Benutzer:JeffM89/Karnismus

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Karnismus (seltener Carnismus; engl.: "carnism") bezeichnet ein unsichtbares System aus Überzeugungen (engl.: “belief system”, oder auch “ideology”, wobei der Begriff hier neutral gemeint ist und nicht, wie der deutsche Begriff “Ideologie”, eine negative Konnotation beinhaltet), das es Menschen ermöglicht, bestimmte Tierspezies zu töten, bzw. töten zu lassen, und zu essen, ohne Mitgefühl für diese Spezies zu empfinden. Der Begriff wurde zuerst von der Sozialpsychologin Melanie Joy im Jahre 2001[1] benutzt und dann im Rahmen ihrer Doktorarbeit im Jahre 2003[2] vertieft. Heute beschäftigt sich vor allem die von Joy gegründete Organisation, das Carnism Awareness and Action Network mit der Verbreitung der Theorie.

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Melanie Joy auf der DLDwomen Konferenz in München 2013

Übersicht

Joys Ausgangsposition war die Frage, wieso Menschen, die sich selbst als gewaltfrei gegenüber Tieren oder sogar tierliebend bezeichnen, die Körper bestimmter Tiere essen können, ohne dass sie dabei irgendeinen Widerspruch verspüren, sowie die Frage, wie es dazu kommt, dass Menschen das Fleisch einiger Tiere nicht nur als essbar, sondern sogar als wohlschmeckend empfinden, während der Gedanke an den Konsum anderer Tierspezies bei ihnen Ekel und Abscheu auslöst. Weiterhin interessierte sie sich für für die Frage, wieso Menschen, die aus ethischen Gründen vegetarisch leben, auf das Fleisch sämtlicher Tierspezies auf die gleiche Art und Weise reagieren, wie Fleisch essende Menschen auf das Fleisch so genannter “exotischer Tiere” oder “Haustiere”, und damit einhergehend auch die Frage, wieso fast sämtliche psychologische Studien über Ekel - im Gegensatz zu Abneigung und Ablehnung - herausgefunden haben, dass dieser Ekel fast immer von Produkten tierischen Ursprungs ausgelöst wird[3].

Joy argumentiert, dass sich hinter all diesen Fragen ein unsichtbares System aus Überzeugungen, bzw. eine Ideologie, befindet, das sie Karnismus (carne bedeutet Fleisch und die Endung -ismus deutet auf ein Glaubenssystem oder eine Ideologie hin) nennt[4]. Sie argumentiert, dass dieses Glaubenssystem unbewusst bewirkt, dass die Werte von Menschen (“Ich bin gegen Tierquälerei.”) nicht mehr mit ihren tatsächlichen Handlungen (“Ich esse (bestimmte) Tiere.”) im Einklang sind und es dabei zu einer veränderten Wahrnehmung des Selbst und der eigenen Handlungen und Werte kommt, so dass es trotz allem den Anschein hat, als wären die Werte mit den Handlungen vereinbar[5]. Damit verbunden kommt es zu einer psychischen Betäubung (engl.: “psychic numbing”), einer Art emotionaler Abstumpfung, die Joy anhand der Ausführungen des Psychologen Robert Jay Lifton wie folgt beschreibt:

Psychische Betäubung ist eine Unterbrechung in der psycho-emotionalen Verarbeitung, die zu einem verminderten oder abgestumpften Empfinden führt. Sie wird ermöglicht durch und manifestiert in verschiedenen Abwehrmechanismen des Egos. Psychische Betäubung ermöglicht jemandem an gewaltvollen Praktiken teilzunehmen, ohne wahrnehmbare kognitiv-affektive Störungen zu erleben.[6][Anmerkung 1]

Joy vertritt die Ansicht, dass Karnismus einerseits eine dominante Ideologie sei, die in sämtliche gesellschaftlichen Institutionen (Familie, Staat, Wissenschaft, u.s.w.) verwoben ist, und andererseits eine gewaltvolle Ideologie, da Fleisch nicht ohne das Töten von Tieren hergestellt werden kann[7]. Sie vertritt weiterhin die These, dass Karnismus deshalb eine Reihe sozialer und psychologischer Abwehrmechanismen verwenden muss, die Menschen überhaupt erst dazu befähigt, emotional abzustumpfen und an gewaltvollen Praktiken teilzunehmen, die sie eigentlich niemals unterstützen würden. Diese Abwehrmechanismen teilt sie grob in drei große Kategorien ein: Leugnung, Rechtfertigung und Wahrnehmungsverzerrung.

Zusammengefasst lässt sich Joys These in sechs Schritte einteilen[8]:

  1. Menschen streben nach kognitiver Konsistenz und einem positiven Selbstbild.
  2. In der westlichen Kultur ist ein positives Selbstbild nicht mit Gewalt gegenüber unschuldigen Lebewesen vereinbar.
  3. Die aktuelle Fleischproduktion ist ein unnötiger Gewaltakt.
  4. Durch Fleischkonsum macht man sich an dieser Gewalt in einer gewissen Art mitverantwortlich.
  5. Deswegen löst Fleischkonsum kognitive moralische Dissonanz aus.
  6. Karnistische Betäubung mildert diese Dissonanz ab.

Karnistische Abwehrmechanismen

Karnismus benötigt laut Joy eine Reihe an psychologischen und sozialen Abwehrmechanismen, die es tierliebend eingestellten Menschen ermöglichen, an tierquälerischen Praktiken teilzunehmen, ohne vollständig zu realisieren, was sie tun. Diese Abwehrmechanismen lassen sich in drei Kategorien einteilen, die ihrerseits im sogenannten Neokarnismus wieder in eine eigene Ideologie verwandelt werden.

Leugnung

Der erste Abwehrmechanismus des karnistischen Systems ist Leugnung[9]. Sie drücke sich laut Joy zum Beispiel dadurch aus, dass man sich dessen noch nicht einmal bewusst ist, dass es so etwas wie ein karnistisches System, eine Ideologie, die um den Fleischkonsum herum aufgebaut ist, gibt. Sie drücke sich auch durch das Leugnen von Schmerzempfinden bei Tieren aus. Des Weiteren zeige sie sich u.a. in der Dissoziation, indem unangenehme Gedanken und Gefühle in Verbindung mit dem Fleischkonsum aus dem Bewusstsein ausgeschlossen werden[10], sowie in der Vermeidung mit der Konfrontation der Hintergründe der Fleischproduktion[11].

Die Leugnung äußere sich jedoch am stärksten durch die Unsichtbarkeit der Opfer des Karnismus. Dazu gehören natürlich in erster Linie die sogenannten Nutztiere, die ihr kurzes Leben zum größten Teil in Massentierhaltungsanlagen verbringen, zu denen Unbefugte keinen Zutritt haben. Die Leugnung zeige sich hier vor allem darin, dass versucht wird, die Zustände in diesen Betrieben vor dem öffentlichen Bewusstsein zu verbergen[12].

Jedoch seien laut Joy nicht nur manche Tiere Opfer von Karnismus. Auch die Umwelt (z.B. Klimagase, Umweltverschmutzung, Regenwaldrodung) und Menschen (z.B. mit dem Konsum tierischer Produkte verbundene Erkrankungen, psychische Störungen bei Schlachthausarbeitern) gehörten dazu[13].

Rechtfertigung

Joy argumentiert, dass Unsichtbarkeit und Leugnung allein nicht zur Aufrechterhaltung des karnistischen Systems reichen, zum Beispiel wenn Dokumentationen über die Zustände in Tierhaltungsbetrieben veröffentlicht werden, aber auch weil wir täglich mit Tierkörpern oder Teilen von Tierkörpern in Kontakt kommen, zum Beispiel in der Form von Fleisch. In solchen Momenten bediene sich Karnismus oftmals eines weiteren Abwehrmechanismus, den Joy die drei N’s der Rechtfertigung nennt: Fleischessen sei normal, natürlich und notwendig. Ihrer Auffassung nach seien alle Rechtfertigungsargumente auf diese drei Worte reduzierbar[14]. Zum Beispiel sei das Argument, dass jemand, der kein Fleisch zu sich nehme, an Proteinmangel leiden werde, unter dem Aspekt der Notwendigkeit aufzufassen. Des Weiteren zeigt sie auf, dass diese drei N’s der Rechtfertigung in der Geschichte der Menschheit auch benutzt worden sind, um andere dominante und gewaltvolle Ideologien zu legitimieren, wie zum Beispiel die Sklaverei, männliche Dominanz oder heterosexuelle Vormachtstellung. Dadurch zeigt sie gleichermaßen die Verbindung des Karnismus mit anderen diskriminierenden Ideologien, wie Rassismus und Sexismus, auf, sowie die Bedeutung des Wissens um Karnismus im Einsatz für soziale Gerechtigkeit[15].

Wahrnehmungsverzerrung

Der dritte große Abwehrmechanismus ist laut Joy Wahrnehmungsverzerrung, die sich durch folgende Merkmale äußern kann: Dichotomisierung bzw. Kategorisierung (Aufteilung von Spezies in essbar und nicht essbar)[16], Übergeneralisierung bzw. Entindividualisierung (Aberkennung jeglicher Persönlichkeit und Charakterzüge bei verschiedenen Tieren derselben Spezies)[17], Verobjektivierung bzw. Verdinglichung sachlichung (Tiere nicht als Lebewesen wahrnehmen, sondern als Nummern, Objekte oder Nahrungsmittel)[18], Rationalisierung (vermeintlich rationale Erklärungen für irrationales Verhaltenvermeintlich logische Erklärungen/Entschuldigungen für Fleischkonsum)[19] und Ekel bzw. die Abwesenheit von Ekelgefühlen[20]. Während Menschen, die kein Fleisch essen, in der Regel den Konsum aller Spezies als ekelhaft empfinden würden, würden dies Menschen, die Fleisch essen, nur bei der überragenden Mehrheit tun - mit Ausnahme der Spezies, die sie zu essen erlernt hätten.

Soziale Gerechtigkeit

Aus ihren Arbeiten schlussfolgernd argumentiert Joy, dass der Konsum von Tieren mehr als nur eine persönliche Entscheidung sei, sondern das unvermeidliche Resultat einer gesellschaftlich tief verwurzelten Ideologie[21]. Ihrer Auffassung nach ähnelt Karnismus strukturell anderen gewaltvollen Ideologien, wie Rassismus oder Sexismus, auch wenn sie betont, dass die Erfahrungen jeder Opfergruppe einzigartig seien. Die Abwehrmechanismen von Karnismus fänden sich auch in anderen diskriminierenden Glaubenssystemen wieder[22]. Deswegen sei es wichtig, die Gemeinsamkeiten dieser Ideologien auszumachen und sich dieser bewusst zu werden um weitere Gewalt- und Diskriminierungsformen zu vermeiden.

Aktuelle Forschungen

An der Universität Massachusetts in Boston arbeitet seit 2012 ein Team an Wissenschaftlern an der sogannenten Karnismus-Skala (engl.: carnism scale), einer Messskala, die auf der SDO-Skala (engl.: Social Dominance Orientation scale) basiert. Ausgehend von 97 in 11 Kategorien eingeteilte Aussagen, bei denen Probanden ihren Grad der Zustimmung angeben sollen, möchte man so den Grad an Karnismus von Individuen und Bevölkerungsgruppen messen. Bei einem ersten Verfahren wurden die Testpersonen, neben der Karnismus-Skala, u.a. auch an der SDO-Skala gemessen, wobei man einen nicht unerheblichenhohen Korrelationswert feststellte (r = 0,49)[Anmerkung 2]. Die Reliabilität der Karnismus-Skala erwies sich darüber hinaus als sehr hoch (𝞪 = 0,91; zum Vergleich SDO: 𝞪 = 0,83)[Anmerkung 3][23].

Bedeutung und Auswirkung

Die Karnismus-Theorie, sowie die aktuellen Forschungen, haben eine zentrale Bedeutung im Wissenschaftsfeld der Human-Animal Studies, indem das Verhältnis zwischen Menschen und jenen Tierspezies, die sie essen, untersucht wird. Die Forschungen und Arbeiten um die Karnismus-Theorie ermöglichen Hintergrundwissen um die psychologischen Wirkmechanismen des Fleischkonsums, u.a. auch abhängig von Geschlecht oder sozialem Milieu.

Auszeichnungen

Melanie Joy wurde im Rahmen ihrer Arbeiten um Karnismus folgende Preise verliehen:

  • Empty Cages (17. November 2012, Italien): Tierschutz-Preis überreicht durch den Stadtrat in Milan.
  • Ahimsa Award (9. Oktober 2013, Großbritannien): Preis für Gewaltlosigkeit überreicht im House of Commons in London.

Weiterführende Links

Literatur

  • Melanie Joy: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen. Karnismus - Eine Einführung. Compassion Media, 2013. ISBN 978-3-9814621-7-3
  • Jeff Mannes: Karnismus. In: Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hrsg.): Lexikon der Mensch/Tier-Beziehungen. transcript verlag, 2014. ISBN 978-3-8376-2232-4

Einzelnachweise

  1. Melanie Joy: From carnivore to carnist: Liberating the language of meat. In: Satya 8, 2001, S. 26-27
  2. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003
  3. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. 1
  4. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. ii
  5. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. 1
  6. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. ii
  7. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. 7-9
  8. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. 16-17
  9. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. 124
  10. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. 111-119
  11. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. 123-124
  12. Melanie Joy: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen. Karnismus - Eine Einführung, Münster 2013, S. 38
  13. Melanie Joy: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen. Karnismus - Eine Einführung, Münster 2013, S. 83-107
  14. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. 110-111
  15. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. 157-159
  16. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. 102-110
  17. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. 119-123
  18. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. 125-126
  19. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. 126-128
  20. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. 128
  21. Melanie Joy: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen. Karnismus - Eine Einführung, Münster 2013, S. 30-38
  22. Melanie Joy: Psychic Numbing and Meat Consumption: The Psychology of Carnism, Cambridge 2003, S. 157-159
  23. Michael Andrew Milburn, Christopher Antonio Monteiro, Marcus David Patterson: Development of the carnism scale. Symposium presentation at the Eastern Psychological Association Conference (Unveröffentlichter Vortrag), New York 2013

Anmerkungen

  1. Originalzitat im Englischen: Psychic numbing is an interruption in psychoemotional processing which leads to diminished or blunted feeling. It is facilitated by and manifested in various ego defense mechanisms. Psychic numbing is thought to allow one to participate in violent practices without experiencing apparent cognitive-affective disturbance.
  2. Pearsons Korrelationskoeffizient r misst in der Statistik den Grad des linearen Zusammenhangs zwischen zwei Merkmalen. Er kann einen Wert zwischen -1 (negative Korrelation; wenn das eine Merkmal eine hohe Ausprägung annimmt, nimmt das andere eine niedrige Ausprägung an) und +1 (positive Korrelation: bei hoher Ausprägung des einen auch hohe Ausprägung des anderen Merkmals) annehmen. Je näher der Wert an -1 oder +1 liegt, desto stärker ist der Zusammenhang.
  3. Cronbachs Alpha (𝞪) misst die Reliabilität bzw. die interne Konsistenz einer Skala. Er kann einen Wert zwischen 0 und 1 annehmen. Je größer der Wert, desto höher ist die Realibilität. Bei einem Wert ab 0,9 spricht man von exzellenter Reliabilität.