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Bestenfalls Einäugigkeit - POV-Pushing à la FAZ

Die Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschäftigt sich in einem Artikel ihrer heutigen Ausgabe unter dem Titel Bestenfalls Blauäugigkeit mit Vorwürfen, der Wikipedia-Artikel Tibet verbreite in wichtigen Punkten die offizielle chinesische Sichtweise. Neben einigen inhaltlichen Ungenauigkeiten hat unter Wikipedianern insbesondere die Tatsache für Verwunderung gesorgt, dass es sich bei dem FAZ-Autor um einen langjährigen Tibet-Aktivisten und ehemaligen ersten Vorsitzenden der Tibet Initiative Deutschland e.V. (TID) handelt - eben jenes Vereins, auf dessen Kritik der FAZ-Artikel basiert. Der FAZ-Leser erfährt davon nichts.

Zur Vorgeschichte: Am 4. Dezember 2005 nahm ein anonymer Benutzer im Artikel Tibet Änderungen vor, bei denen unter anderem die Zahlenangaben zur chinesischstämmigen Bevölkerung in Tibet erheblich verändert wurden - ohne konkrete Quellenangaben. Benutzer:Ingochina (ausweislich seiner Benutzerseite hauptberuflich als Sinologe und Ethnologe an einer wissenschaftlichen Institution tätig) machte diese Bearbeitungen als "tendenziöse Verfälschungen" rückgängig.

Am 21. Dezember 2005 folgte ein längerer, mit "Tibet Initiative Deutschland e.V." unterschriebener Beitrag des gleichen anonymen Benutzers auf der Diskussionsseite des Artikels, der relativ detailliert die Darstellung des Artikels in zwei Punkten kritisierte: Die Zerstörungen von tibetischen Klöstern und Morde an Mönchen würden zwar nicht verschwiegen, jedoch fälschlicherweise entsprechend der offiziellen chinesischen Geschichtsschreibung den Roten Garden der Kulturrevolution zugeschrieben statt der chinesischen KP. Zweitens würde der Anteil der zugewanderten chinesischen Bevölkerung zu niedrig angegeben. Allerdings wurden weiterhin keine konkreten, verifizierbaren Quellenangaben präsentiert. Der Beitrag schien davon auszugehen, dass der Artikel von einem einzelnen, chinafreundlichen Verfasser stammte und endete mit der Bitte an die Redaktion von Wikipedia, die genannten Mängel zu beheben; der Autor des bisherigen Beitrags sei dafür nicht geeignet. Die freundliche Entgegnung von Benutzer:Gugganij, der darauf hinwies, dass Wikipedia-Artikel keinen einzelnen Autor, sondern eine mehr oder weniger große, wechselnde Autorenschaft haben und dazu einlud, den Tibet-Artikel unter Beachtung der Wikipedia-Richtlinien selbst zu bearbeiten, blieb offensichtlich unbeachtet, ebenso die Aufforderung von Benutzer:Babel fish, zu belegen, dass der Beitrag tatsächlich von der TID autorisiert sei.

Die Zweifel an der Urheberschaft der Beschwerde wurden einige Wochen später durch eine vom 9. Februar 2006 datierte Erklärung auf der Website der TID gemildert, die - durch Meldungen über Pläne für eine gedruckte Wikipedia-Gesamtausgabe veranlasst -, die beiden Kritikpunkte wiederholte, der Wikipedia schwerwiegende Geschichtsfälschung vorwirft und beklagt Administratoren weigern sich, dies zur Kenntnis zu nehmen, um ihr Konzept [dass die Inhalte von den Nutzern stammen] nicht zu verletzen. Man habe mehrfach versucht, auf die Wikipedia Administratoren [sic] einzuwirken. Der Text ist auf der Pressemitteilungs-Seite der TID verlinkt, scheint allerdings in den folgenden Wochen weder in Medienveröffentlichungen erwähnt noch irgendwelchen Vertretern der Wikipedia zur Kenntnis gebracht worden zu sein.

Bereits mehrere Tage zuvor, am 2. Februar, kontaktierte jedoch Klemens Ludwig, der spätere Autor des FAZ-Artikels, unter Verweis auf eine solche Pressemeldung das Presseteam der deutschen Wikipedia. Ludwig ist nicht nur freier Journalist und Buchautor, sondern auch langjähriger Tibet-Aktivist, so leitete noch 2004 eine Unterschriften- und Postkartenaktion an die Adresse der UNESCO. Von 1994 bis 2000 war er erster Vorsitzender der Tibet Initiative Deutschland e.V., in dem FAZ-Artikel lässt er ausführlich seinen Nachfolger Wolfgang Grader zu Wort kommen. Pikant auch, dass die allererste Bearbeitung des erwähnten anonymen Benutzers am 4. Dezember darin bestand, ein Buch von Klemens Ludwig bei den Literaturhinweisen einzutragen...

Laut FAZ sieht Grader inzwischen einen der beiden Kritikpunkte (Zerstörung der Klöster) als weitgehend ausgeräumt an. Was den zweiten angeht, so verschweigt der FAZ-Artikel nicht, dass Grader nicht nur an den Angaben des Wikipedia-Artikels, sondern ebenfalls an den in der Wissenschaft verbreiteten Zahlen zweifelt: Wenn Tibetologen aus dem Westen zu Ergebnissen kommen, die Peking nicht gefallen, werden sie kaum noch weitere Genehmigungen für Forschungsaufträge erhalten. Unsere wichtigste Quelle sind die Flüchtlinge in Indien. Als Fazit bleibt wohl das Zitat von Wikipedianerin Elisabeth Bauer, das fairerweise ebenfalls wiedergegeben wird: Im Zweifelsfall, bekräftigt die Pressesprecherin, verläßt sich Wikepedia [sic-FAZ] auf die Wissenschaft.

HaeB, 18.4.2006