Toccata und Fuge d-Moll BWV 565

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Titelblatt der ältesten überlieferten Abschrift von Johannes Ringk (nach 1750)

Toccata und Fuge in d-Moll (BWV 565) ist wohl das mit Abstand bekannteste Orgelwerk europäischer Kunstmusik. Es wird traditionell Johann Sebastian Bach zugeschrieben, auch wenn dessen Autorschaft gelegentlich angezweifelt wurde. Die Komposition besteht aus drei Abschnitten: einer Toccata, also einem Präludium (Vorspiel) aus schnellen Läufen und vollgriffigen Akkorden, und einer sich anschließenden vierstimmigen Fuge, die ihrerseits in einen mit „Recitativo“ bezeichneten Schlussabschnitt mündet, der wieder den quasi improvisatorischen Charakter des Anfangs aufnimmt. Alle Teile sind durch deutliche motivische und harmonische Bezüge miteinander verbunden.

Musik

Anfangstakte der Toccata

Das Werk beginnt mit drei charakteristischen schnellen Rufen beider Hände in Oktaven; es folgt ein verminderter Septakkord über dem Orgelpunkt des Grundtons seiner Auflösung. Damit ist bereits das wesentliche melodische Material vorgestellt, aus dem sich der weitere Verlauf entwickelt. So wird der Septakkord immer wieder zur Gliederung schnellen Passagenwerks eingesetzt, und ähnlich bildet er in arpeggierter Form die Basis für die virtuosen Figuren, in denen immer beide Hände parallel geführt werden. „Verminderte Sept- und neapolitanische Sextakkorde bilden eine Kombination altertümlicher und moderner Harmonik, die für den jungen Bach geradezu charakteristisch erscheint.“[1]

Wichtiger noch ist das Element des von der Quint zum Leitton (siebte Stufe) absteigenden Tonleiterfragments, aus dem die meisten melodischen Vorgänge abgeleitet sind und ein Motiv, das die Töne eines Tonleitergangs mit einem gleichbleibenden, repetierten Liegetons abwechseln lässt – eine latent zweistimmige Satzweise, die in Violinliteratur häufig ist und dort als Bariolagetechnik bekannt ist.

Auch die Fuge entwickelt ihr Thema aus dieser Idee; ähnliche, latent zweistimmige Themen verwendete Bach auch in späteren Fugen, etwa in der e-Moll-Fuge des Wohltemperierten Klaviers (BWV 855). Das Thema ist zur Engführung nicht geeignet und wird konsequent auch eher locker durchgeführt: Schon die Exposition ist nur dreistimmig, auch später nehmen die Zwischenspiele einen breiten Raum ein, so dass das Schluss-Rezitativ, das wieder Elemente der Toccata aufnimmt, ganz organisch aus der Fuge hervorgeht. Wirklich vierstimmig ist sie nur an wenigen kurzen Stellen, und auf kontrapunktische Finessen wie Augmentation oder Umkehrung, die zum Beispiel in der Fuge in c-Moll BWV 871 auftreten, wird ganz verzichtet. Dem gegenüber steht ein sehr ambitionierter Tonartenplan; neben einem Comes (2. Themeneinsatz) auf der IV. Stufe treten auch Einsätze auf der III. und in der Molltonart der VII. Stufe auf, die Parallelen zur Fuge BWV 947 bilden.[2] Die Proportionierung nach vier Ritornellen und drei Episoden wird hervorgehoben durch streckenweisen Verzicht auf das Pedal, durch Einstimmigkeit und ein Pedalsolo – Mittel, die „sich in Bachs Schaffen nicht durchgesetzt [haben], sondern […] von anderen Techniken abgelöst worden“ sind.[3]

Stil

Beginn der ältesten überlieferten Abschrift von Johannes Ringk (nach 1750)

Toccata und Fuge d-Moll galt lange Zeit unbestritten als Werk von Johann Sebastian Bach. Das Werk wurde wohl zwischen 1703 und 1707 in Arnstadt geschrieben, stellt also ein Jugendwerk dar. Der Vergleich mit der wenig später entstandenen und deutlich reiferen C-Dur-Toccata zeigt Bachs schnelle Weiterentwicklung aber auch, dass er sich noch in einer Experimentierphase befand. Während im späteren Werk Bachs Parallelführungen der beiden Hände in Oktaven praktisch nicht mehr vorkommen, erklären sie sich hier zwanglos daraus, dass die kleine Arnstädter Orgel nicht über nach unten oktavierende 16'-Register verfügte – daneben aber wohl auch daraus, dass die Komposition ursprünglich für ein Saitenclavier mit Pedal geschrieben worden sein dürfte, dem traditionellen Übungsinstrument von Organisten.

Toccata und Fuge d-Moll sind auffällig stark auf Wirkung angelegt; dem steht eine zwar ausdrucksstarke, aber zumindest in der Toccata überraschend einfache Harmonik entgegen: Der wesentliche und immer wieder durchgespielte harmonische Vorgang ist der verminderte Septakkord der siebten Stufe und seine Auflösung; stellenweise tritt noch die zweite Stufe hinzu. Auch größere Modulationen bleiben in der Toccata aus. Andererseits nötigt die wohl bewusste Beschränkung und der sehr ökonomische Einsatz dieses Materials Bewunderung ab. Die Frische der Erfindung und die bezwingende Einfachheit der Konstruktion haben dem Werk schnell Freunde gemacht.

Bach verwendete die meisten seiner Cembalo- und Orgelwerke in Leipzig im Unterricht; so existieren oft Abschriften vieler seiner Schüler. Dabei nahm er selbstverständlich Werke aus, die er – Jahrzehnte nach ihrer Entstehung – nicht mehr für geeignet hielt; dies erklärt die vergleichsweise dünne Überlieferungslage vieler seiner Jugendwerke.[4] So ist auch die Toccata d-Moll nicht im Autograph, sondern nur in einer einzigen Abschrift des Kopisten Johannes Ringk überliefert.

Autorschaft

In den letzten Jahrzehnten wurden vermehrt Zweifel an Bachs Urheberschaft geäußert. Vor allem Peter Williams und später Rolf Dietrich Claus zeigen, dass die stilistischen Eigenarten stark den zweifelsfrei unter Bachs Namen überlieferten Werken widersprechen. So wurde auch vermutet, dass Bach hier ein fremdes Werk abschrieb oder bearbeitete. Als dessen möglicher Autor wurde Johann Peter Kellner vorgeschlagen.[5] Andere Theorien gehen davon aus, dass es sich um eine niedergeschriebene Improvisation Bachs handle oder dass das Werk eine Orgelbearbeitung einer Violinkomposition Bachs darstellen könnte.[6] Allerdings fehlen Hinweise auf eine Originalversion in dieser Besetzung und grundsätzlich stellt sich die Frage nach der Gattung von Toccata und Fuge für Violine. In jedem Fall wäre unverständlich, warum der Schreiber Ringk das Stück als ein Werk Bachs bezeichnet haben sollte.

Christoph Wolff[7] zeigt in seinen Studien, dass „die übrigen von Claus angeführten Kritikpunkte – Titel, Tempovorzeichnungen und Arpeggien – […] in Wirklichkeit als Spezifika früher Kompositionen Bachs gelten können“,[1] und deutet den Unisonobeginn als auskomponierte Suboktavkoppel für eine Orgel ohne Sechzehnfußregister im Manual. Ebenso spricht nach Wolff auch die Überlieferung des Werks aus dem Kreise Johann Peter Kellners nicht gegen Bachs Urheberschaft, sondern vielmehr dafür, weil viele von Bachs Jugendwerken aus diesem Kreis überliefert sind. Wird die Toccata und Fuge in d-Moll in diesem Kontext als ein Werk des jungen Johann Sebastian Bach angesehen, bildet sie innerhalb seines Werks „eine wichtige Zwischenstufe auf dem Weg zur Ritornellform späterer Fugen“.[3]

Viele Details und die hohe kompositorische Qualität sprechen aus heutiger Sicht stark für Bach als Autor und zeigen letztlich nur die Schwierigkeit, Bachs schnelle kompositorische Entwicklung in einer Phase zu erfassen, aus der nur wenige Vergleichswerke erhalten sind. Alte und Neue Bach-Ausgabe sowie das Bach-Werke-Verzeichnis führen sie als eine Komposition Bachs.

Wichtige Bearbeitungen

Rezeption in der Populärkultur

Vergleichbar wohl nur mit den ersten Takten der 5. Sinfonie von Ludwig van Beethoven, assoziiert heute schon ein auf der Orgel in einem halligen Raum in Oktaven gespielter Mordent reflexartig die d-Moll-Toccata und steht in der Populärkultur oft ikonographisch für „Ernsthaftigkeit“ und „sakrale Würde“. Das Werk wird häufig in Filmmusik und in zahlreichen Stücken der populären Musik bis hin zu Computerspielen zitiert.

Literatur

  • Timothy Albrecht: Musical Rhetoric in J.S. Bach’s Organ Toccata BWV 565. In: Organ Yearbook. Band 11, 1980, ISSN 0920-3192.
  • Eric Lewin Altschuler: Were Bach’s Toccata and Fugue BWV 565 and the Ciacconia from BCW 1004 Lute Pieces? In: The Musical Times. Band 146, Nr. 1893, 2005, ISSN 0027-4666, S. 77–87.
  • Bernhard Billeter: Bachs Toccata und Fuge d-moll für Orgel BWV 565 – Ein Cembalowerk? In: Die Musikforschung. Band 50, Nr. 1, 1997, ISSN 0027-4801, S. 77–80.
  • Martin Blindow: Zur Diskussion über die d-Moll-Toccata BWV 565. In: Acta Organologica. Bd. 36, 2019, S. 401–429.
  • Rolf Dietrich Claus: Zur Echtheit von Toccata und Fuge d-moll BWV 565. 2. Aufl. Dohr, Köln 1998, ISBN 3-925366-55-5.
  • Alfred Dürr: Authenticity of Johann Sebastian Bach’s ‚Toccata und Fuge d-moll BWV 565‘ – A comment. In: Musik und Kirche. Band 66, 5, September/Oktober, 1996, ISSN 0027-4771, S. 326–327.
  • Alfred Dürr: Toccata und Fuge d-moll BWV 565. In: Musikforschung. Band 56, 2, April/Juni, 2003, ISSN 0027-4801, S. 222–223.
  • Reinmar Emans: Zur Echtheit von Toccata und Fuge d-moll BWV 565. In: Die Musikforschung. Band 50, Nr. 1, 1997, ISSN 0027-4801, S. 113–114.
  • Diethard Hellmann: Authenticity of Bach, J.S. ‚Toccata und Fuge d-moll BWV 565‘. In: Musik und Kirche. Band 66, 3, Mai/Juni, 1996, ISSN 0027-4771, S. 173.
  • Siegbert Rampe (Hrsg.): Bachs Klavier- und Orgelwerke. Teilband 1. Laaber-Verlag, Laaber 2007, ISBN 978-3-89007-458-0, S. 362–367.
  • Peter Williams: BWV565: A toccata in D minor for organ by J. S. Bach? In: Early Music. Band 9, Nr. 3, Juli 1981, ISSN 0306-1078, S. 330–337.
  • Christoph Wolff: Johann Sebastian Bach. 2. Aufl. S. Fischer, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-596-16739-5.

Weblinks

Commons: Toccata und Fuge d-Moll BWV 565 – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b Siegbert Rampe (Hrsg.): Bachs Klavier- und Orgelwerke. Teilband 4/1. 2007, ISBN 978-3-89007-458-0, S. 364.
  2. Siegbert Rampe (Hrsg.): Bachs Klavier- und Orgelwerke. Teilband 4/1. 2007, ISBN 978-3-89007-458-0, S. 366.
  3. a b Siegbert Rampe (Hrsg.): Bachs Klavier- und Orgelwerke. Teilband 4/1. 2007, ISBN 978-3-89007-458-0, S. 367.
  4. Christoph Wolff: Johann Sebastian Bach, 2. Auflage 2007. S. Fischer, Frankfurt am Main, ISBN 978-3-596-16739-5
  5. Stephan Emele: BWV 565 – ein Werk von Kellner? (Staatsexamensarbeit). – Auszugsweise auch im Web.
  6. Peter Williams: BWV565: A toccata in D minor for organ by J.S.Bach? In: Early Music. 1981.
  7. Christoph Wolff: Zum norddeutschen Kontext der Orgelmusik des jugendlichen Bach: Das Scheinproblem der Toccata d-Moll BWV 565. In: Wolfgang Sandberger (Hrsg.): Bach, Lübeck und die norddeutsche Musiktradition. Kassel 2002. S. 241–251.