Benutzer:Josef Gaisbauer/A Santa Lucia
A Santa Lucia ist eine Oper in zwei Akten. Das Libretto verfasste Enrico Golisciani nach der Tragödie A Santa Lucia von Goffredo Cognetti; die Musik komponierte Pierantonio Tasca. Die Uraufführung fand am 16. November 1892 in Berlin am Kroll-Theater statt.
Werkdaten | |
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Titel: | A Santa Lucia |
Untertitel: | Melodramma in due atti |
Deckblatt der Notenausgabe (Klavierauszug) von A Santa Lucia von 1893 | |
Originalsprache: | Italienisch |
Musik: | Pierantonio Tasca |
Libretto: | Enrico Golisciani |
Literarische Vorlage: | A Santa Lucia von Goffredo Cognetti |
Uraufführung: | 16. November 1892 |
Ort der Uraufführung: | Berlin, Kroll-Oper |
Spieldauer: | ca. 70 Minuten |
Ort und Zeit der Handlung: | Am Ufer von Santa Lucia in Neapel, 1861 |
Personen | |
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Entstehung
Im November 1892 kamen die junge Mezzosopranistin Gemma Bellincioni (1864–1950) und ihr tenoraler Gemahl Roberto Stagno (1840–1897) zu einem ersten Gastspiel nach Berlin. Die Leitung des Kroll-Theaters, des Hauses am Excerzierplatz gegenüber dem Reichstag, wollte mit den berühmten Uraufführungsinterpreten der Cavalleria rusticana (1890) einen Gegenangriff gegen den unglaublichen Dauererfolg von Mascagnis Einakter an der Hofoper starten. Und der Clou ihres Gastspiels sollte nichts Geringeres als die Uraufführung einer italienischer Oper sein, die die Sänger empfohlen hatten. Es handelte sich um A Santa Lucia von Pierantonio Tasca (1864–1934). A Santa Lucia ist neben Leoncavallos I Pagliacci und Giordanos Mala vita (beide 1892) eine der ersten Opern, die nach dem Vorbild der Cavalleria eine tragische Geschichte bei den Ärmsten der Armen spielen lässt. Das Libretto stammte von Enrico Golisciani (1848–1918), der später u.a. mit Wolf-Ferrari zusammen arbeiten sollte. Ganz wie Mascagnis Librettisten hatte auch Golisciani ein originales, veristisches Theaterstück zur Vorlage genommen. Dessen Autor, Goffredo Cognetti, stellte jedoch keine tranche de vie aus dem unterwickelten Hinterland Siziliens auf die Bühne wie Giovanni Verga in der Cavalleria, sondern eine Art Fotografie des Alltags im Neapel des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Golisciani war wie Cognetti ein waschechter Neapolitaner, und so verwundert es nicht, dass allein schon das Libretto das Neapel der armen Fischer und Straßenverkäufer mit einer Genauigkeit und Lebendigkeit zu schildern vermag, die noch heute verblüfft. Da lässt es sich leicht verschmerzen, dass der tragische Ausgang hier weit weniger dem Schicksal als einer klassischen Intrige zu verdanken ist.
Handlung
I. Akt
Neapel 1861, am Ufer in der Nähe der Kirche Santa Lucia. Buntes, lautes Straßenleben: Händler, Straßenverkäufer, Besucher einer Schenke und Passanten rufen und singen durcheinander. Die mittellose Rosella bettelt mit ihrem unehelichen Kind neben dem Austernstand Totonnos. Da tritt dessen Sohn, der junge Fischer Ciccillo, auf und intoniert die Canzone von der „kleinen Rose, die stirbt“. Rosella erklärt Concettina, der neugierigen Tochter Tototonnos, die Entstehung dieses traurigen Lieds: Ciccillo habe es sich ausgedacht, als sie, Rosella, während der Schwangerschaft schwer krank wurde – Ciccillo ist der Vater des Kindes. Nach neapolitanischer Sitte er ist jedoch seit seiner Jugend verlobt. Die Versprochene, Maria, liebt ihn und möchte ihre Nebenbuhlerin aus dem Weg schaffen. Sie versucht, die cholerische Rosella zu provozieren, um sie ins Gefängnis zu bringen. Im Streit zieht Rosella tatsächlich das Messer. Totonno kann sie jedoch vor den Konsequenzen bewahren, indem er das Messer verschwinden lässt, als die Polizei sich einschaltet.
Ciccillo hält Rosella auf den Stufen zur Kirche an, um ihr mitzuteilen, dass er für ein Jahr auf einem Schiff angeheuert habe. Rosella weist ihn zunächst zurück. Schließlich gibt sie ihren Widerstand auf – sie schwören sich gegenseitig ewige Treue.
II. Akt
Ein Jahr später. Totonno hat Rosella nicht nur aus Nächstenliebe in sein Haus aufgenommen; denn er ist heimlich in sie verliebt und hat von dem Verhältnis des Sohnes zu ihr nie etwas erfahren. Maria nutzt diese Konstellation und erzählt dem heimkehrenden Ciccillo, Rosella würde bald seinen Vater heiraten. Ciccillo überhäuft Totonno mit Anschuldigungen und stößt die ihm freudig entgegen eilende Rosella von sich. Sie kann ihn nicht von ihrer Treue überzeugen und stürzt sich schließlich in ihrer Verzweiflung ins Meer. Aus den Fluten kann Ciccillo nur mehr eine Sterbende retten. Zufällig kommen Straßenmusiker vorbei und spielen das Lied von der „kleinen Rose, die stirbt“.
Komposition, Uraufführung in Berlin
Angesichts eines solchen Sujets ist es eigentlich erstaunlich, dass sich ein Mann wie Tasca dieses Librettos annahm. Denn gerade er kannte Menschen wie Turiddu und Santuzza aus seinem Alltag viel besser. Tasca wurde in Noto, südlich von Siracusa geboren – wenige Kilometer von dem Ort entfernt, wo Verga seine Erzählungen und Dramen spielen ließ. Die Familie Pierantonio Tascas war aber weit besser gestellt als Turiddus Mamma Lucia: Er wurde als Baron geboren. Während Turiddu für den Militärdienst Lola verlassen muss, sieht sich der junge Pierantonio nur von seinem Notenpapier getrennt. Es lohnt sich, aus einer Lebensbeschreibung eines Vorbericht zur Uraufführung zu zitieren, die im Berliner Börsen-Courier erschien:
„Tasca studirte fleißig und componirte seine erste Oper ‚Bianca’ [Florenz 1885]. [...] Tasca’s Beschäftigung als Componist erhielt eine Unterbrechung durch dessen Militärjahre. Nach beendetem Militärdienst lebte Tasca in Noto, und als der Bürgermeister der Stadt Noto starb, wählte das Stadtverordneten-Collegium einstimmig Tasca zum Bürgermeister. Somit war der junge Komponist mit 22 Jahren der jüngste aller Bürgermeister Italiens. Seine erste Verordnung war originell: Alle Musikkapellen in Stadt Noto und Umgebung haben Wagnersche Fragmente in ihr Repertoire aufzunehmen. Wie bereits gemeldet, hat Pierantonio Tasca dem Künstlerpaar Stagno-Bellincioni seine neueste Oper gewidmet, und diese fragten bei ihm telegraphisch an, ob er nicht nach Berlin reisen wollte, um die Oper persönlich zu insceniren. Tasca [...] packte in aller Eile seine Sachen zusammen und jagte über Palermo, Neapel, Rom, Florenz, Venedig, München nach Berlin, von wo er seinen Freunden das einzige Wort ‚Angekommen’ meldete.“
Tasca inszenierte die Oper nicht selbst, aber er wird dennoch nicht bereut haben, die lange Reise auf sich genommen zu haben. Denn als am 16. November 1892 die schöne, noch viel zu junge Rosella in den starken Armen Ciccillos ihr Leben aushaucht, bricht im Kroll-Theater das Publikum in Tränen und dann in rasende Begeisterung aus. Mit einer „tief eingreifenden Wirkung und einem so stürmischen äußeren Erfolg, wie er seit Mascagnis ‚Cavalleria rusticana‘ hier nicht erlebt worden ist“, so schrieb die Vossische Zeitung am nächsten Morgen, endete die Premiere. In den nächsten Jahren wurde A Santa Lucia nicht nur in Berlin wieder aufgenommen, sondern mindestens auch in Wien, Hamburg (unter der Leitung von Gustav Mahler), Prag, Triest, Manchester und Genua nachgespielt.
Es ist erstaunlich, dass auf diese Weise eine italienische, ja, eigentlich neapolitanische Verismo-Oper von einem Publikum gefeiert wird, dass die liebevollen Details im Lokalkolorit gar nicht würdigen konnte und die Geschichte vom Leben und Sterben im Hafenviertel für reichlich exotisch und ein wenig sonderbar hielt. Übrigens findet sich in keiner zeitgenössischen Kritik ein Hinweis darauf, dass man sich bewusst gewesen wäre, mit A Santa Lucia einen Blick auf eine versunkene Welt geworfen zu haben. Nach einer Cholera-Epidemie, die gerade in den Slums der Altstadt furchtbar gewütet hatte, war auch das Viertel um die Kirche St. Lucia Ende der 80er Jahre so grundlegend modernisiert worden, dass sich Straßenszenen wie die der Oper dort nicht mehr abspielten. Nun standen große Hotels für (deutsche) Touristen und mondäne Uferpromenaden an der Stelle der Buden der Fischverkäufer.
Die Musik der Oper
Der große Erfolg – Tascas Oper wurde auf deutschsprachigen Bühnen bis zum Ersten Weltkrieg häufiger gegeben als Andrea Chenier und Manon Lescaut – ist dagegen, was die Musik angeht, kein Missverständnis gewesen. Tasca komponierte eine gefällig und leicht fließende Musik, die sich geschmeidig den rasch wechselnden Situationen auf der Bühne anpassen kann. In der großartigen Einleitung mit ihren durcheinander singenden Solisten und Chorgruppen bietet er ein bis dato ungeahnt realistisches Abbild großstädtischen Chaos’. Hier, dann im Auftrittslied Ciccillos, die eine veritablen Canzone napoletana darstellt, und der Einleitung zum zweiten Akt mit aus den aus der Ferne klingenden Rufen und Liedern der Fischer zeigt sich Tasca als intimer Kenner der Musik Neapels. Als Glanzstück des Werks wurde von der zeitgenössischen Kritik das große Liebesduett am Ende des ersten Aktes gefeiert. Es ist aus kurzen Abschnitten gebildet, die genauer und rascher dem Gespräch der Liebenden zu folgen vermögen als die großbogigen Themen des frühen Mascagni oder Puccini.
Mitte der 1890er Jahre galt Tasca mit seiner Neapel-Berlin-Oper im deutschsprachigen Raum als wichtiger Vertreter der „jungitalienischen Schule“ neben Mascagni und Leoncavallo – bis Puccini seinen internationalen Siegeszug antrat. Die wenigen weiteren Opern Tascas, darunter ein Pergolesi, der im Berliner Theater des Westens 1898 uraufgeführt wurde, und eine Vertonung des berüchtigten Librettos zu La Lupa, das Giovanni Verga ursprünglich Puccini zugedacht hatte (Noto 1932), zogen jedenfalls keine größeren Kreise mehr.
Aufführungen im 21. Jahrhundert
Das Anhaltische Theater Dessau stellt A Santa Lucia 2017 in Kombination mit Cavalleria rusticana der interessierten Öffentlichkeit vor (Premiere 1. April 2017, Musikalische Leitung: GMD Markus L. Frank, Regie: Holger Potocki).
Literatur
- A Santa Lucia. Melodramma in due atti (dalle Scene popolari Napolitane di Goffredo Cognetti), musica di Pierantonio Tasca, versi di Enrico Golisciani, Firenze: Galletti e Cocci 1892 [Libretto]
- A Santa Lucia (Am Strande Santa Lucia.), Opera in due atti di Pierantonio Tasca, Orch.-Part., Berlin: Ed. Bote & G. Bock 1893
- A Santa Lucia (Am Strande Santa Lucia), Melodramma in due Atti (dalle Scene popolari Napolitane di Goffredo Cognetti), versi di Enrico Golisciani, musica di Pierantonio Tasca, Riduzione per Canto e Pianoforte di Joh. Doebber, Berlin: Ed. Bote & G. Bock 1893
- Losert, Felix: „Veder Napoli e morir!” – Opern mit Sujets aus dem Umkreis des neapolitanischen Verismo. Zu Giordano, Tasca, Spinelli und Wolf-Ferrari, in Maske und Kothurn 49, Stichwort: Verismo 1-2/2003, ISBN 978-3-205-77106-7, S. 69–98
- Losert, Felix: A Santa Lucia (Die vergessene Oper 181), in Orpheus 31 (Januar 2003), Nr. 1–2, S. 14–16
- Losert, Felix: Kampf ums Publikum. Deutsche und italienische Oper 1892 in Berlin: Weingartners „Genesius“ und Tascas „A Santa Lucia“, in: Bild der italienischen Oper in Deutschland, Kongressbericht Thurnau 2002 (Forum Musiktheater 1), Sebastian Werr, Daniel Brandenburg (Hrsg.), Lit-Verlag, Münster 2004, ISBN 3-8258-8279-9, S. 200–224