Benutzer:Karlhawe/Entwurf

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Goethes "gegenständliches Denken"

Humanitätsverständnis

Während des Übergangs vom Rokoko zum Klassizismus (um 1770) hatte es den jungen Johann Wolfgang Goethe zunächst zum Sturm und Drang (1765-1785) gezogen. Mit dem Schauspiel Götz von Berlichingen (1773) und dem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) hatte er frühen, literarischen Ruhm erlangt. Aber nach der Übersiedlung nach Weimar (1775) überraschte er nun als Erstes mit seinem Humanitätsdrama Iphigenie auf Tauris (1779). Ging es im "Götz" noch um den rauen Raubritter an der Wende zur Neuzeit, so geht es in der "Iphigenie" um die edle Humanität der Priesterin in einer idealisierten, griechischen Sagenwelt. Als Inspiratorin dieses Wechsels zum Klassizismus gilt allgemein die Hofdame Frau von Stein, eine für Goethe bisher ungekannte Verkörperung edlen weiblichen Wesens. Aber auch der Klassizismus selbst hatte zunehmend Einfluss auf Goethe gewonnen. Hierfür tonangebend war vor allem Johann Joachim Winckelmann (1717-1768), der eigentliche geistige Begründer der neuen Kunstrichtung im deutschsprachigen Raum. In Ablehnung des verspielten Rokoko hatte er sich den strengen, geradlinigen Formen der antiken, griechischen Kunst zugewandt und pries deren Wesen als "edle Einfalt und stille Größe".[1] In den frühen Griechen sah Winckelmann den Höhepunkt der Menschheitsentwicklung und ewig gültige Vorbilder. Seiner Aufforderung, auf dem Weg der "Nachahmung der Alten"[2] eigene künstlerische Größe zu erlangen, wollte der Dichter Goethe jedoch nicht folgen. Gleichwohl hat er die große Bedeutung Winckelmanns für den Klassizismus in seinem Buch "Winckelmann und sein Jahrhundert" (1805) anerkannt. Speziell zur Humanität inspiriert wurde Goethe durch Johann Gottfried Herder (1744-1803). Mit ihm hatte Goethe bereits während seiner Straßburger Studienzeit 1771 eine enge, langanhaltende Freundschaft begründet. Der fünf Jahre ältere Herder hatte während seiner Studien in Königsberg (1762-1764) Vorlesungen beim Aufklärer Immanuel Kant (1724-1804) gehört und bezeichnete diesen als einen "wahren Lehrer der Humanität". Seine eigenen Ideen hierzu hat Herder in wichtigen Schriften [3] niedergelegt.

In der Entstehungsgeschichte des Schauspiels Iphigenie auf Tauris wird Goethes erstes Konzept bereits auf 1776 datiert. [4] Im Jahr 1779 folgte die Prosafassung, welche innerhalb weniger Wochen entstanden und anschließend im Liebhabertheater des Weimarer Hofes uraufgeführt worden ist. Dazu hat Goethe notiert: "Iphigenie gespielt. Gar gute Würkung davon besonders auf reine Menschen." [5] Es bedurfte für Goethe der Italienreise (1786-1787), um das Iphigenie-Manuskript mittels fünffüßiger Jamben, ohne Reim, zur Klassik zu erheben. Auch heute noch erschließt sich aus Goethes schöner Utopie ein bedeutender Humanitätsgehalt. Die Kernbotschaft lautet: Der Mensch muss die Humanität aus sich selbst erringen; es gibt nur diesen Weg beim Streben nach vollendeter Sittlichkeit. [6] Die zur Erlangung der Humanität unerlässliche Grundtugend ist die Wahrheit; diese muss von Innen, aus dem Herzen kommen.[...] Eine das allgemeine Frauenschicksal anklagende Humanitätskomponente gipfelt im Appell zur Emanzipation der Frauen und in der Mahnung, der Frauen Wort zu achten. [7] Menschlichkeit beginnt mit einem menschlichen Umgang mit sich selbst; diese besteht unter anderem darin, sich selbst nicht zu überfordern. [...] Die über der Handlung schwebende Humanitätskatastrophe, die Hinrichtung eines jeden Fremden, der an der Insel Taurus strandet, nur weil er ein Fremder ist, beruht auf einem unheilvoll radikalen Gesetz; das ältere, humane Gastrecht ist demgegenüber heilig zu halten.[8]

Eine Sonderstellung in Goethes Humanitätsdichtung behauptet auch seine 1783 entstandene Ode Das Göttliche. Nach Karl Otto Conrady äußert "wohl kein Gedicht Goethes [...] eindringlicher die Forderung nach humanem Verhalten. [...] allein die sittlichen Eigenschaften machen den Menschen hier zum Menschen".[9] Die besondere Schönheit des Gedichts klingt gleich zu Beginn an: "Edel sei der Mensch, / Hilfreich und gut! / Denn das allein / Unterscheidet ihn / Von allen Wesen / Die wir kennen." Vom edlen Menschen fordert Goethe geradezu Göttliches: Er "sei uns ein Vorbild jener geahnten Wesen" und "Sein Beispiel lehr' uns jene glauben". Der ethische Impetus des Gedichts, hilfreich und gut zu sein, ist demgegenüber rein mitmenschlich orientiert. Dabei fällt auf, dass die Ode nur vom Guten, nicht auch vom Wahren und Schönen handelt. Die Trias des Wahren, Schönen, Guten lag Goethe zu der Zeit noch nicht vor.

Erst 1784 hat Johann Gottfried Herder seine Idee einer Humanitäts-Trias veröffentlicht. Im Ersten Teil seines Werkes Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit schreibt er: "Wahrheit, Schönheit und Liebe waren das Ziel, nach dem der Mensch in jeder seiner Bemühungen, auch ihm selbst unbewusst und oft auf so unrechten Wegen, strebte."[10] Wie von Herder im Text hervorgehoben, sollte "auch die Liebe [...] bei den Menschen human sein"; dafür brachte die Natur die beiden Geschlechter unter das Gesetz eines freiwilligen Bundes zweier Wesen, "die sich durchs ganze Leben [...] vereint fühlen". [11] Statt sich dieses Ideal zu Eigen zu machen, hat Goethe im Dreiklang der Humanitätstrias die Liebe" gegen das Gute getauscht. Dieser modifizierte Humanitätsdreiklang des Wahren, Guten und Schönen, welcher der Weimarer Klassik den hohen Ton edler Menschlichkeit hinzugefügt hat, galt lange als humanes Glanzstück. Besonders deutlich wird dies in Goethes Gedicht Epilog zu Schillers Glocke, eine klassische Klage über den Tod des Dichterfreundes. Sie verbindet die Verherrlichung der geistigen Größe von Friedrich Schiller mit der seines idealistischen Humanitätsstrebens: "Indessen schritt sein Geist gewaltig fort / Ins ewige des Wahren, Guten und Schönen, / Und hinter ihm, im wesenlosen Scheine, / Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine."[12]

Herders humanitäre Leitsätze zeigen auch sonst deutliche Unterschiede zu Goethe. Der Satz: "Zur Humanität und Religion ist der Mensch gebildet" [13] besagt unter anderem, dass die beiden geistig-moralischen Kräfte sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern sogar miteinander vereinbar sind. Allerdings bleibt für Herder "die Religion die höchste Humanität des Menschen".[14] Die Anlage zur Humanität schlummert bereits im Menschen, sie muss allerdings geweckt werden; und dies gilt für alle Menschen aller Länder dieser Erde, nicht nur für Auserlesene."[15] Besonders beachtlich erscheint schließlich auch die Aussage: "Unsere Humanität ist aber nur Vorübung, die Knospe zu einer zukünftigen Blume." Das Humanitätsziel liegt hoch, und "die Erde ist nur ein Übungsplatz, eine Vorbereitungsstätte."[...] Was aus unserer Menschheit allein in die jenseitige Welt übergehen kann: "es ist eben diese gottähnliche Humanität, die verschlossene Knospe der wahren Gestalt der Menschheit".[16]

Die von der Weimarer Klassik entwickelte Humanitätsidee ist demgegenüber kein globales Konzept. Sie umfasst nicht die ganz Menschheit, sondern setzt zunächst ein individuelles Ziel der geistigen Selbstformung, etwa: zu harmonisch freiem Menschentum, zu schönem Gleichgewicht der Kräfte, zur Versöhnung des Gegensatzes von Sittlichkeit und Sinnlichkeit. Sie steht damit im Gegensatz zum Christentum mit seinen festen Normen des Dekalogs und sie steht auch im Gegensatz zu Herders Vision eines alle Menschen und alle Völker umfassenden Humanitätsbegriffs. An erster Stelle fordert Goethe: "Edel sei der Mensch". Es gilt, durch ausdauerndes geistiges Streben auf der Bildungspyramide möglichst hoch zu steigen. Das "Gemeine", also der unten in der Pyramide verbleibende Teil der Menschheit, soll zwar "hilfreich und gut" unterstützt werden, aber für allgemeine, positive Menschenrechte wird bewusst keine Lanze gebrochen.[17] In Goethes Spätwerk Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821) dominieren Realismus und Nützlichkeit. Die Aufwertung des Nützlichen erfolgt im Einklang mit den heraufkommenden ökonomisch-sozialen Umwälzungen. Deshalb lautet jetzt, nach Eduard Spranger (1882-1963), "die Wahrheit des neuen Wahlspruchs: Vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen. Diese weltanschauliche Wendung greift heldenhaft voraus in die nüchterne Arbeitsstimmung des 19. Jahrhunderts".[18]

Einzelnachweise

  1. Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Zweite, vermehrter Auflage, Verlag der Waltherischen Handlung, Dresden und Leipzig 1756. Neuausgabe Sammlung Hofenberg, Berlin 2016, S. 20.
  2. Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Zweite, vermehrte Auflage, Verlag der Waltherischne Handlung, Dresden und Leipzig 1756. Neuausgabe Sammlung Hofenberg, Berlin 2016, S. 7.
  3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) und Briefe zur Beförderung der Humanität (1793-1797)
  4. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, 16. Auflage. Band 5, S. 418.
  5. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, 16. Auflage. Band 5, S. 419.
  6. Karl-Heinz Wollesen: "Literatur, sonst nichts?" Die Weimarer Klassik zwischen Humanität, Idealismus und nationalsozialistischer Barbarei. Aachen 2014, S. 229.
  7. Karl-Heinz Wollesen: "Literatur, sonst nichts?" Die Weimarer Klassik zwischen Humanität, Idealismus und nationalsozialistischer Barbarei. Aachen 2014. S. 230.
  8. Karl-Heinz Wollesen: "Literatur, sonst nichts?" Die Weimarer Klassik zwischen Humanität, Idealismus und nationalsozialistischer Barbarei. Aachen 2014. S. 231, 232.
  9. Conrady, Karl Otto: Goethe - Leben und Werk. München 1994, S.387,389.
  10. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Berliner Ausgabe 2017, S. 115.
  11. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Berliner Ausgabe 2017, S. 95.
  12. Goethes Werke, Hamburger Ausgabe. 16. Aufl., Bd. 1, S. 257, Auszug.
  13. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Berliner Ausgabe 2017, S. 94.
  14. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Berliner Ausgabe, 2017. S. 98:
  15. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Berliner Ausgabe 2017, S. 119.
  16. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Berliner Ausgabe 2017, S. 114,115.
  17. Karl-Heinz Wollesen: "Literatur, sonst nichts?" Die Weimarer Klassik zwischen Humanität, Idealismus und nationalsozialistischer Barbarei. Aachen 2014, S. 168.
  18. Eduard Spranger: Goethe - Seine geistige Welt. Tübingen 1967, S. 301.