Alas-Nacionales-Flug 301

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Alas-Nacionales-Flug 301
Birgenair tcgen.jpg

Die Unglücksmaschine am Flughafen Berlin-Schönefeld im Juli 1995

Unfall-Zusammenfassung
Unfallart Kontrollverlust
Ort 26 Kilometer nordöstlich von Puerto Plata,
Dominikanische Republik Dominikanische Republik
Datum 6. Februar 1996 (Ortszeit)
Todesopfer 189
Überlebende 0
Luftfahrzeug
Luftfahrzeugtyp Boeing 757-200
Betreiber Dominikanische Republik Alas Nacionales
Kennzeichen TC-GEN
Abflughafen Puerto Plata,
Dominikanische Republik Dominikanische Republik
1. Zwischenlandung Gander, Kanada Kanada
2. Zwischenlandung Berlin-Schönefeld,
Deutschland Deutschland
Zielflughafen Frankfurt,
Deutschland Deutschland
Passagiere 176
Besatzung 13
Listen von Flugunfällen

Auf dem Alas-Nacionales-Flug 301 (Flugnummer ALW301), auch bekannt als Birgenair-Flug 301, verunglückte am 6. Februar 1996 eine Boeing 757-200 kurz nach dem Start vom Flughafen Puerto Plata (Dominikanische Republik). Das im Auftrag der virtuellen dominikanischen Fluggesellschaft Alas Nacionales eingesetzte Flugzeug der türkischen Birgenair befand sich auf einem Charterflug von Puerto Plata über Gander (Neufundland, Kanada) und Berlin-Schönefeld nach Frankfurt. Die Maschine stürzte rund 26 Kilometer vor der dominikanischen Küste in den Atlantik, wobei alle 189 Insassen ums Leben kamen.

Es handelt sich damit um den schwersten Flugunfall in der Dominikanischen Republik sowie – zusammen mit American-Airlines-Flug 965 – um das schwerste Unglück einer Boeing 757. Insgesamt besaßen 167 Passagiere die deutsche Staatsbürgerschaft; damit handelt es sich um den Zwischenfall mit den meisten deutschen Opfern in der Geschichte der zivilen Luftfahrt.

Vorgeschichte

Im Jahr 1994 plante der deutsche Reiseveranstalter Öger Tours in Zusammenarbeit mit der türkischen Fluggesellschaft Birgenair, an der Öger Tours Beteiligungen besaß, preisgünstige Pauschalreisen in die Karibik anzubieten. Weil Birgenair jedoch als türkische Gesellschaft keine Streckenrechte zwischen Deutschland und der Dominikanischen Republik erhalten würde, wurde als dritter Partner das damals in Neu-Isenburg ansässige Ratioflug Luftfahrtunternehmen eingebunden. Ratioflug beantragte die erforderlichen Streckenrechte vom Bundesverkehrsministerium und erhielt eine entsprechende auf sechs Monate befristete Genehmigung zur Durchführung der Transatlantikflüge. Diese erfolgten mit geleasten Maschinen der Birgenair.[1]

Für die Wintersaison 1995/1996 strebten Öger Tours und Birgenair ein ähnliches Geschäftsmodell an. Kooperationspartner wurde diesmal die neu gegründete dominikanische Gesellschaft Alas Nacionales, die zwar ein Air Operator Certificate, jedoch keine Flugzeuge besaß. Alas Nacionales beantragte Streckenrechte für Flüge nach Deutschland, die dann mit Flugzeugen der Birgenair im Wet-Lease durchgeführt werden sollten. Den Anteilseignern der Alas Nacionales wurde im Gegenzug eine Prämie von zehn DM pro eingeflogenem Passagier in Aussicht gestellt. Nach dem Erhalt der Flugrechte wurde eine Boeing 767-200ER der Birgenair in die Dominikanische Republik überführt und dort am 25. Oktober 1995 mit dem Kennzeichen HI-660CA auf das Partnerunternehmen registriert.[1][2] Das offiziell an Alas Nacionales verleaste Flugzeug trug bis auf einen neuen Schriftzug weiterhin die Farben der türkischen Gesellschaft. Die IT-Charterflüge zwischen der Dominikanischen Republik und Deutschland begannen eine Woche später und wurden mit türkischen Besatzungen durchgeführt.[1]

Unabhängig davon hatte Birgenair im November 1995 eine Boeing 757-200 (TC-GEN) an die argentinische Staf Airlines vermietet und für diese auf fünf Flugpaaren zwischen der Dominikanischen Republik und Buenos Aires betrieben. Die Boeing 757 wurde nach Ende der Vermietung in Puerto Plata abgestellt.[1]

Wegen einer defekten Hydraulikpumpe musste die regulär genutzte Boeing 767-200ER am 6. Februar 1996 für den Flug ALW301 von Puerto Plata über Berlin-Schönefeld nach Frankfurt kurzfristig gegen die auf dem Vorfeld geparkte Boeing 757-200 ausgetauscht werden.[3][4] Diese Maschine hatte seit 20 Tagen unbenutzt in Puerto Plata gestanden.[1] Es wurde später vermutet, dass sich während der Standzeit eine Verstopfung in einer der Staudrucksonden gebildet hatte.

Der Geschwindigkeitsmesser im Cockpit benötigt zur korrekten Anzeige den Staudruck, der sich in dieser Sonde aufbaut (Pitot-Statik-System). Bei längerer Standzeit am Boden werden die kleinen Öffnungen der Staudrucksonden normalerweise abgedeckt, da sie beispielsweise durch Insekten oder Schmutz verstopft werden können. Diese Abdeckung soll unterblieben sein. Allerdings kann solch eine Verstopfung zum Beispiel auch durch Insekten während des Rollvorgangs verursacht werden.

Die eingesetzte Boeing 757-200 mit dem Kennzeichen TC-GEN war im Frühjahr 1985 werksneu an Eastern Air Lines ausgeliefert worden. Birgenair übernahm die Maschine im Jahr 1993[5] und vermietete sie noch im gleichen Jahr an Caribbean Airways.

Flugverlauf

Staudrucksonde zum Messen der Geschwindigkeit an einem Airbus A380
Gedenkstein für die Opfer in Puerto Plata auf Spanisch
Gedenkstein für die Opfer in Puerto Plata auf Deutsch
Gedenkstein bei der Dorfkirche Schönefeld
Gedenkstein für die Opfer auf dem Frankfurter Hauptfriedhof

Am 7. Februar 1996 um 03:42 Uhr UTC (6. Februar 1996 um 23:42 Uhr Ortszeit) begann die Boeing 757 mit ihrem Startlauf. Als das Flugzeug eine Geschwindigkeit von 80 Knoten (ca. 150 km/h) erreicht hatte und der Kopilot dies routinegemäß ausrief, bemerkte der Kapitän, dass sein Geschwindigkeitsmesser nicht funktionierte. Das Instrument des Kopiloten zeigte hingegen korrekte Werte an. Obwohl man die sogenannte Entscheidungsgeschwindigkeit für einen Startabbruch (V1) noch nicht erreicht hatte, entschied sich die Besatzung, den Startlauf fortzusetzen.

Kurz nach dem Abheben begann auch der Geschwindigkeitsmesser des Kapitäns zu arbeiten. Die Piloten schalteten den Autopiloten ein und wählten die entsprechenden Modi für den weiteren Steigflug. Wegen des teilweise verstopften Staudruckrohres zeigte das Instrument des Kapitäns jedoch eine wesentlich höhere Fluggeschwindigkeit an als tatsächlich vorlag. Während die Piloten versuchten, die Ursache für die falsche Anzeige des Kapitäns zu finden, erschienen auf dem EICAS-Monitor im Cockpit die Warnmeldungen Rudder Ratio und Mach Speed Trim. Beide deuteten auf Probleme mit abweichenden Geschwindigkeiten der beiden an Bord befindlichen Air-Data-Computer hin. Sie wurden durch die falschen Messdaten des linken Datenrechners ausgelöst, die auch die Geschwindigkeitsanzeige (Airspeed Indicator) des Kapitäns auf der linken Seite versorgten. Dies war den Piloten jedoch nicht bekannt. Birgenair benutzte als Handbuch zum Flugzeug die Originalunterlagen des Herstellers Boeing. Obwohl es in der Vergangenheit bereits verschiedene Vorfälle gegeben hatte und einige Airlines (darunter United und Delta) daraufhin ihre eigenen, betriebsinternen Handbücher geändert hatten, wurde durch den Wortlaut im Boeing-Handbuch kein gravierendes Problem als Ursache dieser Fehlermeldung genannt.

Während sich die Maschine weiterhin im Steigflug befand, wurde in einer Höhe von 6700 Fuß (ca. 2000 m) auf der Anzeige des Kapitäns eine Geschwindigkeit von 353 Knoten (ca. 650 km/h) angezeigt. Der mit diesen Daten gespeiste Autopilot und das automatische Schubregelsystem ergriffen nun Maßnahmen, um die vermeintlich zu hohe Geschwindigkeit zu korrigieren. Die Triebwerke wurden gedrosselt, und die Maschine vergrößerte ihren Anstellwinkel. Tatsächlich betrug die Geschwindigkeit zu diesem Zeitpunkt nur 199 Knoten (ca. 370 km/h). Diese Geschwindigkeit wurde auf der Anzeige des Kopiloten (rechts) angezeigt. Durch das Instrument des Kapitäns wurde nun eine Hochgeschwindigkeitswarnung ausgelöst (Overspeed-Warning), die vor einer vermeintlich zu großen Geschwindigkeit warnte. Fliegt ein Flugzeug zu schnell, besteht die Gefahr, dass wesentliche Teile der Struktur beschädigt werden oder sogar abreißen können. Zehn Sekunden später erfolgte dann der Stickshaker, ein Rütteln der Steuersäule, das die Piloten vor einem drohenden Strömungsabriss (Stall) warnen soll.

Die Piloten waren durch die gegensätzlichen Warnungen (Overspeed und Stick Shaker) binnen nur zehn Sekunden irritiert, zumal jede Warnung für sich genommen eine sofortige „Abhilfemaßnahme“ in entgegengesetzte Richtung erfordert. Bei einem Overspeed muss die Geschwindigkeit verringert werden, was durch das Hochnehmen der Flugzeugnase und Drosselung der Triebwerke unterstützt wird, wohingegen die Stall-Warning erfordert, dass die Nase gesenkt wird und man die Triebwerksleistung erhöht. Gemäß den Aufzeichnungen auf dem Stimmenrekorder und dem Flugdatenschreiber identifizierte der Kapitän die Overspeed-Warnung als falsche Warnung und versuchte in der Folge den bevorstehenden Strömungsabriss zu verhindern. Seine Abfangmanöver konterkarierend kam jedoch hinzu, dass sich der Autopilot erneut in das Geschehen einschaltete und durch automatisches Verstellen der Höhenruderflosse den kritischen Anstellwinkel wieder erhöhte. Einige Sekunden später erlitt das linke Triebwerk der Boeing einen Strömungsabriss (Triebwerksstall). Die Maschine rollte daraufhin über die linke Tragfläche auf den Kopf und prallte um 03:47:15 UTC auf die Meeresoberfläche.[6]

Alle 176 Passagiere und 13 Besatzungsmitglieder kamen bei dem Unglück ums Leben.

Unfalluntersuchung und Abschlussbericht

Der Absturz wurde von der zivilen Luftfahrtbehörde der Dominikanischen Republik, der Dirección General de Aeronáutica Civil, untersucht. Hier kam erschwerend hinzu, dass der zuständige Chefermittler Major Emanuel Souffront nur über rudimentäre Englischkenntnisse verfügte und vor allem auf die Unterstützung von Kollegen der US-amerikanischen Untersuchungsbehörde NTSB angewiesen war. Im Zuge der Untersuchung wurden einige schwerwiegende Fehler gemacht. So wurde etwa das Transkript des Stimmenrekorders in den Vereinigten Staaten vom Türkischen (die Besatzung sprach Türkisch) ins Englische übersetzt. Dabei wurden einige Übersetzungsfehler gemacht. Die englische Fassung wurde dann ins Spanische übersetzt (Landessprache in der Dominikanischen Republik). Verschiedene Aussagen wurden fälschlich dem Kapitän zugeschrieben, obwohl sie vom Ersten Offizier stammten.

Nach mehrfachen Verzögerungen bei der Abfassung des Untersuchungsberichts kam die Kommission zu folgendem Ergebnis:

„Die wahrscheinliche Unglücksursache lag in dem Unvermögen der Flugbesatzung, die Aktivierung des Stick Shaker als unmittelbare Warnung für den Übergang in den überzogenen Flugzustand zu erkennen, und der Unfähigkeit, die entsprechenden Verfahren zur Behebung dieses Flugzustandes durchzuführen. Vor der Warnung durch den Stick Shaker hatten eine fehlerhafte Anzeige des Anstiegs der Fluggeschwindigkeit und die Warnung für die Überschreitung der maximalen Geschwindigkeit zur Verwirrung der Besatzung geführt.“[7]

Kritik am Umgang mit den Angehörigen

Mit Unterstützung des NTSB wurde ein sehr großer Aufwand für die Bergung der Wrackteile, insbesondere des Cockpit Voice Recorders, betrieben. Die in über 2000 Meter Tiefe gelegenen Trümmer wurden zum Teil mit Hilfe von Tauchrobotern an die Oberfläche geholt. Man beschränkte sich dabei bewusst auf die Wrackteile und beförderte daher nur zufällig den persönlichen Besitz der Opfer sowie deren Überreste aus der Tiefe. Zwei Jahre nach der Katastrophe wurden auf einer Müllhalde in Puerto Plata zwischen den Wrackteilen, neben verfaulten Reisetaschen, sogar Leichenteile entdeckt.[8]

Die Katastrophe in den Medien

Der Unfall wurde in der kanadischen Fernsehserie Mayday – Alarm im Cockpit in der Episode Falscher Alarm (Staffel 5, Folge 8) aufgegriffen. In nachgestellten Szenen, Animationen sowie Interviews mit Ermittlern wurde über die Vorbereitungen, den Ablauf und die Hintergründe des Fluges berichtet.

Ähnliche Ereignisse

Literatur

  • Gutachten für die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main, Aktenzeichen 58 UJs 30369/96 vom Dezember 1998
  • Tim van Beveren: Runter kommen sie immer. Die verschwiegenen Risiken des Flugverkehrs. 6. Auflage. Campus, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-593-35688-0, S. 258.
  • Jan U. Hagen: Fatale Fehler – Oder warum Organisationen ein Fehlermanagement brauchen. 2., korrigierte Auflage. Springer Gabler, Berlin/Heidelberg 2017, ISBN 978-3-662-55484-5, Abschnitt Flug ALW 301: Chaos und Stille, S. 27–41 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c d e Die Zeit, Online-Archiv, Jahrgang 1996, Ausgabe 8 vom 16. Februar 1996, Seite 5, abgerufen am 30. Juli 2017
  2. JP airline-fleets international, Edition 1996/97
  3. independent.co.uk – Crash plane may not have been serviced (englisch) 10. Februar 1996
  4. Welt.DE: Das Birgenair-Unglück; Das Ende kam wie ein Blitz
  5. airfleets.net – Eintrag zur Boeing 757-200 mit dem Kennzeichen TC-GEN (englisch) abgerufen am 1. Juni 2011
  6. BFU Rekonstruktion von Birgenair Flug 301 (mit deutschen Kommentator) abgerufen am 11. Juli 2015
  7. Alexander Missal: Die Legende vom Billigflieger. In: Berliner Zeitung. 30. September 1999, abgerufen am 10. Juni 2015.
  8. Van Beveren, Tim und Hubacher, Simon: Flug Swissair 111 – Die Katastrophe von Halifax und ihre Folgen, WERD Verlag Zürich 2000

Koordinaten: 19° 53′ 45″ N, 70° 22′ 47″ W