ʿIsma

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

ʿIsma (arabisch عصمة, DMG

ʿiṣma

‚Hinderung, Schutz, Unverletzlichkeit‘) ist ein Terminus technicus des islamischen Rechts und der islamischen Theologie mit unterschiedlichen Bedeutungen. Während er im islamischen Recht zum einen das aus dem Ehevertrag resultierende Schutzverhältnis der Ehefrau, zum anderen die verschiedenen Arten des Rechtsschutzes bezeichnet, die der Muslim, der Dhimmī und der Musta'min gegenüber der islamischen Obrigkeit genießen, ist er in der islamischen Theologie die Bezeichnung für die Sündlosigkeit und Unfehlbarkeit bestimmter heiliger Personen. In der Zwölfer-Schia wird den Vierzehn Unfehlbaren ʿIsma zugesprochen. Unter den Sunniten wurde insbesondere die ʿIsma der Propheten diskutiert. Eine Person, die ʿIsma besitzt, wird auf Arabisch als Maʿsūm bezeichnet. Von dem Wort ʿIsma leitet sich auch der türkische Vorname İsmet ab.

Vorislamische und koranische Begriffsverwendung

Das Konzept der ʿIsma stammt aus vorislamischer Zeit. Muslimische Historiographen wie al-Balādhurī und at-Tabarī erwähnen, dass mit diesem Terminus ursprünglich Schutzbriefe bezeichnet wurden, die in vorislamischer Zeit mekkanische Händler von byzantinischen, jemenitischen und abessinischen Herrschern erhielten und in denen ihnen Sicherheit für ihre Person und ihr Eigentum zugesagt wurde.

Im Koran (Sure 60:10) wird das Wort in der Pluralform ʿiṣam auf die Ehe bezogen und bezeichnet hier das hieraus sich ergebende Schutzverhältnis der Ehefrau.[1]

ʿIsma im islamischen Recht

Als juristisches Konzept wurde die ʿIsma im 12. Jahrhundert von Gelehrten der hanafitischen Rechtsschule entwickelt. Nach ihrer Lehre haben auf dem Territorium des Islam sowohl der Muslim als auch der Dhimmī und der Mustaʾmin einen Status der Unverletzlichkeit inne, die von dem Schutz (al-iḥrāz), den die islamische Obrigkeit für ihr Leben und Eigentum leisten kann, herrührt. Während für Muslim und Dhimmī dieser Status eine „unbefristete Unverletzlichkeit“ (ʿiṣma muʾabbada) ist, ist beim Mustaʾmin dieser Status zeitlich beschränkt und wird entsprechend „befristete Unverletzlichkeit“ (ʿiṣma muʾaqqata) genannt. Die Unverletzlichkeit hat zur Folge, dass im Falle einer Schädigung die Höhe des Schadens ermittelt und dieser Schaden wiedergutgemacht wird, im Falle der Tötung durch eine Wergeldzahlung an die geschädigte Sippe. Aus diesem Grund wird diese Art der ʿIsma als „mit Geld zu bezahlende Unverletzlichkeit“ (ʿiṣma muqauwima) bezeichnet.[2]

Auf dem Gebiet des Krieges, das heißt außerhalb der Reichweite der islamischen Obrigkeit, gilt dagegen nur "die zum Sünder machende Unverletzlichkeit (ʿiṣma muʾaṯṯima). Ein Muslim, der nicht auf dem Territorium des Islams wohnt, ist nach diesem Prinzip vor den Übergriffen eines Glaubensbruders nur dadurch geschützt, als dieser durch den Übergriff vor Gott zum Sünder wird. Maßnahmen zur Verfolgung des Deliktes von Seiten der muslimischen Obrigkeit werden hingegen nicht unternommen.[3]

Auch in der modernen arabischen Jurisprudenz ist der Begriff ʿIsma noch geläufig. Hier bezeichnet er die rechtliche Bindung, „die eine Person oder eine Sache unter den Schutz des islamischen Gesetzes stellt und die ein Individuum befähigt, die Gerichte anzurufen, um Dritte für den Schaden haftbar oder verantwortlich zu machen, den sie ihm angetan haben.“[4]

ʿIsma in der islamischen Theologie

Das Konzept der ʿIsma als Sündlosigkeit und Unfehlbarkeit von Personen ist im 8. Jahrhundert in den Kreisen der imamitischen Schia entwickelt worden. In diesen Kreisen ging man davon aus, dass der Imam als der göttlich eingesetzte Führer und Lehrer der Gemeinschaft vor Sünden geschützt (maʿṣūm) sein müsse und dementsprechend diese Eigenschaft besitzt. Das Dogma von der ʿIsma der Imame ist später sowohl in der Zwölfer-Schia als auch in der Ismāʿīlīya übernommen worden.

Anfang des 9. Jahrhunderts wurde dieses ʿIsma-Konzept in Kreisen der Muʿtazila zum ersten Mal auf die Propheten übertragen. Ein Muʿtazilit, von dem bekannt ist, dass er die Sündlosigkeit der Propheten lehrte, war an-Nazzām. In der Zeit von Abū l-Hasan al-Aschʿarī galt die Sündlosigkeit der Propheten bereits als die gemeinsame Lehre aller Muʿtaziliten.[5] Diese Lehre wurde auch von den Zwölfer-Schiiten übernommen. So meinte zum Beispiel der Zwölfer-Schiit asch-Scharīf al-Murtadā (st. 1044), der ein Buch über die Sündlosigkeit der Propheten und Imame abfasste, dass sie sowohl vor als auch nach ihrer Berufung vor Sünden geschützt seien.[6] In etwas abgeschwächter Form vertraten diese Lehre auch die Māturīditen. Sie ließen bei den Propheten nur kleinere Versehen (zallāt) zu.

Auf große Vorbehalte stieß die Lehre von der ʿIsma der Propheten dagegen bei all denjenigen Gruppen, die am literalen Sinn von Koran und Hadithen festhielten und dementsprechend auch die Berichte über Vergehen von Propheten in ihrer wörtlichen Bedeutung ernst nahmen. Hierzu gehörten insbesondere Hanbaliten und Karrāmiten.[7] Auch die Aschʿariten begegneten dieser Lehre mit großer Reserviertheit. So meinte beispielsweise al-Bāqillānī, eine solche ʿIsma könne höchstens bedeuten, dass die Propheten gegen absichtliches Lügen bei der Übermittlung der göttlichen Botschaft immun seien, alles andere habe keine rationale Grundlage. Sein etwas späterer Zeitgenosse ʿAbd al-Qāhir al-Baghdādī (st. 1037) glaubte dagegen schon einen Konsens unter den Aschʿariten darüber feststellen zu können, dass die Propheten nach ihrer Berufung gegen Sünden immun seien. Diese Auffassung hat sich allerdings in dieser Schule nie ganz durchgesetzt. Aschʿariten wie al-Dschuwainī (st. 1085) und al-Ghazālī gingen weiter davon aus, dass Propheten Sünden begehen können und deswegen auch Gott um Vergebung bitten müssen. Selbst Fachr ad-Din ar-Razi, der im späten 12. Jahrhundert in einer eigenen Abhandlung die ʿIsma der Propheten mit rationalen Argumenten verteidigte, relativierte diese, indem er vor ihrer Berufung große und nach ihrer Berufung kleine Sünden zuließ.[8]

Literatur

  • Tor Andrae: Die Person Muhammeds in Lehre und Glauben seiner Gemeinde. Stockholm 1918. S. 124–174.
  • Baber Johansen: „Der ʿiṣma-Begriff im hanafitischen Recht“ in La Signification du bas moyen âge dans l'histoire et la culture du monde musulman. Actes du 8e Congrès de l'Union Européenne des Arabisants et Islamisants, Aix en-Provence (1976). Aix en-Provence: Edisud 1978. S. 89–108. - Wiederabdruck in Baber Johansen: Contingency in a Sacred Law. Legal and Ethical Norms in the Muslim Fiqh. Leiden u. a. 1999. S. S. 238–262.
  • W. Madelung: Art. „ʿIṣma“ in The Encyclopaedia of Islam. New Edition Bd. IV, S. 182b–184a.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Johansen 242.
  2. Vgl. Johansen 248–253.
  3. Vgl. Tilman Nagel: Das islamische Recht. Eine Einführung. Westhofen 2001. S. 108f.
  4. Zit. Johansen 239.
  5. Vgl. Madelung 183a.
  6. Vgl. Madelung 182b.
  7. Vgl. Madelung 183b.
  8. Vgl. Madelung 183b.