Anasyrma
Anasyrma (altgriechisch ἀνάσυρμα anásyrma, von
) bezeichnet das Entblößen des Genitals oder des Hinterns in einem kultisch-magischen Zusammenhang, insbesondere als apotropäische Handlung. So herrscht in den Mythologien zahlreicher Kulturkreise der Glaube vor, dass durch das selbstbestimmte Enthüllen der Vulva Unheil abgewendet werden kann.[1]
Mythologie und Geschichte
Das klassische Beispiel ist die Erzählung von Baubo, einer Einwohnerin von Eleusis, welche die von der Suche nach ihrer Tochter völlig erschöpfte Göttin Demeter bei sich aufnimmt. Alle Versuche, den Gast aus ihrer stumpfen Verzweiflung zu reißen, schlagen fehl. Da greift Baubo zu anderen Mitteln: sie geht und macht ihren Unterleib glatt und weich wie ein Kind (d. h. wohl, dass sie die Schambehaarung rasiert), dann kehrt sie zurück, beginnt Scherze zu treiben und deckt schließlich ihren glatten Unterleib auf, worauf die Göttin schallend lachen muss.[2]
Und Clemens von Alexandria zitiert aus den Orphika die entsprechende Stelle:[3]
Sprach’s und raffte empor die Gewänder und zeigte
die ganze Bildung des Leibs und schämte sich nicht.
Und der kleine Iakchos
Lachte und schlug mit der Hand der Baubo unter die Brüste.
Wie nun die Göttin dies merkte,
da lächelte gleich sie von Herzen,
Nahm dann das blanke Gefäß, in dem ihr der Mischtrank gereicht war.[4]
Arnobius bemerkt ausdrücklich, dass die Geste der Baubo als Parallele und Entsprechung zur Präsentation des Phallos im Kult des Dionysos zu sehen ist.
Ein weiteres bekanntes Beispiel des Anasyrma ist die von Herodot berichtete Entblößung der auf dem Nil zum Heiligtum der (von Herodot mit Artemis identifizierten) Bastet in Bubastis reisenden Frauen. Herodot erzählt, dass die sehr zahlreichen Pilger während der Reise sängen, in die Hände klatschen, die Männer die Flöte spielen und die Frauen mit den Sistren Lärm machen würden. Wenn sie aber an einer am Ufer gelegenen Stadt vorbeikämen, gehe man an Land, man tausche mit den Frauen der Stadt Neck- und Spottreden (Tothasmos) aus, und einige der Pilgerinnen würden das Gewand heben und sich so entblößen.[5]
Plutarch berichtet in seinen Moralia von den persischen Frauen im 6. Jahrhundert v. Chr., die ihren in einer Schlacht unter Kyros II. gegen die Meder besiegten und fliehenden Männern entgegentraten, ihre Röcke hoben und sprachen: „Wohin eilt ihr so rasch, ihr größten Feiglinge in der ganzen Welt? Denn sicher könnt ihr bei eurer Flucht nicht wieder hier hineinkriechen, von wo ihr herausgekommen seid.“ Die solcherart gedemütigten Perser sammelten ihre Kräfte, griffen den Feind erneut an und besiegten ihn.[6]
Aktionskunst
In der neueren Zeit wurde das Anasyrma als Stilmittel durch mehrere Aktionskünstlerinnen eingesetzt, so unter anderem 1969 durch Valie Export bei ihrer Performance Aktionshose: Genitalpanik und 2014 durch Deborah De Robertis bei ihrer Performance Miroir de lʼorigine im Musée d’Orsay in Paris.
Siehe auch
- Exhibitionismus
- Flashing, das öffentliche Entblößen der weiblichen Brüste
- Mooning, das öffentliche Entblößen des Hinterns
- Sheela-na-Gig, irisch-englische Steinreliefs weiblicher Figuren, die ihre Vulva präsentieren
Literatur
- Georges Devereux: Baubo. Die mythische Vulva (= Taschenbücher Syndikat EVA. Bd. 63). Aus dem Französischen übersetzt von Eva Moldenhauer. Syndikat, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-434-46063-2.
- Miroslav Marcovich: Demeter, Baubo, Iacchus, and a Redactor. In: Vigiliae Christianae. Bd. 40, Nr. 3, September 1986, S. 294–301, doi:10.1163/157007286X00130.
Weblinks
Flick Flack – Warum macht die Vulva Angst? Auf: Arte.tv
Einzelnachweise
- ↑ Die Vulva rettete die Welt, Taz (abgerufen am 5. Februar 2012)
- ↑ Arnobius, Adversus nationes 5,25–29
- ↑ Clemens, Protreptikus 20–21, auch Orphische Fragmente 52 (O. Kern: Orphicorum fragmenta. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1922.)
- ↑ Übersetzung von Otto Stählin aus: Des Clemens von Alexandreia ausgewählte Schriften. J. Kösel & F. Pustet, Kempten & München 1934. (BKV)
- ↑ Herodot, Historien 2,60
- ↑ Plutarch, Moralia – De Mulierum Virtutibus 5,246; Polyainos, Strategemata 7,45,2; Marcus Iunianus Iustinus, Epitoma historiarum Philippicarum 1,6