Andreas Gehrlach

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Andreas Gehrlach (* 1981) ist ein deutscher Kultur- und Literaturwissenschaftler. Seine Forschungsfelder sind Kulturen des Ökonomischen, Kulturwissenschaftliche Psychoanalyse, Macht- und Herrschaftsformen sowie literarische und politische Utopien.

Leben und Wirken

Nach dem Studium der Neuere deutschen Literatur, der Geschichte und der Anglistik an der Eberhard Karls Universität Tübingen hat Andreas Gehrlach am Institut für Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Seine Dissertation erschien 2015 unter dem Titel Diebe. Die heimliche Aneignung als Ursprungserzählung in Literatur, Philosophie und Mythos. Daraus entstand das an der Universität Tübingen angesiedelte DFG-Projekt Kulturgeschichte des Diebstahls, das er von 2013 bis 2018 gemeinsam mit Dorothee Kimmich gestaltete, das Forschungsprojekt "widmete sich kulturellen Vorbildern und mythischen und biblischen Ursprungsfiguren der Diebe, der Reflexion auf den Diebstahl in Autobiografien seit Augustinus und modernen sprach- und literaturtheoretischen Implikationen des Diebstahls".[1] Andreas Gehrlach arbeitet in einer genealogischen Analyse quer durch die Kulturgeschichte heraus, dass individuelle und kollektive Ursprungserzählungen oftmals einen Diebstahl im Zentrum haben.[2][3] Im Anschluss daran veröffentlichte er 2020 den Essay Das verschachtelte Ich. Individualräume des Eigentums in der Reihe Fröhliche Wissenschaft von Matthes & Seitz.[4][5] Darin zeigt er auf, dass neben der liberalen Eigentumskonzeption andere Besitzpraktiken aufzufinden sind, die sich auf wenige intime und persönliche Gegenstände beschränken, und daher nicht der kapitalistischen Akkumulationslogik folgen.[6][7] Beispiele von alternativen Besitzpraktiken finden sich in den verschiedensten Epochen. Ein anschauliches Beispiel aus vorkapitalistischer Zeit bietet der sogenannte Loculus, eine Tasche, die jeder Legionär des Römischen Reiches mit sich trug, in der die persönlichsten Güter aufbewahrt wurden.

Neben diesem Forschungsschwerpunkt zur kulturellen Dimension von Eigentumsstrukturen und Besitzpraktiken befasst sich Andreas Gehrlach mit reaktionären, gegen-aufklärerischen Diskursen und Politiken in Geschichte und Gegenwart.[8][9] Aktuell forscht er zu Körperpraktiken der Unterwerfung und des Widerstands, dabei untersucht er die Kultur- und Körpergeschichte des Niederkniens.[10] Eine zentrale Rolle in seinem Arbeiten spielen Denkansätze des philosophisch-anthropologischen Anarchismus wie u. a. von Pierre Clastres, James C. Scott, Ursula Le Guin und David Graeber.

Andreas Gehrlach ist seit 2016 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2019 gibt er gemeinsam mit Iris Därmann und Thomas Macho die Buchreihe Undisziplinierte Bücher heraus.[11] Er ist Veranstalter der Vortragsreihe Psychoanalytische Kulturwissenschaft, die seit 2019 am Institute for Cultural Inquiry (ICI) stattfindet.[12]

Schriften (Auswahl)

Monografien

  • Das verschachtelte Ich. Individualräume des Eigentums. Berlin (Matthes und Seitz) 2020.
  • Loculus – Mülkiyetin Bireysel Mekanları. Istanbul (Yort Kitap) 2021.
  • Diebe. Die heimliche Aneignung als Ursprungserzählung in Literatur, Philosophie und Mythos. Dissertationsschrift, Paderborn (Fink) 2016.

Sammelbände

  • Selbstbehältnisse. Hg. zus. mit Laura Busse u. Waldemar Isak. Neofelis, Berlin 2021.
  • Diebstahl! Zur Kulturgeschichte eines Gründungsmythos. Hg. zus. mit Dorothee Kimmich. Paderborn, Fink 2018.
  • Psychoanalytische Narrationen. Fallgeschichten, Novellen und Stundenprotokolle als Erkenntnisformen. Hg. zus. mit Christoph Braun u. Wilhelm Brüggen. Frankfurt a. M., Brandes u. Apsel 2017.
  • Dialektik des Mythos. Mythen und Mythoskritik in der freud’schen Psychoanalyse des Mythos. Hg. zus. mit Christoph Braun u. Wilhelm Brüggen. Frankfurt a. M., Brandes u. Apsel 2016.

Editionen

  • Pierre Clastres: Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie. Übers. v. Eva Moldenhauer. (Neuedition, hg. zus. mit Morten Paul.) Mit Nachwort, Forschungs- und Rezeptionsüberblick. Göttingen 2020 (Konstanz University Press), ISBN 978-3-8353-9121-5.

Aufsätze

  • Die Wünsche wunschloser ‚Wilder.‘ Hélène Clastres „Land ohne Übel.“ In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Ausgabe „Heil versprechen.“ Hg. v. Karin Harrasser, Insa Härtel, Carl-Josef Pazzini u. Sonja Witte. Münster 2020. S. 130–139.
  • Leben an den Rändern des Kapitalismus. In: „Das Argument. Ausgabe ‚Kritik der Aufklärung‘“. Hg. v. Jan Loheit u. a. Ausgabe 332. S. 201–215.
  • Vive la Différence! Wenn Linke und Rechte von Differenz reden, meinen sie nicht das gleiche. (Zusammen mit Jule Govrin.) Im Portal ‚geschichtedergegenwart.ch‘. (13. Juni 2018)
  • Die moderne Idee des Privateigentums und die altägyptische Utopie der Diebe. In: „Diebstahl! Zur Kulturgeschichte eines Gründungsmythos.“ Hg. v. Andreas Gehrlach u. Dorothee Kimmich. Paderborn 2018. S. 101–134.
  • Die Diebstähle der Schelme. Dem Enigma der Pikaros von der Seite ihrer Kriminalität begegnet. In: „Das Enigma des Pikaresken.“ Hg. v. Jens Elze. Heidelberg 2018. S. 49–68.
  • Louis Althussers Diebstahl eines Atom-U-Boots und der aleatorisch-lukrezianische Materialismus seines Spätwerks. In: „Psychoanalytische Narrationen: Fallgeschichten, Novellen und Stundenprotokolle als Erkenntnisformen.“ Hg. v. Christoph Braun, Wilhelm Brüggen u. Andreas Gehrlach. Frankfurt a. M. 2017. S. 99–118.
  • Die Macht, die im Schatten liegt. Elemente einer kynisch-performativen Philosophie der Wahrheitsverdunkelung. In: „Zeitschrift für Kulturphilosophie.“ Ausgabe 2/2016. Hg. v. Ralf Konersmann u. Dirk Westerkamp. S. 367–392.
  • Der Diebstahl statt der Mosestötung als Ursprungsverbrechen im Alten Testament. In: „Dialektik des Mythos. Mythen und Mythoskritik in der freud‘schen Psychoanalyse des Mythos.“ Hg. v. Christoph Braun, Wilhelm Brüggen u. Andreas Gehrlach. Frankfurt a. M. 2016. S. 195–217.
  • Teil des Problems, nicht der Lösung sein: ‚Herrschaft und Knechtschaft‘ als Figur der Identifikation und der Kritik der Institution in der Psychoanalyse. In: „Psychoanalyse der Institutionen – Institutionen der Psychoanalyse.“ Hg. v. Christoph Braun u. Wilhelm Brüggen. Frankfurt a. M. 2013. S. 88–110.
  • Augustinus’ Birnen, Rousseaus Äpfel. Diebstähle und ihre Bekenntnisse. In: „Das Geständnis und seine Instanzen. Zur Bedeutungsverschiebung des Geständnisses im Prozess der Moderne.“ Hg. v. Vrääth Öhner u. Eric Nordhausen. Berlin u. Wien 2011. S. 293–306.
  • Die Kontinuität des Inhumanen im Ethischen. In: „Fritz Langs ‚M – Eine Stadt sucht einen Mörder‘. Texte und Kontexte.“ Hg. v. Urs Büttner u. Christoph Bareither. Würzburg 2011. S. 103–114.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. DFG - GEPRIS - Kulturgeschichte des Diebstahls: Ein Gründungsmythos. Abgerufen am 2. September 2021 (deutsch).
  2. Afterhour #20 | Diebstahl. Abgerufen am 2. September 2021 (deutsch).
  3. Andreas Gehrlach: "Diebe" - Eva und der Apfelklau. Abgerufen am 2. September 2021 (deutsch).
  4. Das verschachtelte Ich. matthes-seitz-berlin.de, abgerufen am 2. September 2021.
  5. Das verschachtelte Ich, auf aesthetik.hu-berlin.de
  6. Andreas Gehrlach: "Das verschachtelte Ich" - Ich bin mehr als mein Besitz. Abgerufen am 2. September 2021 (deutsch).
  7. Thomas Wagner: »Am Ende wird der Kapitalismus ein Treppenwitz gewesen sein« (neues deutschland). Abgerufen am 2. September 2021.
  8. was macht die bewegung? In: Die Tageszeitung: taz. 17. Januar 2019, ISSN 0931-9085, S. 36 ePaper 12 Berlin (taz.de [abgerufen am 2. September 2021]).
  9. Andreas Gehrlach, Andreas Gehrlach: Vive la Différence! Wenn Linke und Rechte von #Differenz reden, meinen sie nicht das Gleiche – Geschichte der Gegenwart. Abgerufen am 2. September 2021 (deutsch).
  10. Forschung – Kulturwissenschaftliche Ästhetik und Kulturtheorie. Abgerufen am 2. September 2021 (deutsch).
  11. Undisziplinierte Bücher – Gegenwartsdiagnosen und ihre historischen Genealogien, auf degruyter.com
  12. Psychoanalytische KulturwissenschaftLecture Series 2021/22. In: ICI Berlin. Abgerufen am 2. September 2021 (amerikanisches Englisch).