Benutzer:Herr Andrax/Wikipedia-Völkerschau

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Wikipedia-Völkerschau

Unfreiwillige Beobachtungen II


Es ist schon nach Mitternacht und ich lese einen Beitrag des peruanischen Musikethnologen Julio Mendívil über die volkstümliche Schlagermusik[1] in Deutschland. Mendívil beschreibt, wie er Tricks anwenden muss, um für seine Feldforschung die symbolischen Ordnung seines "Stammes" zu überlisten. Er scheitert letztlich an den Persönlichkeitsrechten, die die Mitglieder der deutschen Schlagerszene geltend machen. Andere Ethnologen wie Napoleon Chagnon waren da erfolgreicher, sie konnten sich nachhaltig über die Persönlichkeitsrechte ihres "Stammes" hinwegsetzen: "Napoleon Chagnon verwandelte die friedlichen Yanomami aus Brasilien und Venezuela mit derart großem Erfolg in grausame Krieger, dass es heutzutage kaum ein ethnologisches Lehrbuch gibt, das sie nicht als Beispiel für Streitsüchtigkeit benutzt. Chagnon musste sich dabei keine Sorgen um die Meinung der Yanomai machen, denn diese waren vom Diskurs und vom westlichen Rechtssystem ausgeschlossen. >Der Deutsche< als Untersuchungsobjekt lässt sich im Gegensatz dazu nicht auf eine formlose Masse reduzieren, auf ein obskures Mitglied einer ethnischen Gruppe, denn er versteht sich selber als ein Individuum mit einem Recht auf eine Privatsphäre und ist immer bereit, vor Gericht zu gehen, um diese zu schützen." [2] Natürlich interessiert es mich sofort, wie wir in der deutschen Wikipedia über die Yanomami enzyklopädisches Wissen publizieren und schlage nach.

Meine erste Wahrnehmung: das Übliche. Keine wissenschaftlichen Begriffe, sondern koloniale Trivialitäten. Yanomami werden als "Stamm" bezeichnet. Das Interesse der Wikipediaautoren gilt vor allem der Sexualität und dem Verhältnis von Männern und Frauen. Einzelne Yanomai sind den Autoren nicht bekannt. Lustvoll werden sie als vor dem Aussterben stehende Exotika und als "Gemeinschaft" dem und der Enzyklopädie-Leser_in präsentiert. Wie lustvoll erfahre ich erst später, als ich meinem Browser ermögliche, das angeführte Bild zu sehen. (Kein lesenswerter Artikel ohne Bildchen). Tatsächlich hinterlässt auch der umstrittene Napoleon Chagnon seine Spuren in dem WP-Kolonialgemälde, dessen Glanz es nicht stört, dass die Wesensmerkmale [3] der Yanomai sowohl als extrem friedlich, als auch extrem kriegerisch dargestellt werden (Wie üblich: Der Rassismus definiert den "Anderen" mal als Edlen Wilden oder als kannibalischen Untermenschen)[4]. Gibt es – bei solchen Widersprüchen – nicht heftige Diskussionen? Ich schaue auf die Diskussionsseite des Artikels. Ein aktueller Eintrag bemerkt, dass ein sich für den Artikel verantwortlich fühlender Mitarbeiter die Kritik am Artikel, die Leser_innen des Artikels durch eine Neutralitätswarnung und durch hämische Kommentare über den Voyeurismus der Wikipedianer an nackte Kinder äußerten, gelöscht hat. Sein Begründung, die Kritik wäre nicht unterzeichnet gewesen. Ich erlaube meinem Browser Bilder anzuzeigen. Der mit kolonial Klischees gespickte Artikel ist illustriert mit einer Photographie Marke Kinderpornographie. Verängstigte kleine Menschen werden kaum bekleidet und ausstaffiert mit Ethno-Accessoires in Reih und Glied in Pose gesetzt und abgelichtet. Die angeführten Weblinks glänzen eben durch solche Exotika und Photographien, sowie durch Spendenaufrufe. Es sind ausnahmslos private Homepages. Bei der Lektüre fällt auf, dass der Artikel vorwiegend aus Textbausteinen diesen Privatquellen gebastelt wurde. [3] Boris F. will helfen.

siehe auch: [4], Völkerschau, Das Fernbacher'sche Habitat (Biologie)

Technix für die Reparatur

Überarbeitungsvorschläge

Quellen

  1. Vgl. Katja Epstein: Ein Indiojunge aus Peru - Ob sie heute aus schlechtem Gewissen oder aus PR-Gründen mit der Welthungerhilfe Waisenkinder und den Bau von kleinen Häusern für die im peruanischen Hochland unter der Armutsgrenze lebende Bevölkerung unterstützt?
  2. Julio Mendívil: Das >zivilisierte Denken<: Reflexionen eines peruanischen Musikethnologen über eine Feldforschung in den >traumatischen Tropen< Deutschlands. In: Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai, Sheila Mysorekar (Hg.): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. Münster 2007. Seite 142, 134
  3. Die Kolonialartikel der Wikipedia sind eine besonderes Beispiel dafür, wie viel Wert von vielen Trivialautoren der WP auf den Mythos gelegt wird. Die Trivialität zeigt sich besonders dort, wo der Artikelgegenstand durch Naturalisierung und Kulturalisierung dem Artikelgegenstand Wesenhaftes andichtet. Vgl. [1]
  4. Hito Steyerl: Entdecken, Erobern, Erholen – Reisen als (post-)Koloniales Privileg [2] (SWR Tele-Akademie)