Benutzer:Kollektives Schreiben/Konzept
Theorie-Praxis-Differenz bei den Neuen Medien
Der Medientheoretiker Norbert Bolz vertritt in seiner 1993 erschienenen Publikation "Am Ende der Gutenberg-Galaxis" die Ansicht, das interaktionsarme Buch werde seinen Stellenwert als Leitmedium an den vernetzten und multimedialen Computer abtreten. Im Anschluss an diese These erscheint es durchaus folgerichtig, dass mit der Überwindung medialer Zwänge der Druckkultur das Prinzip kollektiver bzw. kollaborativer Autorschaft in den elektronischen Datennetzen an Bedeutung gewinnen wird.
Allerdings beendet Bolz sein Buch mit der Prognose, man werde womöglich „noch lange auf überzeugende technische Implementierungen von Hypermedien“ warten müssen. Das Fehlen konkreter Medienprodukte, bei denen das theoretisch postulierte revolutionäre Potential der EDV-Kommunikation tatsächlich umgesetzt wird, ist bis heute ein immer wieder beschworenes Dilemma aktueller Medientheorie.
Dieses Ungleichgewicht zwischen Theorie und Praxis tritt auch dort zu Tage, wo nach den Folgen des Medienwandels in Hinblick auf Konzepte von Autorschaft gefragt wird. So ließ sich bislang weder der literaturwissenschaftliche Topos vom "Tod des Autors" im Internet, noch ein radikal verändertes Verhältnis zwischen Autor und Leser an empirischen Hypertexten überzeugend belegen.
Das Wiki-Prinzip als Katalysator einer "heimlichen" Medienrevolution?
Seit einiger Zeit sorgt mit dem sogenannten Wiki-Prinzip ein innovatives Modell kollaborativen Schreibens zunehmend für Aufsehen innerhalb der Netzkultur. Das zur Zeit größte und bekannteste Projekt, das auf der Wiki-Technologie basiert, ist die Online-Enzyklopädie Wikipedia. In einer programmatisch verankerten radikalen Offenheit macht es das Projekt jedem Internetnutzer potentiell möglich, sich über einen einfachen webbasierten Eingabemodus zu beteiligen: Beiträge können grundsätzlich von jedermann neu angelegt, verändert, ergänzt oder gelöscht (bzw. zur Löschung vorgeschlagen) werden.
Tatsächlich wird durch die Möglichkeit des unmittelbaren Modifizierens einer zentral gespeicherten Texteinheit durch jedermann eine ursprüngliche Idee des World Wide Web umgesetzt, womit Rezeption und Produktion von Texten näher aneinander rücken und die Unterscheidung zwischen Autor und Leser problematisch wird. (Dass die Beteiligung des Lesers bei vielen Hypertexten nicht über das Klicken vorgefertigter Verweise hinausgeht, ist ein häufig vorgetragener Kritikpunkt bei der Bewertung des interaktiven Potentials vieler Hypertexte).
Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, wie das Wiki-Prinzip als neue Form elektronischen Publizierens in einem medientheoretischen Kontext einzuordnen ist. Da sich dieses Phänomen der Netzkultur zunächst weitgehend unbemerkt von der allgemeinen Öffentlichkeit verbreitet hat und erst seit Anfang 2003 auch in den traditionellen Offline-Medien verstärkt darüber berichtet wird, sprechen Netzaktivisten mitunter von einer "heimlichen" Medienrevolution, die derzeit im Gange sei.
In meiner Arbeit möchte ich mich mit dem Wiki-Prinzip im Rahmen der Problematik veränderter Autorkonzepte in der vernetzten EDV-Kommunikation beschäftigen. Ein Hauptaugenmerk liegt daher auf dem Zusammenhang zwischen dem Wandel der medialen Bedingungen von der Druck- zur EDV-Kultur und den möglichen Folgen für die Ausdifferenzierung von Autorkonzepten.
Zum Problem Autorschaft
Im alltäglichen Umgang mit Literatur ist der 'Autor' als Ordnungsprinzip eine zentrale Größe, beispielsweise im Sprechen über Literatur ("Der neue Mankell") oder in Bibliotheken und im Buchhandel (Autorname als Katalogisierungsprinzip).
Im Gegensatz zur literarischen Praxis wird das Konzept 'Autor' in der Literaturtheorie zunehmend problematisiert. Spätestens seit Michel Foucaults Vortrag "Was ist ein Autor?" wird die Einheit von Autor und Werk sowie die Einheit des Werks zugunsten einer Analyse von Diskursen aufgelöst, um die vielfältigen historischen und systematischen Funktionen des Autors zu erfassen.
So haben sich die bis heute in der Praxis gültigen ästhetischen, juristischen und ökonomischen Bedingungen von Autorschaft erst in der Goethezeit herausgebildet: Es entwickelte sich der 'freie Schriftsteller' und damit die Konzeption vom Autor als Schöpfer, vom Urheber als Persönlichkeit und vom Werk als Individualität und Ganzheit.
Autorschaft im medialen Wandel
Neben sozialgeschichtlichen Faktoren scheint das neuzeitliche Prinzip Autorschaft eng mit den medialen Rahmenbedingungen des Buchdrucks verknüpft zu sein. Michael Giesecke bezeichnet die Vorstellung vom 'Autor als alleinigen Schöpfer' als einen Mythos der Buchkultur, der die Möglichkeiten vernetzten Arbeitens unnötig einschränke: Aufgrund der technischen Voraussetzungen der EDV-Kultur (Offenheit, Dynamisierung, Vernetzung) würden digitale Informationen zukünftig eher kollektiv produziert, als dass sie sich personal zurechnen ließen.
Es stellt sich die Frage, ob tatsächlich von einem Niedergang personaler Autorschaft in der vernetzten EDV-Kommunikation gesprochen werden kann. Wenn im Internet potentiell jeder publizieren kann, so kommt es zwangsläufig zu einer unüberschaubaren Informationsflut, in der gewisse Selektionskriterien greifen müssen. Am Beispiel der auch in Deutschland florierenden Weblog-Szene möchte ich deshalb zunächst erörtern, unter welchen Bedingungen das Konzept vom Autor als Persönlichkeit und individuellem Schöpfer auch im Rahmen vernetzter EDV-Kommunikation funktioniert.
Der thematische Schwerpunkt meiner Arbeit soll jedoch auf die Aspekte neuer Konzepte kollaborativer Autorschaft gelegt werden. Nach einer Begriffsklärung verschiedener Vorstellungen "kollektiven Schreibens", sollen am Beispiel der Online-Enzyklopädie Wikipedia die Auswirkungen auf traditionelle Autorkonzepte näher beleuchtet werden, insbesondere aus medientheoretischer Perspektive. Ausgehend von der These, dass sich infolge innovativer technischer Implementierungen in kollektiv arbeitenden Systemen neue Konzepte und Funktionen von Autorschaft ausdifferenzieren, möchte ich die Problematik kollaborativer Autorschaft und offener Textformen eingehend untersuchen.
Ein veränderter Textbegriff und die radikale Offenheit des Wikipedia-Projekts (jeder darf partizipieren) führen nicht zuletzt zu einer steigenden Bedeutung der Sozialdimension von Texten. Vernetzung und Offenheit gestehen auch "kontraproduktiven" Personen eine Form von Autorschaft zu. Die allgemeine Tendenz der Anonymisierung und Pseudonymisierung innerhalb der Netzkommunikation verstärkt diesen Effekt.