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Art Worlds

Mit diesem Begriff bezeichnet der US-amerikanische Soziologe Howard S. Becker die soziale Konstruktion von Kunst. Diese wird seiner Meinung nach nicht durch ein einzelnes Individuum geschaffen sondern entsteht in einem arbeitsteiligen Prozess. Im deutschsprachigen Raum ist auch die Übersetzung Kunstwelt bzw. Kunstwelten gebräuchlich. Beckers Theorie gilt neben Bourdieus Kunstfeldtheorie und dem Kunstsystem von Luhmann als wesentliche Theorien der Kunstsoziologie.[1]

Entstehungskontext

Howard S. Becker begann die Arbeit an seinem Werk „Art Worlds“ in den 1970er Jahren. Er hatte den Wunsch, sich anderen Themenfeldern zuzuwenden, als er es bisher tat und entdeckte die Kunstsoziologie für sich. Zu dieser Zeit fand Becker kaum zufriedenstellende Forschungen über diesen Gegenstand – aus Europa stammende Arbeiten waren sehr philosophisch, jene aus den USA sehr quantitativ ausgerichtet - was Becker nicht zusagte.[2]. Art Worlds lässt sich theoretisch im Symbolischen Interaktionismus verorten.

Beckers Studien über art worlds waren geleitet von drei zentralen Ideen:

  1. Die Idee des kollektiven Handelns („collective action“): Alle Beteiligten Personen sind für die Ergebnisse einer Untersuchung von Bedeutung, selbst jene, die sonst vielleicht als unwichtig für ein Phänomen erscheinen würden (zB. Kartenverkäufer bei der Untersuchung eines Theaterstücks).
  2. Die Idee der Vergleichs („comparison“): Durch das Nebeneinanderstellen mehrerer Fälle werden Unterschiede oder Gemeinsamkeiten ersichtlich.
  3. Die Idee des Prozesses („process“): Die soziologische Analyse muss berücksichtigen, dass Prozesse schrittweise ablaufen - einen eindeutigen vordefinierten Endpunkt der Forschung gibt es nicht, sondern dieser wird von dem Forscher/der Forscherin bestimmt.

Becker verfolgt bei der Untersuchung der art worlds einen sehr offenen Zugang und beschäftigt sich mit einigen unterschiedlichen Kunstfeldern, darunter z.B. Musik, Fotografie, Druck, Poesie.

Aufgrund seiner Vergangenheit als Jazz-Pianist spielt der musikalische Bereich eine relativ große Rolle in seiner Arbeit, wobei er sich hier besonders mit sprachlichen Aspekten der art worlds beschäftigt und den Begriff „art words“ einführt. Er beschreibt etwa, wie sich die Gruppen „cats“ und „squares“ durch die spezifische Verwendung von Sprache voneinander abgrenzen. Auch Fotografie ist ein wichtiger Teilbereich, da Becker anhand dieses Beispiels die Wichtigkeit von vorhandenen Gegebenheiten (siehe Konventionen), die ein Künstler/eine Künstlerin bei der Verwirklichung seiner/ihrer Arbeit vorfindet erläutert.

Die Methode, die Becker bei „Art Worlds“ anwendet bezeichnet er als eine Kombination aus offener Beobachtung (casual observation) und Literaturstudium. Bei der Feldarbeit ist er besonders auf der Suche nach Beschwerden (complaints), die geäßert werden - er ist auf der Suche nach Problemen. Das mag unkonventionell erscheinen, doch für Becker ist dies zentral für das Verständnis von Kunst, sowie deren Entstehung. Als Ziel seiner Arbeit nennt Becker nicht die Generalisierbarkeit seiner Ergebnisse sondern vielmehr die Erfassung der Komplexität von art worlds. Er wollte mit „Art Worlds“ gewissermaßen eine Rahmenstruktur bereitstellen, die als Anregung bzw. Orientierung für weitere Forschung dient.

Konventionen in der Kunst

Aufgrund seines zentralen Arguments, dass Kunstwerke nicht die Produkte von einzelnen Künstlern, sondern von Kunstwelten sind, bezeichnet Becker Kunst als Kollektives Handeln. Um ein künstlerisches Artefakt zu produzieren, müssen verschiedene Leute und Ressourcen mobilisiert werden. Dieser Prozess wird durch bestehende Konventionen vereinfacht und kann dadurch effektiver verlaufen. Es muss nicht jede Frage aus Neue beantwortet werden, sondern man kann sich dabei auf Ergebnisse von vorherigen Lösungen verlassen. Die Gewohnheiten können konzeptuell organisatorisch und auch materiell verkörpert sein. Zum Beispiel muss im Falle einer musikalischen Aufführung nicht immer wieder der Gebrauch von Musikinstrumenten und Notenschrift neu besprochen werden. Ebenso üblich ist die Arbeitsteilung zwischen Komponisten, Performern, Organisatoren uns. Solche Strukturen und Konventionen bilden eine Grundlage der Kunstwelten, die sich über einen langen Zeitraum entwickelt haben. Nicht alle Konventionen können die Akteure bewusst reflektieren, der konventionelle Status wurde vergessen und üblicherweise wurden sie als natürlich angenommen. Eine der soziologischen Aufgaben sollte es sein, Netzwerke der Gewohnheiten, wie Kunst produziert wird, entdecken.

Angesichts der Tatsache, dass es nicht nur eine Kunstwelt sondern mehrere Kunstwelten gibt, existieren auch mehrere Sätze von Konventionen. Die Grenzen der Kunstwelt sind identisch mit der Gültigkeit der Konventionen. Unter die Kunstwelt fallen nicht nur die Künstler und andere Produzenten, sondern auch die Rezipienten. Leute, die sich außerhalb der Grenzen der Konventionen befinden, erkennen die ästhetischen Mittel nicht.

Die Konventionen sind aber nicht ausnahmslos verbindlich. Einzelne Akteure können Innovationen bringen (z.B. ein neues Instrument erfinden, um den erwünschten Ton zu erzeugen) und den Regeln trotzen. Unkonventionelle Kreativität und Unabhängigkeit zu anderen kosten mehr Geld, Zeit und Energie. Ein Widerspruch wird ökonmisch und symbolisch bestraft.

Spannungsfeld: Konvention - Innovation : Struktur - Handeln

Diese Spannung zwischen Konventionen und Innovationen kann man als Synthese zweier soziologischer Leittraditionen erfassen, von denen verwendete Forschungsmethoden abhängen. Die erste Gruppe der Ansätze fokussiert sich auf die Ebene der Strukturen, die das Handeln der Einzelnen determiniert. In diesem Sinne sind alle künstlerische Produkte und Aktivitäten nur Ergebnisse der Konventionen. Ein Individuum kann gegen die Konventionen nicht widersprechen, weil jeder von der Kooperation mit anderen abhängt. Diese Position würde nach Becker dem Funktionalismus entsprechen. Auf der anderen Seite sind Forscher, die Nachdruck auf individuelles Handeln legen. Kunstwerke sind dann nicht mehr Produkte der übergeordneten Konventionen. Der künstlerische Prozess und alle Verhältnisse, die dadurch entstehen, sind von individuellen Akteuren und ihrer Kreativität formiert.

Becker behauptet, es wäre notwendig beide Ebenen zu berücksichtigen. Er leugnet die strukturierende Rolle der Konventionen nicht, doch zugleich bieten sie die Möglichkeit für Veränderung und Widerstand. Die Strukturen ermöglichen die Kunstproduktion und dank der Innovationen werden die Konventionen immer erneuert und Kunst kann sich entwickeln.

Becker argumentiert wie folgt: Wie Konventionen als Rahmen und Bezugspunkt für individuelles Handeln funktionieren und wie sie entstehen ist der gleiche Prozess. Angesichts der Tatsache, dass an der Kunstproduktion beide Kräfte beteiligt sind, sollten die ausgewählten Forschungsmethoden diese Zusammenhänge entdecken und analysieren.

Der Soziologe Robert Cluley beschreibt dies folgendermaßen: The study of art worlds should focus on how conventional arrangements structure unconventional action and how unconventional action creates conventional arrangements. [3]

Rezeption

Im Gegensatz zum englischsprachigen Raum wurde der Kunstwelten Ansatz im deutschsprachigen Raum nur bedingt wahrgenommen. [4]

Abgrenzung zu Bourdieus Kunstfeld Theorie

Im Interview der Geburtstagsedition grenzt sich Becker von Bourdieus Kunstfeld[5] Theorie ab. Sein wesentlicher Punkt ist die Bezeichnung Feld, die Becker im physikalischen Bereich verortet. Er sieht in Bourdieus Theorie Paralellen zum homo oeconomicus, da diese auf Beherrschung und Konflikt im Zusammenhang beruhe, während Becker von einer positiveren Grundhaltung ausgeht, in der sich die Menschen koordinieren müssen um mit einander kooperieren zu können.

Literatur

Primärliteratur

Art Worlds: 25th Anniversary edition, Updated and Expanded, 2008, ISBN 978-0520256361.

Eine deutsche Übersetzung seines Aufsatzes Art as Collective Action aus dem American Sociological Review (38. Jg./1974, S. 767–776) enthält der von Jürgen Gerhards herausgegebene Sammelband Soziologie der Kunst (Westdeutscher Verlag, Opladen 1997, S. 23–40), ISBN 978-3531130095.

Einzelnachweise

  1. Dagmar Danko. Kunstsoziologie, Transscript Verlag, 2012 ISBN 978-3-8376-1487-9.
  2. Howard S. Becker: Making it up as you go along: How I Wrote Art Worlds abgerufen 25.5.2013
  3. Robert Cluley: Art Words and Art Worlds: The Methodological Importance of Language Use in Howard S. Becker’s Sociology of Art and Cultural Production in Cultural Sociology 2012 6: 201
  4. Walter Müller-Jentsch: Die Kunst in der Gesellschaft. VS Verlag, Wiesbaden 2011, S.25 ISBN 978-3-531-93080-0
  5. Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1999 ISBN 3-518-58264-X (franz. 1992)