Gattineau war anschließend im Vorstand der WASAG-Chemie AG in Essen (Krupp-Konzern), sowie der Guano-Werke AG in Hamburg (Krupp- und Guano-Konzern). Zudem gehörte er dem Aufsichtsrat der Mitteldeutschen Sprengstoffwerke GmbH in Langelsheim und weiteren Unternehmen an und saß im Beirat der Dresdner Bank AG in Düsseldorf.

Gattineaus Kurzvita war im Braunbuch der DDR aufgeführt.[16] Ihm wurde 1975 das Große Bundesverdienstkreuz verliehen.[17]

Gattineau hatte 1933 die Freilassung von Hans Schnitzler bewirkt, der von der Gestapo verhaftet worden war. Sein Bruder, Karl-Eduard von Schnitzler, urteilt in seiner Autobiografie, Gattineau sei gewiss nicht rassistisch gewesen und auch kein Denunziant.[18]

Veröffentlichungen

Durch die Klippen des 20. Jahrhunderts. Erinnerungen zur Zeit- u. Wirtschaftsgeschichte. Seewald, Stuttgart 1983, ISBN 3-512-00672-8. (Autobiografie)

Literatur

  • Jens Ulrich Heine: Verstand & Schicksal: Die Männer der I.G. Farbenindustrie A.G. (1925–1945) in 161 Kurzbiographien. Verlag Chemie, Weinheim 1990, ISBN 3-527-28144-4.
  • Christian Mattke: Albert Oeckl – sein Leben und Wirken für die deutsche Öffentlichkeitsarbeit. VS, 2006, ISBN 3-531-14989-X.

Quellen

  • Urteil der Spruchkammer Traunstein (A.Z. KM 32/48) vom 22. Dezember 1948 – Abgedruckt in: Heinrich Gattineau: Durch die Klippen des 20. Jahrhunderts. Erinnerungen zur Zeit- und Wirtschaftsgeschichte. Seewald, Stuttgart 1983, ISBN 3-512-00672-8, S. 206.
  • Eidesstattliche Erklärung, Vernehmungen des Heinrich Gattineau 1946/47. In: Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, München, Signatur ZS-906-1 1948/56 (online) pdf, 19,21 MB
  • SV Zehlendorfer Wespen 1911 e. V. (Hrsg.): 100 Jahre SV Zehlendorfer Wespen 1911 e.V. Festschrift, Berlin (2011), S. 66–76
  • Heinrich Gattineau: Durch die Klippen des 20. Jahrhunderts. Erinnerungen zur Zeit- und Wirtschaftsgeschichte. Seewald, Stuttgart 1983, ISBN 3-512-00672-8. (Autobiografie)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Who's who in Germany. Band 1; Band 4, Teil 1, Intercontinental Book and Publishing Company, German editor R. Oldenbourg Verlag, 1972, S. 433.
  2. a b c d Wollheim Memorial – Biografie Heinrich Gattineau
  3. Christian Mattke: Albert Oeckl – sein Leben und Wirken für die deutsche Öffentlichkeitsarbeit. 2006, S. 51.
  4. Kösener Korps-Listen 1960, 104, 1541
  5. a b Christian Mattke: Albert Oeckl – sein Leben und Wirken für die deutsche Öffentlichkeitsarbeit. 2006, S. 43.
  6. Christian Mattke: Albert Oeckl – sein Leben und Wirken für die deutsche Öffentlichkeitsarbeit. VS, 2006, S. 52.
  7. Christian Mattke: Albert Oeckl – sein Leben und Wirken für die deutsche Öffentlichkeitsarbeit. Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-14989-X, S. 40 .
  8. Karl Dietrich Bracher, Wolfgang Sauer, Gerhard Schulz (Hrsg.): Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen 1960, 2. Auflage. Springer, Wiesbaden 1960, S. 883.
  9. Christian Mattke: Albert Oeckl – sein Leben und Wirken für die deutsche Öffentlichkeitsarbeit. 2006, S. 40, 52.
  10. Eidesstattliche Erklärung, Vernehmungen des Heinrich Gattineau 1946/47. In: Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, München, Signatur ZS-906-1 1948/56, S. 8.
  11. Jutta Günther, Dagmara Jajesniak-Quast: Willkommene Investoren oder nationaler Ausverkauf? Ausländische Direktinvestitionen in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert: Ausländische Direktinvestitionen in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert. BWV, 2006, ISBN 3-8305-1186-8, S. 155, 159.
  12. Eidesstattliche Erklärung des Heinrich Gattineau 1946/47. In: Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, München, Signatur ZS-906-1 1948/56, S. 8.
  13. Zehlendorfer Wespen (Hrsg.): 100 Jahre SV Zehlendorfer Wespen 1911 e.V. S. 72–76.
  14. Bernd Boll: Fall 6: Der IG-Farben-Prozeß. In: Gerd R. Ueberschär: Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952. Fischer, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-13589-3, S. 139f.
  15. Abgedruckt in: Heinrich Gattineau: Durch die Klippen des 20. Jahrhunderts. Erinnerungen zur Zeit- und Wirtschaftsgeschichte. Seewald, Stuttgart 1983, ISBN 3-512-00672-8, S. 206.
  16. Norbert Podewin (Hrsg.): Braunbuch – Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Berlin (West). Reprint der Ausgabe 1968 (3. Auflage), Berlin 2002, ISBN 3-360-01033-7, S. 52/53 – Gattineau wird dort fälschlich als SS-Standartenführer (statt SA-Standartenführer) bezeichnet / „Freund“ Görings und Himmlers unbelegbar.
  17. Wer ist wer?: Das Deutsche who's who. Band 18, Societäts-Verlag, 1974, S. 286.
  18. Karl-Eduard von Schnitzler: Meine Schlösser oder Wie ich mein Vaterland fand. Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg, Hamburg 1995, ISBN 3-89401-249-8, S. 61.