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Konzept

Mit der Dingsoziologie soll eine spezielle Soziologie etabliert werden, die sich mit der sozialen Bedeutung von Dingen beschäftigt. Die Dinge werden in diesem Zusammenhang in einem weiten Verständnis als alle Elemente der materiellen Welt verstanden. Im Zentrum der Dingsoziologie steht die Überzeugung, dass neben der Interaktion mit anderen Akteuren, die Dingwelt in entscheidender Weise das menschliche Handeln strukturiert.[1] Dieser Teilbereich der Soziologie nimmt Anregungen sowohl aus anderen Spezialsoziologien, als auch aus anderen wissenschafltichen Disziplinen auf: insbesondere aus Ethnologie, Sachkulturforschung, Techniksoziologie, Kulturtheorie und -soziologie sowie die Theorie der sozialen Praktiken bzw. Praxeologie auf.

Geschichte

Die Dinge haben in der Soziologie bislang zumeist eine Schattendasein geführt. Die Dinge sind häufig schon in grundlegenden Definitionen aus dem Gegenstandsbereichs ausgeschlossen. In Max Webers Definition von Soziologie heißt es, dass es sich um eine Wissenschaft handele, "welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will".[2] Seine Definition von sozialem Handel - "»Soziales« Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist"[3] macht deutlich, dass die Dinge in seiner Sichtweise nicht Gegenstand der Soziologie sind. Auch in der Systemtheorie von Niklas Luhmann sind Dinge in die Systemumwelt verbannt, da sie die fundamentalen Systemanforderungen - Information, Mitteilung und Verstehen - nicht erfüllen können.[4] Doch ungeachtet dessen, hat sich die Soziologie seit ihren Gründungsjahren mit der materiellen Welt und ihrer Bedeutung für das menschliche Handeln beschäftigt.[5] Für Émile Durkheim beispielsweise stabilisieren die Dinge soziale und gesellschaftliche Konstellationen[6]; sie sind typisch verfestigte oder kristallisierte Arten gesellschaftlichen Handelns.[7] Doch auch Durkheim trägt durch seine Aufforderung "Soziales durch Soziales zu erklären" zur Dingvergessenheit der Soziologie bei.

Seid der Jahrtausendwende wird verstärkt die Beschäftigung mit einer Dingsoziologie oder einer Soziologie der Dinge gefordert. Neben einer Ad-hoc-Gruppe[8] beim 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Trier werden an unterschiedlichen Universitäten im deutschsprachigen Raum Seminare zum Themengebiet angeboten.[9][10][11][12] Insbesondere die Wissens- und die Wissenschaftssoziologie haben sich verstärkt den Dingen als soziale Entitäten zugewendet und betonen ihre Rolle bei der Entstehung, Stabilisierung und Reproduktion von gesellschaftlichen Ordnungen und bei der Vergesellschaftung.[13]

Strömungen

Den Dingen wird in den Ansätzen dabei eine unterschiedlich große Rolle eingeräumt. Implizit finden sich die Dinge in vielen soziologischen Theorien. Dinge als Ausdruck von gesellschaftlichen Verhältnissen beispielsweise bei Karl Marx, Hans Linde,.... Eine größere Relevanz erhalten die Dinge im Zuge des practice turns in Rahmen der Praxeologie oder auch Theorie sozialer Praktiken. Als Gründungsväter dieser theoretischen Strömungen gelten Anthony Giddens, Pierre Bourdieu. Als Grundlage der praxeologischen Überlegungen Bourdieus gelten seine frühen Studien zur Kabylei. Darüber hinaus spielen Dinge als Kulturgüter wie Bücher, Kunstwerke aber auch Maschinen für Bourdieu eine Rolle: als objektiviertes kulturelles Kapital. Allerdings nimmt das implizite Wissen, über den Wert dieser Dinge, im Zuge des Habituskonzepts bei Bourdieu die zentrale Position in seiner Theorie ein. Im Anschluss an diese Sichtweise werden im Zuge der Praxeologie soziale Praktiken als inkorporiertes Wissen über den Umgang von Akteuren miteinander, aber eben auch von Akteuren mit Dingen verstanden.[14] Doch auch hier behalten die Dinge ihren sekundären Charakter und rücken weder in den Mittelpunkt des Interesses, noch in den Mittelpunkt der Analyse. In der kulturtheoretischen Sichtweise steht die Bedeutung der Dinge für die Gesellschaft im Zentrum der Überlegungen. Ihre Bedeutung erhalten die Dinge durch einen Prozess der Zuschreibung, der über den kompletten Lebenszyklus der Dinge - angefangen beim Herstellungsprozess über alle Phasen der Verwendung - nochvollzogen werden soll.[15] Die Fragerichtung ist hierbei allerdings, inwieweit der Umgang mit den Dingen sozial und kulturell strukturiert ist.[15]

Am weitesten geht die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die Netzwerke in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, die sich aus menschlichen Akteuren und nicht-menschlichen Aktanten zusammensetzen und die in dieser Sichtweise als gleichberechtigte Handlungspartner betrachtet werden sollen. Die Akteur-Netzwerk-Theorie betont Aspekt der Verhaltensregulierung durch in die Dinge "eingebaute" Normen und praktischen Verwendungsmöglich und -unmöglichkeiten (Affordance). Die am meisten verwendeten Beispiele sind hier der Berliner Schlüssel bei Bruno Latour[16], der seinem Benutzer zum Abschließen von Türen zwingt, die als "schlafender Garndarm" bezeichnete Bodenerhebung, die Autofahrer zur Dosselung der Geschwindigkeit veranlasst, aber auch der schwere Anhänger am Hotelschlüssel, der den Gast dazu bringen soll, den Schlüssel an der Rezeption abzugeben. Gemeinsam ist diesen Beispielen, dass die Dinge durch ihre Gestaltung ihren Benutzern eine bestimmte Handlungsweise aufzwingen und somit im Verständnis der ANT "mithandeln". Die symetrische Sichtweise der am Netzwerk Beteiligten ist ein theoretischer Schachzug, der nötigt ist, um die Auswirkungen der dinglichen Komponenten in Netzwerken in ausreichendem Maße zu berücksichtigen. Die Labor- und Science-Studies zeigen auf, dass sowohl kommunikative Strategien als eben auch die verwendetet Technologie, also die Dinge, bei der Erzeugung wissenschaftlichen Erkenntnissen eine wichtige Rolle spielen.[17]

Dinge als Grundlage von Sozialforschung

Auch in methodischer Hinsicht finden die Dinge Beachtung zum Beispiel im Methodenspektrum der qualitativen Sozialforschung. Im Rahmen von Artefaktanalysen werden Dinge als materialisierte Produkte menschlichen Handels verstanden. Sie sind zu Objekten gewordene sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Verhältnisse: Da die Dinge durch menschliche Aktivitiäten geschaffen wurden, können sie für diese stehen. Damit sind sie in der Lage, unabhängig von subjektiven Intentionen, über gesellschaftliche Strukturen zu geben.[18]

Literatur

Hans Linde: Sachdominanz in Sozialstrukturen. (= Gesellschaft und Wissenschaft 4). Mohr, Tübingen 1972, ISBN 3-16-533891-4.

Preda, Alex: The Turn to Things: Arguments for a Sociological Theory of Things, in: Vol. 40, No. 2 (Spring, 1999), pp. 347-366.

Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, mit einem Nachwort zur Studienausgabe 2006: Aktuelle Tendenzen der Kulturtheorien. 2. Auflage. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2008, ISBN 978-3-938808-20-7

Einzelnachweise

  1. Preda, Alex: The turn to things. Arguments for a Sociological Theory of Things. In: The Sociological Quarterly. Band 40, Nr. 2, 1999, S. 348.
  2. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. S. 1.
  3. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. In: Gesammelte Werke. S. 1403.
  4. Preda, Alex: The Turn to Things: Arguments for a Sociological Theory of Things. In: The Sociological Quarterly. Band 40, Nr. 2, 1999, S. 348.
  5. Matthias Wieser: Inmitten der Dinge. Zum Verhältnis von sozialen Praktiken und Artefakten. In: Hörning, Karl H. (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. transcript, Bielefeld 2004, S. 92.
  6. Häußling, Roger: Techniksoziologie. 1. Auflage. Utb., Baden-Baden 2014, S. 53.
  7. Durkheim, Émile: Die Regeln der soziologischen Methode.
  8. Dr. Anna-Lisa Müller: Ad-hoc-Gruppe "Zu einer Soziologie der Dinge". In: Ad-hoc-Veranstaltung. 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, abgerufen am 25. November 2016.
  9. Mensch und Ding. In: www.soziologie.phil.uni-erlangen.de. Abgerufen am 18. November 2016.
  10. Soziologie der Dinge. In: www.soziologie.phil.uni-erlangen.de. Abgerufen am 18. November 2016.
  11. Soziologie der Dinge und Objekte: Friedrich-Schiller-Universität Jena. In: friedolin.uni-jena.de. Abgerufen am 18. November 2016.
  12. Soziologie der Dinge. In: jogustine.uni-mainz.de. Johannes Gutenberg Universität, abgerufen am 18. November 2016.
  13. Preda, Alex: S. 349.
  14. Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive / Basic Elements of a Theory of Social Practices: A Perspective in Social Theory. Hrsg.: Zeitschrift für Soziologie. Vol. 32, No. 4, August 2003, S. 289.
  15. a b Hörning, Karl H.: Vom Umgang mit den Dingen. Eine techniksoziologische Zuspitzung.
  16. Latour, Bruno: Der Berliner Schlüssel. botopress, 2015.
  17. Latour, Bruno; Woolgar, Steve: Laboratory life. The construction on scientific facts. Princeton Univ. Press, Princeton, NJ 1986.
  18. Manfred Lueger: Grundlagen qualitativer Feldforschung. S. 141 ff.