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Architekturtheorie

Architekturtheorie bezeichnet das reflektierte Wissen über die Beziehung des Menschen zu seiner baugestaltlichen Umwelt, im umfassendsten Sinne also zu Bauwerken, Städten und Landschaften. Sie formuliert allgemeingültige, verbindliche Aussagen und Erkenntnisse über ästhetische Funktion und Wirkung des Gebauten, die die Grundlage bilden für Architekturschaffen und -kritik. Im engeren Sinne analysiert sie den Ausdruck der Bau- und Stadtgestalt und – auf der Nutzer- bzw. Betrachterseite – das Entstehen des baugestaltlichen Eindrucks. Architekturtheorie ist wichtiger Bestandteil der akademischen Architektenausbildung. Sie wird sowohl von Architekten selbst betrieben, als auch von Wissenschaftlern anderer Fachrichtungen, wie zum Beispiel Kunsthistorikern, Philosophen, Soziologen oder Psychologen.

Wenn im Folgenden von Bauwerk und Baugestalt die Rede ist, können die betreffenden Ausführungen sinngemäß auch auf Stadtgestalt und Landschaft übertragen werden.


Definitionen

Das Erkenntnisinteresse einer Architekturtheorie fokussiert auf der Objektseite den baugestaltlichen Ausdruck. Rudolf Arnheim charakterisiert den „visuelle(n) Ausdruck (als) ein unentbehrliches, in der Tat unausweichliches Attribut aller architektonischen Formen“. [1] Zu den visuell eingehenden Reizen und Informationen gehören auch „außer-gestaltliche“ Inhalte, Bedeutungen also jenseits dessen, was die 'Baugestalt an sich'[2] generiert. Der am Ende erzeugte Gesamteindruck berücksichtigt zudem den Input der anderen Sinne, die Umstände insgesamt, unter denen die subjektive Wahrnehmung abläuft. Das Architektonische im engeren Sinne stellt sich demnach dar als ein Kernbereich, der nur einen begrenzten Ausschnitt der Beziehung Mensch-Bauwerk abdeckt, aber in einer wechselseitigen Beziehung zu den anderen baulichen Funktionen steht, etwa zur Art und Weise, wie die Nutzflächen organisiert sind oder wie der Schutz vor Wind und Wetter ausgelegt ist. Das Erkenntnisinteresse einer Architekturtheorie im erweiterten Sinne geht insoweit über die Ästhetik der ‚Baugestalt an sich’ hinaus und richtet sich auch auf die Frage, wie und inwieweit die Baugestalt durch die anderen Funktionen (vor-)geprägt wird.


Wahrnehmung und Reaktion

Im Rahmen der Selbststeuerung [3] ergibt sich für den Menschen die Notwendigkeit, auch die bauliche Umwelt für sich zu beurteilen. Das Urteil schließt die Wahrnehmung ab. In diesen Prozessen treffen die eingehenden Reize auf referenzielle Vorstellungen, anhand dessen die Objektwelt identifiziert und qualifiziert wird.[4] Das Urteil ist Basis der Entscheidung über entsprechende Reaktionen. Denken, Fühlen, Handeln des Rezipienten werden insoweit neu ausgerichtet. Die Steuerungsvorgänge des Selbst verlaufen überwiegend intuitiv. Ratio kann sich nur begrenzt verwirklichen.

Die gebaute Umwelt als vielschichtiger Lebensbereich ist Quelle multipler Wahrnehmungen. Die architektonische Ästhetik[5] umschreibt denjenigen Ausschnitt aus der Wahrnehmung, der die Baugestalt fokussiert. Das Urteil und die daraus resultierenden Empfindungen, die die anderen baulichen Funktionen erzeugen, werden in die intuitiven Entscheidungsprozesse über den baugestaltlichen Eindruck einbezogen, ohne dass diese ästhetischen Dimensionen dem Architektonischen zugeordnet wären. Die Grundrissverhältnisse, die Haustechnik, die Bauphysik beispielsweise sind nicht Bestandteil des Architektonischen im engeren Sinne, obwohl sich die hier generierten Empfindungen auf indirektem Wege im Urteil über die Baugestalt abbilden.[6] Die verschiedenen Teileindrücke, die hier entstehen, werden in den neuronalen Prozessen [7] gewichtet und zum gestaltlichen Gesamteindruck verrechnet, zum Bild des Hauses. Die Architekturtheorie muss sie daher als die situativen Bedingungen der Wahrnehmung berücksichtigen.


Die Entstehung des architektonischen Gesamteindrucks

Der Gesamteindruck entsteht in komplexen neuronalen Prozessen [8], die in der Regel nicht oder nur teilweise bewusst werden. Im generierten Bild verbindet sich die Baugestalt mit ihren Bedeutungen. Ein erster intuitiver Eindruck entsteht unverzüglich im Augenblick des sinnlichen Wahrnehmens. Die gerade präsenten Vorstellungen finden Eingang bei Erkennen und Urteil. Im Nachgang kann der erste Eindruck reflektiert und eventuell auf eine etwas rationalere Basis gestellt werden. [9]

Das Entstehen eines Gesamteindrucks bedingt angesichts der Vielzahl der eingehenden Reize und Informationen eine Relativierung der baulichen ‚Gestalt an sich’. Die Funktion des Bauwerks als Medium in der sozialen Interaktion dominiert die neuronalen Prozesse und den Gesamteindruck. Die herausragende Bedeutung, die die menschliche Evolution der Steuerung des sozialen Verhaltens zuwies, zeigt sich in den zerebralen Strukturen. Das lenkende Gehirn bedient sich eines Belohnungs- und Motivationssystems, um Bedürfnisse und Erwartungen in Verhalten umzusetzen.[10] Deren Befriedigung bzw. Erfüllung wird mit Glücks- und Lustgefühlen belohnt. Die Vorstellungswelt ändert sich entsprechend. Über das Hineinversetzen[11] erfährt die Baugestalt einen Bonus durch die positiven Signale aus der Sphäre des Sozialen, die über das Bauwerk kommuniziert werden. Die Baugestalt erscheint ansprechender und schöner. Wenn sie umgekehrt Signale der Fremdheiteit und Ausgrenzung zum Ausdruck bringt, verliert auch das Bauwerk an Gefallen. Es spricht negativ an, wirkt befremdlich und hässlich.

Auch die Sinnestätigkeit wird durch die Erwartung oder Nicht-Erwartung von Belohnungen gesteuert. Das (Teil-)Urteil über Form und Farbe hängt von der Ausprägung der entsprechenden Vorstellungen ab.


Die Funktion des Architektonischen

Die Bau- und Stadtgestalt dient Betrachtern oder Nutzern als Projektionsfläche und Medium:

    • Die ‚Baugestalt an sich’ erfährt über das Hineinversetzen des Rezipienten ihren Ausdruck. Referenzielle Vorstellungen über Form und Farbe einschließlich ihrer Beziehungen untereinander und zum Ganzen werden auf die Baugestalt projiziert. Je nach Antwort generiert das neuronale System einen positiven, negativen oder auch indifferenten (Teil-)Eindruck.
    • Die Baugestalt ist Träger von Informationen, die im Rahmen der sozialen Interaktion von Bedeutung sind. Die Gestalt bringt Vorstellungen zum Ausdruck, die bestimmten Individuen oder Milieus zugeordnet werden. Der Rezipient interpretiert sie je nachdem als Signale sozialer Zugehörigkeit und fühlt sich anerkannt. Im gegenteiligen Fall reagiert er befremdet und sieht sich ausgegrenzt.
    • Architekt und Bauherr können der Baugestalt eine Botschaft aufmodulieren. Der Betrachter erfährt unter bestimmten Voraussetzungen (Verständlichkeit der Sprache) [12] Informationen über die Vorstellungswelt der Schaffenden. Sein Urteil fällt oft intuitiv. Auf der bewussten Ebene fehlen Informationen und verhindern das Verstehen. Die Bereitschaft zu lernen ist gefordert. Verbale oder schriftliche Erläuterungen des Schaffenden zu seinem Werk und dem ihm zugrunde gelegten Programm erleichtern Erkennen und Qualifikation.
    • Im Laufe seiner Existenz verbindet sich die Baugestalt mit individuellen und gesellschaftlichen Erlebnissen, kulturellen Ereignissen usw. Je nach Wertung dieser Ereignisse erfährt das Bild des Bauwerks einen Bonus oder einen Malus. Soziale Bezüge stehen wiederum im Vordergrund.
    • Die raumbegrenzenden oder -indizierenden Bauteile und Gestaltelemente dienen der Orientierung des Menschen im Raum.


Referenzielle architektonische Vorstellungen

Von zentraler Bedeutung für die Art und Weise, wie der Mensch sich und seine Beziehung zur Umwelt erlebt, ist die Vorstellungswelt.[13] In der Urteilsfindung repräsentiert sie den Organismus[14], bestehend aus Körper und Geist. Sie umfasst neben den referenziellen Mustern, die das Erkennen ermöglichen, die Bedeutungen, die den Dingen zugeordnet sind. Die Vorstellungswelt fungiert als Maßstab, mittels dessen das Selbst die Objektwelt beurteilt. Sie definiert Bedürfnisse, Erwartungen, Soll-Werte, die der Organismus erfüllt sehen möchte. Ihre Ausprägung erfuhr sie im Verlauf der menschlichen Evolution. Dieses genetische Erbe wird überformt durch biografische Erfahrungen. Durch die Aneignung von Wissen kann Ratio in gewissem Maße Einfluss auf die Vorstellungswelt nehmen.

Die ‚Baugestalt an sich’

Der Begriff der ‚Baugestalt an sich’ abstrahiert von den Bedeutungen, die ein Bauwerk als Medium vermittelt (siehe oben). In der Wahrnehmung wird sie als ein Ganzes oder ein System gesehen, das aus einer gewissen Anzahl von Gestaltelementen besteht, die über den Raum untereinander und zum Ganzen in Beziehung stehen. [15] Konstituierend sind Form und Farbe. Die Analyse der ‚Baugestalt an sich’ kann sich je nach Betrachterintention über mehrere Stufen zwischen einer Mikro- und einer Makroebene bewegen. Was das Ganze, was seine Teile sind, definiert sich auf jeder Stufe neu.

Raum

Damit der Raum überhaupt erfahrbar wird, bedarf es entsprechender begrenzender oder indizierender Objekte. Sie konstituieren ihn wahrnehmungsmäßig und tragen als Gestaltelemente unterschiedlicher Form und Farbe zum Eindruck bei. Grundlegend wird Raum „als das Gegebene erfahren, [...] in dem jedes Ding seinen Platz findet“, so R. Arnheim. „Erst durch eine bestimmte Konstellation natürlicher und künstlicher Objekte wird Raum geschaffen.“[16] Rezipienten und Nutzer reagieren mit positiven, anerkennenden Empfindungen, wenn er ihre Erwartungen erfüllt. Er gewinnt Schönheit. Betrachter und Nutzer identifizieren sich mit Raum und Ort.

Basis des räumlichen Ausdrucks sind seine Dimensionen, die Ausdehnung in der Ebene und in der Höhe, und der Grad der visuellen Geschlossenheit bzw. Offenheit. Als visueller Raum kommt er den Intentionen des Auges entgegen, wenn die ihn konstituierenden Gestaltelemente den Blick leiten, ihm ein Schweifen in der Horizontalen und ein Aufschwingen in die Höhe erlauben. Die Ausformung der begrenzenden Bauteile kann den Blick gefangen halten oder in seinem Bewegungsdrang behindern. Harte Richtungsänderungen, abrupt endende und blockierende Gestaltelemente stehen den Intentionen des Auges entgegen und erzeugen einen negativen Eindruck. Der visuelle Sinn trachtet nach Abschätzung räumlicher Distanzen, nach Dreidimensionalität und Raumtiefe, nach der Plastizität einer Gestalt.

Orientierung prägt als Hintergrundgefühl (Priming) den Raumeindruck. Die Lichtverhältnisse können Hilfe bieten. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die hellen Zonen. Auch Lage und Ausgestaltung von Ausgängen dienen der Orientierung und strukturieren die Bewegungen im Raum.

(Innen-)Räume beziehen ihren Ausdruck verstärkt aus der Projektion körper-orientierter Vorstellungen. Das Subjekt möchte einen gewissen Bewegungsraum und gewisse Sozialabstände gewahrt sehen. Insbesondere nach oben, zur Decke hin, wird ein ausreichender Abstand erwartet. Die Vermeidung von Blickblockaden in Innenräumen durch deren barrierefreie Öffnung ins Freie oder in angrenzende Innenräume kommt dem Sehsinn entgegen und hebt den Eindruck.

Grundsätzlich ordnet die Vorstellungswelt den Raum egozentriert in ein Vorne und Hinten, ein Oben und Unten. Die topologischen Verhältnisse erzeugen spezifische Bedeutungen.

Als Zwischenraum, der die Gestaltelemente voneinander trennt, kann Raum intervenierend in deren Beziehungsgeflecht eingreifen. Er kann dynamischen Intentionen der Elemente Platz geben, und er entscheidet über Nähe oder Distanz. Positive wie negative Gestaltelementziehungen werden je nachdem abgeschwächt oder verstärkt.

Die Baugestalt: Form und Farbe

Form und Farbe sind die konstituierenden Elemente der Baugestalt. Sie stehen in einer wechselseitigen Beziehung untereinander und zum Ganzen. Die Beziehung verläuft über den Raum. Eine in besonderer Weise qualifizierte Gestalt mutiert zur Figur. Sie erleichtert Identifizierung und Qualifizierung und gewinnt damit einen eindrücklichen Bonus in den neuronalen Entscheidungsprozessen.

Form

Die bauliche Form konstituiert sich aus linienhaften, flächigen und körperlichen Komponenten. Im Wege des Hineinversetzens gewinnen sie je nach Ausprägung spezifische Bedeutung für den Betrachter.

Linien, Geraden, Kanten, Ecken erfahren besondere Beachtung durch das Auge-Gehirn-System. Ihnen entlang sucht der Blick seinen Weg, sie fungieren als Abschlusselemente von Flächen und Körpern, sind als Orte des Übergangs von besonderem Interesse.

Flächen können unter anderem nach ihrer Lage, Neigung und ihrem Umriss unterschieden werden. Sie erscheinen leer, wenn sie unstrukturiert sind und wenn auch die Ränder keine Kraft entwickeln, in die Fläche hineinzuwirken. Generell widmet die Wahrnehmung der Fläche weniger Aufmerksamkeit.

Der Ausdruck des Baukörpers wird vor allem von der Art und Weise bestimmt, wie er gegliedert ist und wie die Ecken ausgebildet sind. Generell bereitet der (Bau-)Körper Schwierigkeiten, ihn in seiner Dreidimensionalität zu erfassen. Um den skulpturalen Ausdruck zu ergründen, müssen regelmäßig mit Hilfe des Gedächtnisses mehrere Perspektiven kombiniert werden. Im täglichen Erleben ist ein Umrunden des Bauwerks oft nicht möglich, und so vertreten Bauteile, die im Blickfeld liegen und auf einen Blick zu erfassen sind, das Ganze. Die Wahrnehmung neigt dazu, das Einzelne für das Ganze zu nehmen.

Farbe

„Farbe ist grundsätzlich eine Konstruktion des Gehirns“, so Erhard Oeser, den Neurologen Zeki zitierend.[17] Farben entstehen rein intuitiv, und auch in der Bedeutungszumessung kommen überwiegend unterbewusste Vorstellungen zum Zuge. Die intuitive Klassifizierung als warme oder kalte Farbe beispielsweise folgt archaischen Konditionierungen. Aber die farbliche Vorstellungswelt kennt auch Überprägungen durch kulturgeschichtliche Einflüsse, durch autobiografische Erfahrungen und erworbenes Wissen. Dem Urteil folgen entsprechende körper- und gefühlsbezogene Reaktionen.

Materialität

In der Architektur verantwortet das Baumaterial einen großen Teil des Ausdrucks. Als integrierte Kategorie vereinigt es die beiden Grundkategorien Form und Farbe. Jedem Material werden besondere Eigenschaften (Bedeutungen) zugesprochen. Es wird anhand seiner Oberflächenstruktur (Plastizität, Flächigkeit, Textur, Farbe) identifiziert. Ihm wird damit unter anderem ein Anschauungsgewicht zugeordnet, das dem dynamischen System innerhalb der Fläche oder des Körpers ihren Charakter verleiht.

Baugestaltliche Relationen – Das Wechselspiel der Teile

Von ausschlaggebender Bedeutung für den Ausdruck der Baugestalt sind Art und Weise, wie die Teile untereinander und zum Ganzen in Beziehung stehen. Das ganze Spektrum der Selbst-Vorstellungen wird hier virulent, Normen und Werte aus den Sphären der leiblichen Verhältnisse, aus denen des psychischen und sozialen Lebens werden auf Bauwerk und Ensemble projiziert. Die Eigenschaften des Beziehungsgeflechtes bestimmen den Zusammenhalt der Gestalt, das heißt ihre figuralen Qualitäten.

Gegensätzliche Gestaltelemente erzeugen Spannung, widersprüchliche Beziehungen gefährden Zusammenhalt oder Stabilität des Baukörpers, der damit ängstigend und befremdlich wirkt. Er gewinnt aber Aufmerksamkeit.

Die Tektonik, das Gefüge der lastenden und tragenden Bauteile, soll der referenziellen Vorstellungswelt gemäß in einem adäquaten Verhältnis stehen. Lasten entwickeln Dynamik entlang der Senkrechten. Eine gleichmäßige Verteilung um die senkrechte Achse erweckt den Eindruck von Stabilität. Symmetrie wird ästhetisch als harmonisch goutiert.

Die Architektur kennt eine Vielzahl von relationalen Kategorien und Mustern, beispielsweise die Bauteildimensionen, Rasterung, Schichtung und Reihung. Sie bringen verschiedene Bedeutungen zum Ausdruck. Über- und Unterordnung (Hierarchien) werden auf die Beziehungen der Baugestaltelemente projiziert.

Neben der qualitativen Ebene spielen auch Quantitäten eine Rolle. Aus dem Bedürfnis nach Informationen einerseits und der begrenzten Verarbeitungskapazität der Wahrnehmung andrerseits resultiert ein gewisses Quantum an erwünschten Elementbeziehungen, dessen Unter- wie Überschreitung den Betrachter langweilt beziehungsweise überfordert.

Die Baugestalt als Medium

Der Ausdruck der ‚Baugestalt an sich’ allein erklärt den Eindruck von Bauwerk, Ensemble, Stadt, also das Bild, das sich Betrachter und Nutzer machen, nicht hinlänglich. Aus der medialen Funktion des Bauwerks resultieren weitere (Teil-)Urteile, die den gestaltlichen Gesamteindruck mitbestimmen. Die Urteile variieren nach Nutzer und Betrachter sowie nach den jeweiligen Randbedingungen der Wahrnehmung. Als Teileindrücke überformen sie das Bild der ‚Baugestalt an sich’. Das Gehirn verrechnet die verschiedenen Urteile zum Gesamtbild, das dann die entsprechenden Reaktionen auslöst. Das psychische Sanktionssystems wertet je nach (Teil-)Urteil die Baugestalt auf, oder sie erfährt einen Malus. Das Bild ändert seine Qualitäten: Es verschönert sich – oder es wendet sich ins Hässliche.

Das künstlerische Programm

Architekt und Bauherr legen ihrem Werk eine Botschaft zugrunde. Selten ist sie explizit formuliert, am ehesten noch in der „gehobenen“ Architektur. Die Alltags- und Gebrauchsarchitektur überlässt ihr Programm dem Intuitiven. Die Bedeutung des architektonischen Ausdrucks wird hier im Sinne eines "verkürzten" Funktionalismus’ oft gering geschätzt oder gar ignoriert. Auf Seiten der Rezipienten wird die Botschaft ebenfalls überwiegend intuitiv erfasst. Die intellektuelle Reflexion versucht, die Baugestalt in Hinblick auf ein künstlerisches Programm zu lesen und zu verstehen, ist aber aufgrund des begrenzten Ausdrucksvermögens der ‚Baugestalt an sich’ regelmäßig auf außergestaltliche Kommunikationsweisen, beispielsweise literarische ,angewiesen, um die Botschaft kennenzulernen. Kennenlernen wird erforderlich, wenn das präsente Wissen für spontanes Erkennen, Werten, Verstehen nicht ausreicht. Dem Betrachter verlangt es einige Mühe ab. Die programmatischen Inhalte treffen auf Akzeptanz, Ablehnung oder Indifferenz.

Soziale Symbolik

Ausweislich auch der cerebralen Strukturen kommt den sozialen Belangen der menschlichen Existenz besondere Bedeutung zu. Die Baugestalt dient als Medium, über das sich Individuen, Gruppen, Milieus untereinander verständigen. Sie ist „konstitutives ‚Medium’ der Vergesellschaftung“.[18] Soziale Verhaltensweisen, der Drang nach Anerkennung und Dazugehörigkeit etwa, dominiert Denken, Fühlen, Verhalten.[19] Zu erkennen, welche Bedeutung der Andere oder Fremde für die eigene Person hat, wird als existenziell erlebt. Signalisiert die Baugestalt Zugehörigkeit zu und Anerkennung von den gesellschaftlichen Kreisen, die der Rezipient für sich als maßgeblich betrachtet, fühlt er sich in positiver Weise angesprochen. In den psychischen Prozessen werden die generierten Gefühle der Freude oder des Glücks der Baugestalt gutgeschrieben, und zwar mit einer Nachdrücklichkeit, die den sozialen Belangen – im Vergleich zu den gestaltlichen Vorstellungen etwa – eigen ist. Umgekehrt erscheint die Baugestalt befremdlich und hässlich, wenn die Gestaltsprache von Milieus kündet, von denen der Rezipient sich abgegrenzt oder von denen er ausgegrenzt wird.

Erinnerungen

Ein Gebäude oder ein Ort wird im Laufe seiner Existenz zum Träger von Erinnerungen. Die Menschen verbinden allgemeine geschichtliche Ereignisse und individuelle Erlebnisse und Erfahrungen mit ihnen. Sie sind Teil des Denkmalwertes, der einem baulichen Objekt zukommt, wenn es kulturell entsprechend relevant ist. Je nach Gegenstand schwankt das Urteil über eine Erinnerung zwischen Zuspruch und Abgelehnung. Je nachdem identifizieren sich Nutzer oder Betrachter mit dem Bauwerk oder sie lehnen es ab. Der Erinnerungswert macht Baugestalt und Ort einprägsam und unverwechselbar.[20]

Randbedingungen der Wahrnehmung

Die Entstehung des baugestaltlichen Gesamteindrucks wird durch die Umstände, denen der Rezipient ausgesetzt ist, mitbestimmt. Die Randbedingungen schaffen einen Hintergrund, der den Rezipienten positiv oder negativ einstimmt und die Beurteilung der Baugestalt entsprechend lenkt (Priming).

Zweckmäßigkeit

Indem ein Gebäude den Bedürfnissen oder Anforderungen an seine Nutzung entgegenkommt, wertet es auch das Bild von der Baugestalt auf. Ein funktionaler Grundriss, eine Haustechnik und eine Bauphysik, die eine angenehme Aufenthaltsqualität sichern, prägen das Erleben und schaffen ein emotionales Wohlbefinden, das auf die Baugestalt ausstrahlt. Sie wird a priori in ihrer Erscheinung aufgewertet. Gegebenenfalls vorhandene Mängel der ‚Baugestalt an sich’ verlieren bezüglich des Gesamteindrucks an Bedeutung.

Nicht-visuelle Sinne

Am Gesamteindruck eines Bauwerks können prinzipiell alle Sinne beteiligt sein. Neben dem visuellen Input wirken sich zum Beispiel die auditorische und olfaktorische Situation aus.


Zusammenfassung

Das architektonische Urteil hängt nicht allein von der ‚Baugestalt an sich’ ab. Ob sie als schön empfunden wird, ob als positiv ansprechend, ob sie gefällt oder nicht, resultiert aus sich überlagernden Vorgängen in der Wahrnehmung.[21] Maßgeblich für das Schönheitsempfinden ist die Erfüllung der jeweiligen Erwartungen. Sie werden durch die Welt der Vorstellungen definiert. In der Architekturdebatte firmieren Bauwerke, die die tieferen Schichten der Vorstellungswelt ansprechen, als organisch. Die Moderne versuchte, sich davon fern zu halten und favorisierte eine anti-organische, im Sinne der Aufklärung "rationale" Gestaltsprache. Aber mehr als die ‚Gestalt an sich’ entscheiden diejenigen Bedeutungen über Schönheit, die das Bauwerk im Rahmen seiner Funktion als Medium im Rahmen der sozialen Interaktion übermittelt.


Nachweise

  1. Rudolf Arnheim: „Die Dynamik der architektonischen Form“, 1980, S. 252.
  2. Gemeint ist die eigentliche Gestalt, analytisch getrennt von ihrer medialen Funktion.
  3. Vergleiche Johanna Hartung: „Sozialpsychologie“, 3. Aufl. 2010, S. 32.
  4. „Das ästhetische Urteilen stellt einen psychischen Prozess dar, der vor allem von zwei Komponenten konstituiert wird, nämlich vom Erkennen des Objektes und von der wertenden Stellungnahme. Diese beiden Komponenten sind in der Analyse zu unterscheiden, auch wenn sie im Vorgang des Urteilens interferieren.“ Heinz Meyer: „ Architekturkritik und ästhetisches Urteil“, in: Wolkenkuckucksheim, 7. Jg. Heft 2, Januar 2003. http://www.tu-cottbus.de/theoriederarchitektur/wolke/deu/Themen/022/Meyer/meyer.htm, aufgerufen am 14.02.2012.
  5. Ästhetik als Wahrnehmen im weitesten Sinne. Der Begriff der "architektonischen Ästhetik" schränkt also ein und meint die Wahrnehmung der Baugestalt, nicht etwa die der Grundrissfunktionalität oder des Wohnklimas.
  6. Wänke/Bohner: „Einstellungen“, in: Bierhoff/Frey: "Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie", 2006, S. 406.
  7. Gerhard Roth: „Die räumliche Welt – Ein neuronales Konstrukt“, in: Geographie und Schule“, Heft 160,(2006), S. 10. Vergleiche auch Wolf Singer: „Ein neues Menschenbild?“, 2003, S. 74 ff. und ders.: „Der Beobachter im Gehirn“, 2002, S. 65 ff.
  8. Gerhard Roth: „Die räumliche Welt – Ein neuronales Konstrukt“, in: Geographie und Schule“, Heft 160,(2006), S. 10. Vergleiche auch Wolf Singer: „Ein neues Menschenbild?“, 2003, S. 74 ff. und ders.: „Der Beobachter im Gehirn“, 2002, S. 65 ff.
  9. Gerhard Roth: "Nachwort: Denken und Handeln", in: Sentker u.a. (Hrsg.): "Schaltstelle Gehirn", 2009, S. 263 f.
  10. „Es geht diesem System jedoch nicht einfach nur um Belohnung, sondern letztlich darum, dem Gehirn zu sagen, wo es langgeht und was es wann lernen soll.“ Manfred Spitzer „Selbstbestimmen“, München 2004, S. 134.
  11. Siehe dazu auch die Ausführungen von Fritz Neumeyer: „Nachdenken über Architektur – Eine kurze Geschichte ihrer Theorie“, in: ders.: „Quellentexte zur Architekturtheorie“, München 2002, S. 54 und Rudolf Arnheim: „Die Dynamik der architektonischen Form“, 1980, S. 218. Der Begriff der Empathie trifft den Sachverhalt nicht ganz, denn das Gefühl steht erst als Reaktion am Ende des intuitiven Hineinversetzens. Das Hineinversetzen generiert ein Urteil, welches als eigentlicher Auslöser der Empfindungen fungiert, ein Prozess, der allerdings weitgehend im Verborgenen abläuft.
  12. Richard L. Gregory: „Auge und Gehirn – Psychologie des Sehens“, 2001. Vergleiche auch Johanna Hartung: „Sozialpsychologie“, 3. Aufl. 2010, S. 86 f. und Eva Traut-Mattausch: Kommunikationsmodelle“, in: Bierhoff/Frey (Hrsg.): Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, 2006, S. 536 ff.)
  13. Vergleiche A.R. Damasio: „Ich fühle, also bin ich“, 2003, S. 381 ff.
  14. Vergleiche F. Esken und H.-D. Heckmann: „Bewusstsein und Repräsentation“, Paderborn 1998.
  15. „Die Idee des Zusammenhangs, die Vorstellung von einer Ordnung der Dinge, in der sie als Teile eines größeren Ganzen aufgehoben sind, ist die Grundlage jedes Systemgedankens. Ohne einen Ordnungsglauben und Sinn für Zusammenhang ist die Welt für den Menschen nicht deutbar.“ Fritz Neumeyer: „Nachdenken über Architektur – Eine kurze Geschichte ihrer Theorie“, in: ders.: „Quellentexte zur Architekturtheorie“, München 2002, S. 9 ff.
  16. R. Arnheim: „Die Dynamik der architektonischen Form“, 1980, S. 17 ff. bzw. S. 21.
  17. Erhard Oeser: „Das selbstbewusste Gehirn“, Darmstadt 2006, S. 137.
  18. So Heike Delitz in ihrem Aufsatz „Die Architektur der Gesellschaft. Architektur und Architekturtheorie im Blick der Soziologie“, in: Wolkenkuckucksheim 10. Jg., Heft 1, Sept. 2006. http://www.tu-cottbus.de/theoriederarchitektur/Wolke/deu/Themen/051/Delitz/delitz.htm, aufgerufen am 15.11.2011.
  19. Vergleiche Johanna Hartung: „Sozialpsychologie“, 3. Aufl. 2010, S. 32 ff. Dito Wänke/Bohner: „Einstellungen“, in: Bierhoff/Frey (Hrsg.): Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, 2006, S. 205.
  20. Vergleiche Fritz Neumeyer: „Nachdenken über Architektur – Eine kurze Geschichte ihrer Theorie“, in: ders.: „Quellentexte zur Architekturtheorie“, München 2002, S. 70. Neumeyer referiert Thesen von Aldo Rossi und Kevin Lynch.
  21. Siehe auch die Ausführungen von Manfred Spitzer: „Nervensachen“, 2005, S. 120, zum Erleben von Schönheit.

--Guenterge (Diskussion) 10:22, 19. Sep. 2012 (CEST)

geänd./ergänzt: Guenterge (Diskussion) 11:27, 20. Sep. 2012 (CEST); Guenterge (Diskussion) 11:17, 21. Sep. 2012 (CEST)