Alexander Kerlin

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Alexander Kerlin (* 1980 in Gifhorn) ist ein deutscher Dramaturg. Von 2010 bis 2019 war er Dramaturg am Schauspiel Dortmund. In der Kritiker-Jahresumfrage des Fachmagazins Theater heute erhielt das Haus ab 2015 dreimal in Folge den zweiten Platz als Theater des Jahres im gesamten deutschsprachigen Raum. 2014 erhielt Kerlin für seine künstlerischen Verdienste den NRW-Förderpreis für junge Künstlerinnen und Künstler.

Alexander Kerlin ist Mitbegründer der Dortmunder Akademie für Theater und Digitalität, die 2019 ihre Arbeit aufgenommen hat.[1] Seit der Spielzeit 2019/20 ist er als Dramaturg festes Ensemblemitglied am Burgtheater in Wien.

Leben

Kerlin wurde 1980 in Gifhorn geboren und wuchs in Braunschweig auf. Nach seinem Zivildienst in Jerusalem studierte er anschließend Theaterwissenschaft, Wirtschaftswissenschaften sowie Psychologie in Erlangen und Bochum.[2] 2009 gründete er mit Bochumer Kommilitonen die Theatergruppe kainkollektiv, mit der er mehrere Theaterarbeiten und -projekte, vor allem in der freien Theaterszene Nordrhein-Westfalens, realisierte. 2013 trennte er sich wieder von der Gruppe.

Seit der Spielzeit 2010/2011 arbeitete Kerlin als Dramaturg am Schauspiel Dortmund, oft zusammen mit dem Regisseur und Intendanten Kay Voges. Dort gründete er 2011 zusammen mit Christoph Jöde den Dortmunder Sprechchor. Gemeinsam mit Voges schrieb er auch das DOGMA 20_13, das als "Dortmunder Manifest" eine engere Verzahnung zwischen Theater- und Filmwelten einfordert. Ebenfalls schrieb Kerlin gemeinsam mit Voges das Stück "Das Goldene Zeitalter – 100 Wege, dem Schicksal die Show zu stehlen" (2013), welches zum Heidelberger Stückemarkt 2014 eingeladen wurde. Für die Inszenierung "Elektra", die 2015 in der Regie von Paolo Magelli Premiere feiert, schrieb er eine eigene, neue Version des Elektra-Stoffes nach Euripides.

Im November 2014 erhielt Kerlin von der nordrhein-westfälischen Landesministerin Ute Schäfer den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für junge Künstlerinnen und Künstler. Die Jury schrieb in ihrer Laudatio, dass "seine Arbeit an den Schnittstellen von Theater und bildender Kunst, Computerwelten, Film – überhaupt von Kunst und Realität – wird noch viele an- und aufregende Ergebnisse bringen" werde. Kerlin kuratiere Reihen, nehme Impulse der Stadtgesellschaft auf und entwerfe in enger Zusammenarbeit mit Kay Voges neue Theaterformen.[3]

Das Stück Die Borderline Prozession (Regie: Kay Voges), das er zusammen mit Voges und Dirk Baumann verfasste, wurde 2017 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. In der Laudatio der Jury heißt es: "Borderline Prozession ist eine Reflexion über den Terror der gleichzeitigen Ereignisse, die wir uns süchtig permanent medial zuführen. Eine Meditation zur allgemeinen Weltverwirrung."[4] Mit dem Stück Das Internat (Regie: Ersan Mondtag), für das er gemeinsam mit Matthias Seier den Text schrieb, wurde er 2019 abermals zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Ebenfalls 2019 verfasste er gemeinsam mit Eva-Verena Müller und Kay Voges das Stück Die Parallelwelt, das simultan am Berliner Ensemble und am Schauspiel Dortmund aufgeführt wurde und erstmals zwei Bühnen per Glasfaser miteinander verband.[5]

Alexander Kerlin lebt mit seiner Frau und drei Töchtern in Wien.

Positionen

Kerlin arbeitet an klassischen Stoffen ebenso wie an experimentellen Stückentwicklungen, ausgefallen literarischen Vorlagen und ungewöhnlichen Formaten im Grenzbereich zur Performance, zur Bildenden Kunst und zum Film. So nahm das Stück Das Goldene Zeitalter beispielsweise Ästhetiken des Mashups und Samplings auf, eine Methode, die auch in der Burgtheater-Uraufführung von Dies Irae - Eine Endzeit-Oper im Dezember 2019 zur Anwendung kommt. In seinem nachtkritik.de-Essay "Der Bauschutt der Moderne" schreibt Kerlin:

„Theatermacher müssen klug und kontrastreich "Fremdtexte" in ihre Textlandschaften hineinstellen können, sich an Techniken des Mash-Up, Looping und Remix aus Musik und Bildender Kunst bedienen. Sie müssen genauso gut von hinten nach vorne erzählen können wie von vorne nach hinten, oder aus der Mitte heraus. Sie müssen Längen riskieren und ausufernde Wiederholungen. Sie müssen den Einsatz von Technik mitdenken, als dem Text ebenbürtig.“

Alexander Kerlin: Der Bauschutt der Moderne[6]

Die kanonischen Klassiker des Bildungsbürgertums seien im digitalen Zeitalter nicht mehr ohne Umwege darstellbar. Sie müssen sich aus der Deutungshoheit der Bildungsbürger und Germanisten, Verleger und Dramaturgen lösen. Anstatt in devoter Ehrfurcht vor dem Gesamtwerk zu erstarren, müssten sich gegenwärtige Theatermacher vielmehr die zentralen Gedanken aus den Stückvorlagen greifen anstatt sie mit vorgeschobenen Aktualisierungen auf die Bühne zu bringen:

„Der Zugriff auf die "Klassiker", über den Epochenbruch hinweg, wird tendenziell ein Vorgang des Zitierens werden und weniger des vollständigen Aneignens. [...] Wir werden Becketts brillante Gedanken zitieren, im Rahmen und unter den Vorgaben des Zitatrechts, in unseren Collagen, als Miniaturen. Sie gehören uns allen. Sie sich zu nehmen und neu zu verorten ist Teil der kommenden Kunstfreiheit, die längst angebrochen ist.“

Alexander Kerlin: Der Bauschutt der Moderne[7]

2017 mischte er sich mit einem Essay über den Wert der Kunstfreiheit in die Debatte um kulturpolitische Positionen rechtspopulistischer Denker wie den AfD-Politiker Marc Jongen ein:

„Auf die Frage, wo denn eigentlich die stramm rechten Künstler*innen seien, antwortet Jongen gelassen: "Sobald erste Strukturen an der Oberfläche da sind, dann trauen sich auch viele Akteure erst, sich zu outen oder sich zu bekennen, zu einem anderen Denken. Und dann kann es auch zu Kipp-Prozessen kommen." Wenn man das mit Björn Höckes Forderung nach einer "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad" zusammendenkt, wird einem Jongens romantische Ergriffenheit nicht sympathischer.“

Alexander Kerlin: Reservate der Unabhängigkeit[8]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Konferenz für Theater und Digitalität. Abgerufen am 7. Februar 2019 (deutsch).
  2. Biographie Kerlins am Theater Dortmund
  3. http://blog.schauspieldortmund.de/neues/die-aufforderung-weiterzumachen/ Die Aufforderung, weiterzumachen im Blog des Schauspiels Dortmund
  4. BORDERLINE PROZESSION GOES THEATERTREFFEN! In: Schauspiel Dortmund. (schauspieldortmund.de [abgerufen am 6. März 2017]).
  5. Dorothea Marcus, Esther Slevogt: Leben in der Quantentheorie. nachtkritik.de. Abgerufen am 3. Dezember 2019.
  6. Der Bauschutt der Moderne. nachtkritik.de. 16. Oktober 2014, abgerufen am 18. Dezember 2014.
  7. Der Bauschutt der Moderne. nachtkritik.de. 16. Oktober 2014, abgerufen am 18. Dezember 2014.
  8. http://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=13676:kunstfreiheit-der-dramaturg-alexander-kerlin&catid=101:debatte&Itemid=84