Dies ist ein als lesenswert ausgezeichneter Artikel.

Nomenklatur (Anatomie)

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist die aktuelle Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 28. Mai 2022 um 14:18 Uhr durch imported>Arabsalam(1170108) (Die letzte Textänderung von 2003:E4:AF28:9900:A8B8:2510:C63F:664F wurde verworfen und die Version 219803027 von Partynia wiederhergestellt.).
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Die anatomische Nomenklatur ist eine systematische Sammlung von Begriffen zur eindeutigen Benennung von Teilen der Körper von Lebewesen. Sie wurde dafür entwickelt, dass es Fachkundigen möglich ist, mit derselben Benennung für einen bestimmten anatomischen Begriff auch immer dieselben Anteile, Regionen oder Lagebeziehungen im Körper eines Lebewesens der gleichen Art angeben zu können.

Menschen benennen zum einen schon in der gleichen natürlichen Sprache einen gleichartig bestimmten Körperteil nicht selten verschieden (z. B. Haupt und Kopf) und grenzen ihn zum anderen oft auch unterschiedlich von anderen Körperteilen ab (wie z. B. gegenüber Hals und Nacken). Dabei benutzen sie häufig für Teile verschiedenartiger Lebewesen unterschiedliche Bezeichnungen. Daher gibt es eine Vielzahl von Benennungen für ein ähnliches oder das gleiche oder dasselbe Körperteil. Schon seit der Antike wird daher nach einer allgemein gültigen Namensgebung gesucht für die äußerlich sichtbaren Anteile eines Körpers, um sich mit eindeutigen Benennungen klar verständigen zu können. Für den inneren Aufbau des Körpers kommt erschwerend hinzu, dass Anteile des Körpers, beispielsweise Muskeln und mehrfach gegliederte Organe, unterschiedlich aufgeteilt werden können. So wird zum Beispiel die Benennung Quadrizeps in einigen Nomenklaturen als Sammelbezeichnung für vier Muskeln definiert, während in anderen, neueren Nomenklaturen der Quadrizeps als ein einziger Muskel mit vier Muskelköpfen gilt.

In der Medizin des Altertums wurden vor allem griechische und lateinische Namen verwendet. Als ältestes erhaltenes Anatomielehrbuch mit der anatomischen Nomenklatur seiner Zeit gilt die Abhandlung Über die Bezeichnung der Körperteile des Menschen von Rufus von Ephesos.[1] Durch den Einfluss der arabischen Medizin entstand bis in das Mittelalter[2] ein Sammelsurium von Ausdrücken in Griechisch, Latein, Arabisch, Persisch, Syrisch und Hebräisch. Insbesondere der humanistische Anatom Andreas Vesalius, der den arabisch geprägten Wörtern ablehnend gegenüberstand, entwickelte im 16. Jahrhundert eine auf Latein und latinisiertem Griechisch basierende grundlegende Reform des anatomischen Wortschatzes.[3] Latein war im Europa des Mittelalters generell die Verkehrssprache an Universitäten.[4] Die heutigen anatomischen Nomenklaturen gehen immer noch weitgehend auf die lateinische bzw. altgriechische Sprache zurück.[5] Ein Vorteil ist, dass diese Sprache als sogenannte „tote Sprache“, die nicht mehr – ausgenommen in Vatikanstadt, wo Latein Amtssprache ist – aktiv gesprochen wird, wenig Veränderungen unterliegt. Als Begründer der internationalen Anatomischen Nomenklatur gilt Joseph Hyrtl, der auch lexikographisch die altdeutschen anatomischen Fachausdrücke erfasst hatte.[6] In jüngerer Zeit erfuhr das medizinische Latein kleine Veränderungen, die in der Dominanz der englischen Sprache als moderner Wissenschaftssprache begründet sind. Insbesondere die Diphthonge „oe“ und „ae“ werden in neuerer Schreibweise einfach durch „e“ und das deutschsprachige K durch ein C ersetzt (z. B. Taenia → Tenia, Oesophagus → Esophagus).

Es gibt heute etwa 8000 international festgelegte Namen für anatomische Begriffe, die auf etwa 600 Grundbezeichnungen zurückgehen (400 lateinischer, 200 griechischer Herkunft). Die Bezeichnungen werden unabhängig ihrer Herkunft in der Regel wie lateinische Formen behandelt und lateinisch dekliniert. Die übliche Aussprache entspricht dem spätlateinischen Gebrauch: c wird vor hellen Vokalen (e, i, ae, oe, y) wie z, sonst wie k gesprochen.

Nomenklaturen

Um die Varianten anatomischer Bezeichnungen zu vereinheitlichen, wurden mehrere Regelwerke aufgestellt. Im Zweifel ist grundsätzlich die neuere Zuordnung zu verwenden, gelegentlich stößt man aber in der Literatur auch auf ältere Definitionen.

Für den Menschen sind verschiedene nomenklatorische Werke erstellt bzw. weiterentwickelt worden. Diese internationalen humananatomischen Nomenklaturen sind die

  • Basler Nomina Anatomica (BNA) von 1895
  • Jenaer Nomina Anatomica (JNA) von 1935
  • Pariser Nomina Anatomica (PNA) von 1955
  • Terminologia Anatomica (TA) von 1998[7]
  • Terminologia Histologica von 2008 (aktuell geltend)[7]
  • Terminologia Embryologica von 2009 (aktuell geltend)[7]

Eine Vereinheitlichung der anatomischen Benennungen auf der Grundlage gleichsetzbarer Begriffe war notwendig geworden, da sich ab dem Mittelalter eine Vielzahl verschiedener Ausdrücke für dieselbe Struktur entwickelt hatte. Die 1895 eingeführte BNA versuchte dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.[4] Die 1955 eingeführte PNA war für die vergleichende Morphologie eher ein Rückschritt, denn die Lagebezeichnungen orientieren sich (wie schon bei der BNA) wieder an der aufrechten Körperhaltung des Menschen. Die Terminologia Anatomica von 1998 wurde vom Federative International Programme on Anatomical Terminology (FIPAT) erarbeitet, einer auf dem Weltkongress der International Federation of Associations of Anatomists (IFAA) 1989 gewählten Expertengruppe. Der Entwurf wurde den 56 Mitgliedsvereinigungen der IFAA zugesandt, die diesen kommentieren und Änderungen vorschlagen durften.[8]

Für andere Säugetiere war die PNA nur eingeschränkt sinnvoll. Deshalb wurde 1955 eine Arbeitsgruppe gegründet, die die Nomina Anatomica Veterinaria (NAV) erarbeitete. Sie erschien 1968 in erster Auflage, mittlerweile gilt die 6. Auflage aus dem Jahre 2017. Die veterinäranatomische Nomenklatur ist weitgehend mit der humananatomischen identisch, so dass eine gegenseitige Verständigung gesichert ist, selbst auf die Gefahr hin, dass bestimmte Namen eigentlich wenig sinnvoll sind. So ist beispielsweise der Musculus teres major (übersetzt: „großer runder Muskel“) zwar beim Menschen rundlich, bei den übrigen Säugetieren jedoch ein streifenförmiges Muskelband, er wird aber dennoch auch bei Tieren so benannt. Lediglich bei bestimmten Lage- und Richtungsbezeichnungen weichen NAV und PNA voneinander ab. Eine weitere Besonderheit der NAV ist, dass sie konsequent auf Eigennamen verzichtet.

Für Vögel ließ sich, aufgrund vieler baulicher Eigenheiten, die anatomische Nomenklatur ebenfalls nicht einfach übertragen. Daher wurde für diese Wirbeltierklasse eine eigene Nomenklatur geschaffen, die Nomina Anatomica Avium (NAA). Sie liegt seit 1993 in zweiter Auflage vor.

Namenskonventionen

All diese Regelwerke legen übereinstimmend fest, dass anatomische Namen immer aus mindestens zwei Teilen bestehen, oft aus drei, manchmal sogar aus vier. Diese Teile sind nach einem einfachen System zusammengesetzt. Einteilige Namen gibt es lediglich für übergeordnete Regionen (Caput Kopf, Collum Hals, Thorax Brust usw.) und wichtige Organe (Cor Herz, Cerebrum Gehirn u. a.) und einige andere Strukturen (Clavicula Schlüsselbein, Platysma u. a.)

Der erste Namensteil nennt die „Baugruppe“ (zum Beispiel KnochenOs) oder charakterisiert die „Bauform“ (zum Beispiel Rinne – Sulcus). Der zweite Namensteil beschreibt diese nun näher, indem die Form, Lage, Länge, Farbe oder die Zugehörigkeit zu einem Organ angegeben wird. Wenn diese beiden Namensteile immer noch nicht eindeutig sind, werden zusätzliche Namensteile angehängt, die weitere Orts-, Größen oder Zahlenangaben (der Vordere, der Größte, der Zweite, …) enthalten.

Bei einigen häufig verwendeten Strukturen wird der erste Namensteil abgekürzt: A. für Arterie (Arteria), Art. für Gelenk (Articulatio), For. für Loch (Foramen), Ln. für Lymphknoten (Lymphonodus), M. für Muskel (Musculus), N. für Nerv (Nervus), V. für Vene (Vena) und dergleichen mehr. Wenn mehrere Muskeln, Venen, Lymphknoten etc. gemeint sind, wird der letzte Buchstabe der Abkürzung verdoppelt: Mm. sind also „mehrere Muskeln“, Vv. bedeutet „mehrere Venen“, Lnn. „mehrere Lymphknoten“.

Körperteile (1. Teil des Namens)
Lateinisch Kürzel Deutsch
Angulus Winkel, Ecke
Apertura Öffnung
Arcus Bogen
Arteria A. Arterie (Ader, die vom Herzen weg führt)
Articulatio Art. Gelenk
Bursa B. Schleimbeutel
Canalis Kanal
Caput Kopf (als Form, nicht als Schädel; zum Beispiel: Gelenkkopf)
Cavitas Höhle
Collum Hals (z. B. bei Knochen)
Cornu Horn, Fortsatz
Corpus Körper, Schaft (bei Knochen)
Crista Kamm, Vorsprung, verstärkter Rand
Ductus Gang, Röhre
Fascia Faszie (bindegewebige Hülle um Muskeln)
Fossa Grube, Vertiefung
Foramen Loch
Glandula Drüse
Gyrus Windung, v. a. Hirnwindung
Hiatus Durchtrittstelle, Spalte, Öffnung
Lamina Häutchen, Schicht
Ligamentum Lig. Band
Lobus Lappen (Großhirnlappen, Lungenlappen)
Margo Rand
Musculus M. Muskel (eigentlich: Mäuschen)
Nervus N. Nerv
Nodus Nd. Knoten
Nucleus Ncl. Kern, Kerngebiet
Os Knochen
Pars Teil, eins von mehreren
Plexus Geflecht
Processus Proc. Vorsprung, Fortsatz
Radix Rad. Wurzel, Ursprung
Ramus R. Ast, Zweig
Recessus von re~: zurück~ und cedere: weichen
Septum Wand, Trennung
Sinus Ausbuchtung, Vertiefung, Höhle, Nasennebenhöhlen, Erweiterungen von Venen (Sinus cavernosus u. a.)
Sulcus Furche, Rinne
Tendo Sehne
Tuber Höcker, Wulst
Tuberculum Tub. Höckerchen
Tuberositas unebene, höckerige, raue Stelle (häufig Ansatzstelle für Sehne eines Muskels)
Vas Gefäß, Ader
Vena V. Vene (Ader, die zum Herz hinführt)
Ortsangaben (2. Teil des Namens)
Lateinisch Kürzel Deutsch
abdominalis zum Bauch (Abdomen) gehörig
acromialis zur Schulterhöhe (Acromion) gehörend
brachialis am Oberarm (Brachium)
costalis an den Rippen (Costa)
cranialis zum Schädel (Cranium) gehörend oder zeigend, oberhalb (schädelwärts) gelegen
cysticus zum Gallengangssystem gehörend
dorsalis am Rücken (Dorsum), rückenwärts gelegen, gilt auch für Hand- und Fußrücken
femoralis am Oberschenkel (Femur)
fibularis zum Wadenbein (Fibula) gehörend
gastricus zum Magen (Gaster) gehörend
hepatis an oder in der Leber (Hepar, griechisch)
iliacus am oder im Darmbein (Os ilium)
lienalis zur Milz (Lien) gehörend
palmaris zur Handfläche (Palma manus) gehörend
pectoralis an der Brust (Pectus)
peroneus am Wadenbein
plantaris zur Fußsohle (Planta pedis) gehörig
pulmonalis an oder in der Lunge (Pulmo)
radialis an der Speiche (Radius)
renalis an oder in der Niere (Ren)
thoracicus am oder im Brustkorb (Thorax)
tibialis am Schienbein (Tibia)
transversus quer verlaufend, hindurch strebend
ulnaris an der Elle (Ulna)
vertebralis zum Wirbel (Vertebra)
Richtungen und Größen (2., 3. oder 4. Teil des Namens)
Lateinisch Kürzel Deutsch
anterior ant. vorderer
ascendens aufsteigend
caudalis unten, schwanzwärts
cranialis oben, kopfwärts
descendens absteigend
dexter dext. rechts (vom Patienten aus, nicht vom Betrachter!)
dorsalis dors. hinten, am Rücken, rückenwärts
externus ext. außen, an der Oberfläche
inferior inf. unterer
internus int. innen, im Körper
lateralis lat. seitlich, außen
longitudinalis in Längsrichtung
maximus max. der Größte
medialis med. innen, zur Mitte hin
medius mittlerer, zwischen zwei anderen
minimus min. der Kleinste
posterior post. hinterer
profundus prof. tief
sinister sin. links (vom Patienten aus, nicht vom Betrachter!)
superior sup. oberer
superficialis superf. oberflächlich
ventralis ventr. vorn, am Bauch, bauchwärts

Hinweis: Die in der zweiten und dritten Tabelle genannten lateinischen Adjektive treten in unterschiedlichen Formen auf, abhängig vom grammatischen Geschlecht des Substantivs der Wortverbindung. Die Adjektive werden den Substantiven so angepasst, dass beide in KNG-Kongruenz zueinander stehen. Dabei kann sich die Endung ändern. Hier ist jeweils nur die männliche Form der Adjektive angeführt. Die weibliche Form des männlichen medius beispielsweise ist media, die sächliche medium.

Siehe auch

Literatur

  • Heinz Feneis: Anatomisches Bildwörterbuch der internationalen Nomenklatur. 1967; 2. Auflage 1970; 4. Auflage 1974.
  • Wolfgang Dauber, Heinz Feneis: Feneis’ Bild-Lexikon der Anatomie. 9. Auflage. Thieme, Stuttgart 2005, ISBN 3-13-330109-8.
  • Ian Whitmore (Hrsg.): Terminologia Anatomica. International Anatomical Terminology. Thieme, Stuttgart 1998, ISBN 3-13-114361-4.
  • Joseph Hyrtl: Das Arabische und Hebräische in der Anatomie. Wien 1879; Neudruck Wiesbaden 1966.
  • Joachim-Hermann Scharf: Die nomina anatomica im System der Wissenschaftssprache im Wandel der Zeiten. In: Verhandlungen der anatomischen Gesellschaft. Band 80, 1986, S. 27–73.

Einzelnachweise

  1. Jutta Kollesch, Diethard Nickel: Antike Heilkunst. Ausgewählte Texte aus dem medizinischen Schrifttum der Griechen und Römer. Philipp Reclam jun., Leipzig 1979 (= Reclams Universal-Bibliothek. Band 771); 6. Auflage ebenda 1989, ISBN 3-379-00411-1, S. 187.
  2. Adolf Fonahn: Arabic and Latin anatomical terminology, chiefly from the Middle Ages. Oslo 1922 (= Videnskapsselskapets skrifter, II: historisk-filosofisk Klasse. 1921, Band 7).
  3. Vgl. auch Gerhard Baader: Die Antikerezeption in der Entwicklung der medizinischen Wissenschaft während der Renaissance. In: Rudolf Schmitz, Gundolf Keil (Hrsg.): Humanismus und Medizin. Acta humaniora, Weinheim 1984 (= Deutsche Forschungsgemeinschaft: Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung. Band 11), ISBN 3-527-17011-1, S. 51–66, hier: S. 63 f.
  4. a b Heiner Fangerau (Hrsg.): Medizinische Terminologie. 3. Auflage. Lehmanns Media, 2008, ISBN 978-3-86541-297-3.
  5. Karl-Wilhelm Grabert: Die Nomina anatomica bei den deutschen Wundärzten Hieronymus Brunschwig und Hans von Gersdorff, ihre Beziehungen zu Guy de Chauliac und ihr Verhältnis zu den Jenenser Nomina anatomica des Jahres 1935. Ein Beitrag zur Geschichte der anatomischen Nomenklatur, mit einer Skizze über das Leben, das Werk und die Stellung der drei Autoren in der deutschen Anatomie und Chirurgie des Mittelalters. Medizinische Dissertation Leipzig 1943.
  6. Gundolf Keil: Robert Koch (1843–1910). Ein Essai. In: Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung. Band 36/37, 2017/2018 (2021), S. 73–109, hier: S. 99.
  7. a b c siehe Terminologia
  8. Vorwort zur TA