Andrei Iwanowitsch Schingarjow

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Andrei Iwanowitsch Schingarjow

Andrei Iwanowitsch Schingarjow (russisch Андрей Иванович Шингарёв; * 18. Augustjul. / 30. August 1869greg. in Borowoje, Ujesd Woronesch; † 7. Januarjul. / 20. Januar 1918greg. in Petrograd) war ein russischer Arzt, Ökonom und Politiker.[1][2][3][4]

Leben

Schingarjows Eltern waren der Kaufmann Iwan Andrejewitsch Schingarjow und Sinaida Nikanorowna geborene Petrulina, Tochter eines adligen Gutsbesitzers. Schingarjow besuchte 1879–1886 die Woronescher Realschule. Nach einem Jahr Vorbereitung in Jelez absolvierte er die Zulassungsprüfung für das Universitätsstudium, so dass er 1887 das Studium an der Universität Moskau in der Abteilung für Naturkunde der physikalisch-mathematischen Fakultät begann. Er schloss das Studium 1891 ab und absolvierte dann noch ein Medizinstudium an der medizinischen Fakultät mit Abschluss 1894.[2]

1895–1897 praktizierte Schingarjow als Arzt. 1898 wurde er Semstwo-Arzt und leitete den Arztbezirk im Gouvernement Woronesch. 1903–1906 leitete er die Gesundheitsabteilung der Woronescher Gouvernementsverwaltung. Daneben redigierte er die Kadettenzeitung Woroneschskoje Slowo (1905–1907) und veröffentlichte im Retsch, in den Russkije wedomosti und in der Russkaja Mysl. Er war stimmberechtigter Abgeordneter der Semstwo-Versammlung des Ujesds Usman des Gouvernements Tambow. In seinem Buch über das sterbende Dorf prangerte er die sozialen Missstände an und warnte vor künftigen Erschütterungen.[5]

Schingarjow beteiligte sich an den revolutionären Unruhen 1905–1907 in Woronesch. 1905 gründete er in Woronesch eine Ortsgruppe der liberalen Union der Befreiung.[6] Er wurde 1907 von Woronesch in die II. Staatsduma und vom Gouvernement Woronesch in die III. Staatsduma sowie 1912 von St. Petersburg in die IV. Staatsduma gewählt. Er war Hauptredner der Kadettenfraktion für Finanzfragen. Er nahm am II. Kongress der Kadettenpartei teil und wurde 1907 Mitglied des Zentralkomitees der Kadetten (bis 1918). 1908 wurde er in die St. Petersburger Freimaurerloge Zum Polarstern aufgenommen, die von Maxim Maximowitsch Kowalewski geleitet wurde.[7]

Schingarjow entfaltete eine umfangreiche und vielfältige Lehrtätigkeit. So unterrichtete er an Feldscherschulen für Männer und Frauen in Woronesch und hielt Vorlesungen über die Arbeitsgesetzgebung und die betriebliche Hygiene am Polytechnischen Institut sowie über Medizin und Gesundheit bei den Höheren Kursen für Handel und Rechnungsführung Michail Wladimirowitsch Pobedinskis und am Klinischen Institut der Großfürstin Elena Pawlowna in St. Petersburg. Er hielt Vorträge über Fragen der Gesundheits-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in allen großen Städten des europäischen Russlands und im Ural. Schingarjow war Mitglied der Allrussischen Pirogow-Gesellschaft der Russischen Ärzte (1895–1917) und dort Mitglied verschiedener ständiger Kommissionen sowie Mitglied der Freien Ökonomischen Gesellschaft (1908–1915). Er förderte die Organisation von Gesundheitsausstellungen, so die Internationale Hygiene-Ausstellung Dresden 1911 und die Allrussische Ausstellung in St. Petersburg 1913.[2]

Während des Ersten Weltkriegs war Schingarjow 1915–1917 Vorsitzender der Marinekommission der Duma. Während der Februarrevolution 1917 leitete er die Ernährungskommission mit Vertretern des Provisorischen Komitees der Staatsduma und des Petrograder Sowjets. Er war einer der engsten Mitstreiter Pawel Nikolajewitsch Miljukows. Alexander Issajewitsch Solschenizyn beschrieb in seinem Buch Das rote Rad im 3. Kapitel des Dritten Knotens die schwierige Rolle Schingarjows. Im März 1917 wurde Schingarjow Landwirtschaftsminister der ersten Provisorischen Regierung unter Georgi Jewgenjewitsch Lwow[8] und initiierte das Getreidemonopolgesetz zur Sicherstellung der Versorgung. Wladimir Dmitrijewitsch Nabokow (Vater Vladimir Nabokovs) erinnerte sich, dass Schingarjow niemandem vertraute, alles selbst bearbeiten wollte und sich damit gesundheitlich überforderte.[9] Im Mai 1917 wurde Schingarjow Finanzminister in der ersten Provisorischen Koalitionsregierung als Nachfolger Michail Iwanowitsch Tereschtschenkos und führte die Kadettengruppe, während Wiktor Michailowitsch Tschernow neuer Landwirtschaftsminister wurde. Gegen den Widerstand der Unternehmer erhöhte er deutlich die Einkommensteuer. Im Juli 1917 beschloss das Zentralkomitee der Kadettenpartei, das geplante Abkommen mit der Zentralna Rada der Ukraine abzulehnen und die Provisorische Regierung zu verlassen, so dass Schingarjow als Finanzminister ausschied und Alexander Grigorjewitsch Chruschtschow das Amt übernahm. Schingarjow kandidierte für die Verfassunggebende Versammlung, wurde aber nicht gewählt.[10]

Nach der Oktoberrevolution wurde Schingarjow am 28. Novemberjul. / 11. Dezember 1917greg., dem Tag der geplanten Eröffnung der Verfassunggebenden Versammlung, auf Beschluss des Militärisch-revolutionären Komitees von Petrograd[11] als einer der Führer der Partei der Volksfeinde von den Bolschewiki im Haus der Gräfin Sofja Wladimirowna Panina verhaftet und in der Trubezkoi-Bastion der Peter-und-Paul-Festung festgesetzt.[12] Am 6. Januarjul. / 19. Januar 1918greg. wurde Schingarjow zusammen mit Fjodor Fjodorowitsch Kokoschkin aus Gesundheitsgründen in das Mariinski-Gefängniskrankenhaus verlegt. In der folgenden Nacht wurden Schingarjow und Kokoschkin dort von Wachsoldaten erschossen, die am Tage vorher von den Verwandten Geld für ihre Auslagen erbeten und erhalten hatten.[13] An der Beerdigung auf dem Friedhof des Alexander-Newski-Klosters nahmen mehrere Tausend Menschen teil. Die Mörder wurden nicht bestraft.[14][15]

Schingarjow war verheiratet mit der Lehrerin Jefrossinja Maximowna geborene Kulaschko (1873–1917), mit der er vier Kinder bekommen hatte. Schingarjows Schwester war die Ärztin und Mikrobiologin Alexandra Iwanowna Schingarjowa, die nach Schingarjows Tod dessen Kinder erzog.[2]

Einzelnachweise

  1. Chruschtschow A. G.: Андрей Иванович Шингарев: его жизнь и деятельность. Комитет по увековечению памяти Шингарева и Кокошкина, Moskau 1918 (narod.ru [abgerufen am 11. Dezember 2018]).
  2. a b c d SHINGAREV, ANDREI IVANOVICH Biography (abgerufen am 11. Dezember 2018).
  3. Игорь Архипов: А. И. Шингарев - "обходительный" либерал (abgerufen am 11. Dezember 2018).
  4. Большая российская энциклопедия: ШИНГАРЁВ Андрей Иванович (abgerufen am 11. Dezember 2018).
  5. Шингарев А.И.: Вымирающая деревня: Опыт санитарно-экономического исследования двух селений Воронежского уезда. Общественная польза, St. Petersburg 1907 (narod.ru [abgerufen am 11. Dezember 2018]).
  6. Российский либерализм: идеи и люди. 2. Auflage. Новое издательство, Moskau 2007, S. 718 (rusliberal.ru [PDF; abgerufen am 10. Dezember 2018]).
  7. Noteworthy members Of the Grand Orient of France in Russia and the Supreme Council of the Grand Orient of Russia’s People (abgerufen am 11. Dezember 2018).
  8. "The First Provisional Government" (Izvestiia, March 3 1917) (abgerufen am 11. Dezember 2018).
  9. Набоков В. Д.: Временное правительство. In: Архив русской революции: В 22 т. Т. 1. Moskau 1991.
  10. Протасов Л. Г.: Всероссийское Учредительное собрание: История рождения и гибели. РОССПЭН, Moskau 1997, S. 272.
  11. Декреты Советской власти. 1. Auflage. Государственное издательство политической литературы. Т. I, Moskau 1957, S. 162.
  12. Lindenmeyr, Adele: The First Soviet Political Trial: Countess Sofia Panina before the Petrograd Revolutionary Tribunal. In: The Russian Review,. Band 60, Nr. 10, 2001, S. 505–525, doi:10.1111/0036-0341.00188.
  13. Комитет по увековечению памяти Ф. Ф. Кокошкина и А. И. Шингарева: Как это было. Дневник А. И.Шингарева. 1. Auflage. Тов. И. И. Кушнерев и Ко, Moskau 1918, S. 67, 68.
  14. Шелохаев В.В.: Федор Федорович Кокошкин. In: Международный исторический журнал. Nr. 8, 2000.
  15. Figes O.: A People's Tragedy. Pinguin, 1998, ISBN 0-14-024364-X.