Juda ben Samuel

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist die aktuelle Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 30. April 2022 um 16:47 Uhr durch imported>Gelöbnix(3905219).
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Jehuda ben Samuel, genannt Jehuda he-Chassid („Jehuda der Fromme“, geboren ca. 1140–50[1][2] vermutlich in Speyer; gestorben am 22. Februar 1217[3] in Regensburg), war ein deutsch-jüdischer Schriftgelehrter, Philosoph und Ethiker. Er war einer der bedeutendsten Vertreter einer Bewegung innerhalb des hochmittelalterlichen Judentums, der Chaside Aschkenas, die als Reaktion auf die blutigen Judenverfolgungen der Zeit der Kreuzzüge ab 1096 der streng rationalen rabbinischen Gelehrsamkeit eine mystisch-spirituelle Frömmigkeit, Askese und Märtyrerverehrung entgegensetzten.[4]

Leben

Jehuda ben Samuel he-Chasid entstammte der bekannten Rabbiner- und Gelehrtenfamilie der Kalonymiden. Sein Vater war der Schriftgelehrte Samuel ben Qalonymus he-Chasid. Einer seiner Lehrer war neben seinem Vater sein später als Rabbiner und liturgischer Dichter tätiger Bruder Abraham ben Samuel He-Chassid. Nach belegtem Wirken in Speyer verlegte Jehuda der Fromme 1195/96 vermutlich aufgrund judenfeindlicher Ausschreitungen am Niederrhein seinen Wohnsitz nach Regensburg, wo sich ebenfalls eine starke jüdische Gemeinde befand. Dort gründete er eine Talmudschule. Durch Jehuda ben Samuel he-Chasid stieg die Stadt kurzfristig zu einem Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit auf, von dem aus auch Kontakte bis zu Gemeinden und Gelehrten des osteuropäischen Raumes wie z. B. Prag oder Krakau geknüpft wurden. Er blieb dort bis zu seinem Tod im Jahr 1217.[5][6] Als bedeutendster Schüler Jehudas des Frommen gilt der mit ihm verwandte Eleazar von Worms. Weitere historisch vermutete Schüler von ihm sind Isaac ben Moses von Wien und Baruch ben Samuel von Mainz.[7]

Während es an zeitgenössischen Quellen über Jehuda he-Chasid fehlt, sind zahlreiche Legenden aus dem 15. und 16. Jahrhundert über ihn überliefert. Er wurde – obwohl es im Judentum prinzipiell keine offizielle Heiligenverehrung gibt – nach seinem Tode in der jüdischen Hagiographie zumindest im deutschsprachigen Raum zum asketischen „Heiligen“ und Wunderheiler (Baàlé Schemot) verklärt.[8]

Werke

Sefer Chasidim von Juda ben Samuel, Ausgabe von 1724, Frankfurt am Main

Das einflussreichste der ihm in Teilen zugeschriebenen Werke ist das Sefer Chasidim („Buch der Frommen“), welches nach Gershom Scholem „eines der bedeutendsten und denkwürdigsten Produkte der jüdischen Literatur“ darstellt, welches es erlaubt, „tief in das wirkliche Leben einer jüdischen Gemeinschaft in allen ihren Äußerungen Einblick zu gewinnen.“[9] Es ist eine in Teilen sozial-ethische wie sozial-revolutionäre Schrift, die dem mittelalterlichen Judentum neue Perspektiven aufzeigte, gleichzeitig aber ein Werk voller rätselhafter und mystischer Symbolik, die schwer zu deuten ist. Das Werk ist eine in ihrer Art einmalige Quelle für das jüdische Leben und dessen christliche Umwelt im ausgehenden 12. und beginnenden 13. Jahrhundert.[10] Ein weiteres wichtiges Buch (Sefer HaKavod – „Buch der Ehre“) ging verloren und ist nur bruchstückhaft durch Zitate anderer Autoren überliefert. Der Großteil seiner Schriften zur esoterischen Theologie ist verlorengegangen. Manche Passagen des Buches der Frommen erläutern auch die philosophisch-mystische Seite des Tanach und Talmud.[11] Von den mystisch-esoterischen Aspekten des Buches der Frommen ist allerdings kaum eine Wirkung ausgegangen. Es wurde später eher die spanische Kabbala maßgebend.[12]

Wissenswert

Die Bedeutung von Juda ben Samuel wird durch eine Legende betont, die Juspa Schammes in seiner Geschichtensammlung Ma'asseh nissim überliefert hat[13]: Danach habe, während seine Mutter mit ihm schwanger war, ein Fuhrmann versucht, sie in der Hinteren Judengasse, einer schmalen Gasse an der Ostseite der Wormser Synagoge, mit einem Fuhrwerk zu überfahren. Sie sei nur gerettet worden, weil die Synagogenmauer, an die sie sich drückte, nach innen ausgewichen sei. Die Delle in der Mauer ist noch heute zu sehen.

Eleasar ben Juda ben Kalonymos, Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Worms und führend im Verbund der SchUM-Städte tätig, war sein Schüler[14], Simḥa bar Šemu’el ein Briefpartner.[15]

Literatur

Textausgaben und Übersetzungen

  • Sefer Ḥassidīm
    • Sēfer ha-ḥasîdîm, gedruckt von Salman Aftrur, Frankfurt am Main, 1724.
    • Sefer hasidim. Hg. Reuven Margaliot, Mosad ha-Rab Quq, Jerusalem 1957 (Edition des hebräischen Textes nach dem Erstdruck Bologna 1538).
    • Sefer ha-ḥasidim. Hg. Jehuda Wistinetzki, Berlin 1891, Nachdrucke Frankfurt 1924, Jerusalem 1969. (Abdruck der Handschrift von Parma aus dem Codex De Rossi 1133).
    • Sefer Hasidim. Hg. Ivan G. Marcus, Jerusalem 1985 (hebräischer Text nach MS Parma H3280).
    • Yehudah HaChasid: Sefer Chassidim. Hg. Shimon Gutman, 2 Bände, Otzar HaPoskim, Jerusalem 2007 (hebräische Leseausgabe mit Kommentierung) Review von Eliezer Brodt, 2007.
    • Moritz Güdemann: Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der Juden in Frankreich und Deutschland ... Band 1, Wien 1880, S. 178–198 (auszugsweise Übersetzung ins Deutsche) (Digitalisat bei archive.org).
    • Die Ethik des Judentums. Auszüge aus dem „Buche der Frommen“ (sefer hahasidīm) des R. Jehuda Hachassid. Zusammengestellt und übersetzt von Abraham Sulzbach, Sänger & Friedberg, Frankfurt a. M. 1923 (Digitalisat der UB Frankfurt).
    • Jehudah ben Chemouel le Hassid: Sefer Ḥassidim. Le guide des hassidim. Tradition de l'hébreu et présenté par Édouard Gourévitch, Cerf, Paris 1988, ISBN 2-204-02827-4 (französische Übersetzung nach akademischen Standards).
    • S. A. Singer: Medieval Jewish Mysticism, Book of the Pious. Northbrook 1971 (englische Teilübersetzung).
    • Susanne Borchers: Jüdisches Frauenleben im Mittelalter. Lang, Frankfurt am Main u. a. 1998, ISBN 3-631-33490-7 (deutsche Teilübersetzung).

Sekundärliteratur

  • Tamar Alexander: Dream Narratives in Sefer Hasidim. In: Trumah. 12 (2002), S. 65–79.
  • Andreas Angerstorfer: Rabbi Jehuda ben Samuel he-Hasid (um 1140-1217), „der Pietist“. In: Mandred Treml u. a. (Hgg.): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Lebensläufe. München 1988, S. 13–20.
  • Joseph Dan: Rabbi Jehudah the Pious and Caesarius of Heisterbach. Common Motifs in their Stories, in: Joseph Heinemann, Dov Noy (Hrsg.): Agada and Folk-Literature, Jerusalem 1971, S. 18–27. Auch in: J. Dan: Jewish Mysticism, Bd. 3, The Modern Period, J. Aronson 1999, Northvale, NJ / Jerusalem, ISBN 0765760096, S. 297–309.
  • Christoph Daxelmüller: Rabbi Juda ha-chasid von Regensburg. In: Universität Regensburg (Hg.): Gelehrtes Regensburg – Stadt der Wissenschaft. Stätten der Forschung im Wandel der Zeit, Regensburg 1995, S. 105–118.
  • Ithamar Gruenwald: Normative und volkstümliche Religiosität im Sefer Chasidim. In: Karl E. Grözinger (Hrsg.): Judentum im deutschen Sprachraum. Berlin 1991, S. 117–126.
  • Nathanael Riemer: Der „Geisterwagen“ im Sefer Hassidim und seine Rezeption in der jüdischen Literatur, in: Judaica. Beiträge zum Verständnis des Judentums, 68 (März 2012), S. 70–80.
  • S. A. Horodezky: Art. Jehuda he-Chassid, in: Encyclopaedia Judaica, 1. A., Bd. 8, Berlin 1931, 945–950.
  • Johann Maier: Rab und Chakam im Sefer Chasidim. In: Julius Carlebach (Hg.): Das aschkenasische Rabbinat. Studien über Glaube und Schicksal. Berlin 1995, S. 37–119.
  • Ivan G. Marcus: The Recensions and Structure of "Sefer Ḥasidim", in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research 45 (1978), S. 131–153.
  • Peter Schäfer: Juden und Christen im Hohen Mittelalter: Das "Buch der Frommen", in: Christoph Cluse (Hg.): Europas Juden im Mittelalter. Beiträge des internationalen Symposiums in Speyer vom 20. bis 25. Oktober 2002, Kliomedia, Trier 2004, S. 45–59. Auch als: Jews and Christians in the High Middle Ages: The Book of Pious, in: Christoph Cluse (Hg.): The Jews of Europe in the Middle Ages (Tenth to Fifteenth Centuries), Brepols, Turnhout 2004, S. 29–42.
  • Haym Soloveitchik: The Midrasch, Sefer Hasidim and the Changing Face of God, in: P. Schäfer u. a. (Hgg.): Joseph Dan Festschrift, Tübingen 2005, S. 165–178.
  • Haym Soloveitchik: Piety, Pietism and German Pietism. Sefer Hasidim I and the Influence of Hasidei Ashkenaz, in: Jewish Quarterly Review 92/3-4 (2002), S. 455–493.
  • Haym Soloveitchik: Three Themes in the Sefer Hasidim, in: AJS Review 1 (1976), S. 311–357.
  • Elijahu Tarantul: Das »Buch der Frommen« im Spannungsfeld zwischen der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit, in: Aschkenas – Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 15/1 (2005), S. 1–23.
  • Joshua Trachtenberg: Jewish Magic and Superstition, Philadelphia 1939.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Joseph Dan: JUDAH BEN SAMUEL HE-ḤASID. In: Encyclopaedia Judaica. 2. Auflage. Band 11, Detroit/New York u. a. 2007, ISBN 978-0-02-865939-8, S. 490–491 (englisch).: "c. 1150"; ebenso Rachel Adelman: The Return of the Repressed: Pirqe De-Rabbi Eliezer and the Pseudepigrapha, Supplements to the Journal for the study of Judaism 1140, Brill, Leiden 2009, S. 175 (einsehbar bei Google Books)
  2. Roland Goetschel: Kabbala, I. Judentum. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Band 17, de Gruyter, Berlin/New York 1988, ISBN 3-11-011506-9, S. 487–500. Hier S. 489: "etwa 1146".
  3. Kaufmann Kohler, Max Schloessinger: Jehuda ben Samuel he-Chasid. In: Isidore Singer (Hrsg.): Jewish Encyclopedia. Funk and Wagnalls, New York 1901–1906.; U. Mattejiet: J[ehuda] ben Samuel hä Chasid. In: Lexikon des Mittelalters (LexMA). Band 5. Artemis & Winkler, München/Zürich 1991, ISBN 3-7608-8905-0, Sp. 347.
  4. Marion Aptroot und Roland Gruschka: Jiddisch. Geschichte und Kultur einer Weltsprache. C.H. Beck, München, 2010, S. 35.
  5. Ort der Gelehrsamkeit / Regensburg – Eine Gemeinde mit großer Vergangenheit auf der Webpräsenz der Jüdischen Allgemeinen
  6. Leo Trepp: Geschichte der deutschen Juden, Verlag Kohlhammer, 1996, S. 35
  7. Kaufmann Kohler, Max Schloessinger: Jehuda ben Samuel he-Chasid. In: Isidore Singer (Hrsg.): Jewish Encyclopedia. Funk and Wagnalls, New York 1901–1906.
  8. Susanne Galley: Volksfrömmigkeit, II. Judentum. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Band 35, de Gruyter, Berlin/New York 2003, ISBN 3-11-017781-1, S. 218–221. Hier S. 221.
  9. Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2000, S. 90
  10. Freie Universität Berlin / Institut für Judaistik: DFG-Projekt / Juden und Christen im Sefer Hasidim („Buch der Frommen“) (Memento vom 13. März 2012 im Internet Archive)
  11. Vgl. Joseph Dan: ḤASIDIM, SEFER. In: Encyclopaedia Judaica. 2. Auflage. Band 8, Detroit/New York u. a. 2007, ISBN 978-0-02-865936-7, S. 392–393 (englisch).
  12. Michael Toch: Die Juden im mittelalterlichen Reich, Enzyklopädie deutscher Geschichte, Band 44, Verlag Oldenbourg, München, 2003, S. 30
  13. Juspa Schammes: Die Rabbi-Jehuda-Hechassid-Mauer. In: Fritz Reuter und Ulrike Schäfer: Wundergeschichten aus Warmaisa. Juspa Schammes, seine Ma'asseh nissim und das jüdische Worms im 17. Jahrhundert. Warmaisa, Worms 2007. ISBN 3-00-017077-4, S. 18.
  14. Fritz Reuter: Warmaisa: 1000 Jahre Juden in Worms. 3. Auflage. Eigenverlag, Worms 2009. ISBN 978-3-8391-0201-5, S. 52.
  15. Rainer Josef Barzen (Hrsg.): Taqqanot Qehillot Šum. Die Rechtssatzungen der jüdischen Gemeinden Mainz, Worms und Speyer im hohen und späten Mittelalter. 2 Bände = Monumenta Germaniae Historica. Hebräische Texte aus dem mittelalterlichen Deutschland, Band 2. Harrasowitz, Wiesbaden 2019. ISBN 978-3-447-10076-2, s. 154.