Benutzer:Gustav von Aschenbach/Thomas Mann und die Tiefenpsychologie

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Reden und Aufsätze

  • Freud und die Zukunft
  • Mein Verhältnis zur Psychoanalyse
  • Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte

Entwicklung

Thomas Mann war kein Freudianer, erkannte aber wie andere Schriftsteller die Bedeutung der Psychoanalyse und konnte sie für sein Werk in vielfältiger Weise nutzen.[1] Seine Werke selbst wurden psychoanalytisch gedeutet. Hierbei ist die (sublimierte) Homoerotik nicht das einzige, wohl aber ein äußerst wichtiges und erzähldynamisch dankbares Motiv.

Sein psychologisches Frühwerk entstand während der Entwicklung der Psychoanalyse. Die Novelle Der kleine Herr Friedemann und die 1895 von Freud und Josef Breuer geschriebenen Studien über Hysterie erzählen für Manfred Dierks gewissermaßen dieselbe Geschichte - die der verdrängten Sexualität und der bedrohlichen Wiederkehr des Verdrängten. Verdrängt die Patientin Miss Lucy die Liebe zu ihrem Dienstherrn, die dann als körperliches Symptom zurückkehrt, unterdrückt der missgestaltete Herr Friedemann sein Liebesbedürfnis, indem er sich in seine Kunst- und Bücherwelt zurückzieht, bis es in Form der üppigen Frau von Rinnlingen mit tödlicher Gewalt zurückkehrt: Er verwirft seine ästhetische Existenz und ertränkt sich in narzisstischer Aggression gegen sich selbst.[2] Trotz dieser Parallelen lässt sich eine direkte Auseinandersetzung mit Freud erst über zehn Jahre später nachweisen: Im Zusammenhang mit dem Tod in Venedig las er 1911 Texte Freuds, die sich mit der Verdrängungsproblematik befassten. Nach Auffassung von Manfred Dierks half ihm die Lektüre dabei, eine eigene quälende Fragestellung zu klären und könnte sogar zu einer Selbstanalyse geführt haben.[3]

Thomas Mann ging nun so weit, die Novelle, die sich zunächst auf Goethes entwürdigendes Erlebnis mit Ulrike von Levetzow beziehen sollte, auf den „unmittelbaren Einfluß Freuds“ zurückzuführen: „Ich hätte ohne Freud niemals daran gedacht, dieses erotische Motiv zu behandeln oder hätte es wenigstens ganz anders gestaltet“[4], eine Darstellung, die überwiegend angezweifelt wurde. Nach Auffassung von Thomas Klugkist lassen sich in der Novelle zwei wesentliche Unterschiede zu Freuds Verdrängungs-Konzept zeigen; der Prozess bei Gustav von Aschenbach verlaufe bewusst, das so „Verdrängte“ versinke nicht vollständig im Unbewussten.[5] Für Klugkist sind die Helden Thomas Manns zudem nicht gänzlich getriebene, dem Es ausgelieferte Figuren, sondern „wissen“, worauf sie sich einlassen, genießen die „Symptome“, überschätzen dabei aber ihre Kraft, den Versuchungen zu widerstehen.[6]

Das Motiv der Homoerotik findet sich bereits in dem kurzen Auftragswerk Wie Jappe und Do Escobar sich prügelten, dessen Ich-Erzähler deutliche Züge Thomas Manns trägt.[7] Mit Johnny Bishop, dem feinen und kindlichen Freund „mit seinem gewinnenden, lieblichen Lächeln" und den „hübschen blauen ... spöttisch lächelnden Mädchenaugen", [8] setzte Mann dem Mitschüler Johnny Eckhoff ein literarisches Denkmal. Zu Beginn der Erzählung liegt der feminine Knabe „vollständig nackt auf dem Rücken", während sich der etwas ältere Erzähler dezent ein Handtuch umgewickelt hatte. Mit dem eleganten englischen Matrosenanzug sieht Bishop aus „wie ein kleiner magerer Amor"[9] und erinnert an den androgynen Tadzio aus dem Tod in Venedig. [10]

Freud hatte in seiner Analyse Der Wahn und die Träume Wilhelm Jensens Erzählung Gradiva untersucht, in der es um eine verdrängte Kindheitsliebe geht, die in Träumen und Phantasien eines Archäologen zurückzukehren scheint. Für Freud war die ein literarischer Beleg für die Rückkehr verdrängter Ansprüche des Gefühls.[11] Gradiva ähnelt der Struktur von Manns Novelle, indem auch hier jemand einer Neigung folgt, in den Süden reist und sich dort verliebt. Ist es bei Jensen ein Mädchen, dem sich der Gelehrte nach einigen Verwirrungen hingibt, bleibt es im Tod in Venedig bei der gescheiterten Knabenliebe, indem der ursprüngliche Apollonier Aschenbach dionysisch überwältigt wird und stirbt. Die Handlung der Meisternovelle entspricht Jensens Vorlage ebenso wie die psychologische (etwa im Alptraum andeutende) und mythologische Symbolsprache, und es wird deutlich, dass Thomas Mann persönliche Erfahrungen in den von Freud kommenden Deutungsrahmen einbauen konnte.[12]

Im Umfeld des Romans Der Zauberberg vertiefte er sich um 1919 erneut in das Werk Freuds und brachte Hans Castorp dann mit gleichsam psychoanalytischen Erinnerungsschritten seiner vergessenen Jugendliebe Pribislav Hippe näher, in dem sich seine Gefühle für Williram Timpe widerspiegelten.[13]

Thomas Mann hatte bereits in seiner vermutlich im Frühsommer 1925 verfassten Miszelle Mein Verhältnis zur Psychoanalyse über Freud geschrieben, auf die Bedeutung seiner Lehre hingewiesen und sie als „merkwürdiges Gewächs wissenschaftlich-zivilisatorischen Geistes“ bezeichnet. Seinen Zeitroman sprach er dabei ebenso an wie die Novelle Der Tod in Venedig, die „unter dem unmittelbaren Einfluss von Freud entstanden“ sei.[14]

Spätestens 1926 war Freuds Gedankengebäude für ihn von zentraler Bedeutung, was sich in seiner Joseph-Tetralogie zeigen lässt, etwa in den verdrängten Trieben der Frau Potifars.[15]

1929 erschien der weit umfangreichere Essay Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte als Einleitung des ersten Heftes der Zeitschrift Die psychoanalytische Bewegung und wurde auf Einladung des „Clubs demokratischer Studenten“ am 16. Mai 1929 im Auditorium maximum der Universität München als Vortrag gehalten. Thomas Mann vertiefte sich hier in Freuds Totem und Tabu, lobte dessen literarische Qualitäten und nannte den Verfasser einen überragenden Essayisten, der in der Tradition großer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts stehe, die gegen die rationalistische Zeitströmung die „Nachtseite der Natur“ als das Wesentliche betont hätten.[16] In seiner Festrede Freud und die Zukunft griff er auf Teile dieses Essays zurück. Die spätere Rede hat deutlichen Bekenntnischarakter und tendiert mit Hinweisen auf Werke wie Buddenbrooks, Tonio Kröger, Der Tod in Venedig und die Joseph-Romane zu einer Interpretation des eigenen Œuvres.[17]


Einzelnachweise

  1. Thomas Klugkist: 49 Fragen und Antworten zu Thomas Mann, Fischer, Frankfurt am Main 2003, S. 193
  2. So Manfred Dierks: Thomas Mann und die »jüdische« Psychoanalyse, In: Thomas Mann und das Judentum. (Thomas-Mann-Studien, 30). Vittorio Klostermann, Frankfurt 2004, S. 97
  3. Manfred Dierks: Thomas Mann und die Tiefenpsychologie. In: Thomas-Mann-Handbuch, Fischer, Frankfurt 2005, S. 284
  4. Zit. nach: Manfred Dierks: Thomas Mann und die Tiefenpsychologie. In: Thomas-Mann-Handbuch, Fischer, Frankfurt 2005, S. 284
  5. Thomas Klugkist: 49 Fragen und Antworten zu Thomas Mann, Fischer, Frankfurt am Main 2003, S. 195
  6. Thomas Klugkist: 49 Fragen und Antworten zu Thomas Mann, Fischer, Frankfurt am Main 2003, S. 196
  7. Hermann Kurzke, Wie Jappe und Do Escobar sich prügelten. In: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Beck, München 2006, S. 192
  8. Thomas Mann: Wie Jappe und Do Escobar sich prügelten. In: Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band 8: Erzählungen, Fiorenza, Dichtungen. Fischer, Frankfurt 1974, S. 427
  9. Thomas Mann: Wie Jappe und Do Escobar sich prügelten. In: Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band 8: Erzählungen, Fiorenza, Dichtungen. Fischer, Frankfurt 1974, S. 428
  10. Hermann Kurzke, Wie Jappe und Do Escobar sich prügelten. In: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Beck, München 2006, S. 193
  11. Manfred Dierks: Thomas Mann und die Tiefenpsychologie. In: Thomas-Mann-Handbuch, Fischer, Frankfurt 2005, S. 285
  12. Manfred Dierks: Thomas Mann und die Tiefenpsychologie. In: Thomas Mann Handbuch, Fischer, Frankfurt 2005, S. 285
  13. Manfred Dierks: Thomas Mann und die Tiefenpsychologie. In: Thomas Mann Handbuch, Fischer, Frankfurt 2005, S. 285
  14. Thomas Mann: Mein Verhältnis zur Psychoanalyse. In: Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band 11: Reden und Aufsätze. Teil 3, Fischer, Frankfurt 1974, S. 748
  15. Manfred Dierks: Thomas Mann und die »jüdische« Psychoanalyse, In: Thomas Mann und das Judentum. (Thomas-Mann-Studien, 30). Vittorio Klostermann, Frankfurt 2004, S. 98
  16. Thomas Mann: Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte. In: Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band 10: Reden und Aufsätze. Teil 2, Fischer, Frankfurt 1974, S. 260
  17. Rolf G. Renner. In: Literarästhetische, kulturkritische und autobiographische Essayistik. Thomas-Mann-Handbuch. Fischer, Frankfurt am Main 2005, S. 643