Benutzer:Leona Brock/Die Frau, die es nicht gab

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Die Frau, die es nicht gab (englischer Originaltitel: The Vanishing Act of Esme Lennox) von Maggie O'Farrell wurde 2006 in London veröffentlicht und ist ein Roman, der in Edinburgh spielt und die Geschichte des verlorenen Lebens von Esme Lennox erzählt. Durch das Aufbegehren gegen die Zwänge der Gesellschaft der 1930er wird die junge Frau von ihrer Familie im Alter von 16 Jahren in eine psychiatrische Anstalt geschickt und verschwindet 60 Jahre lang aus dem Leben ihrer Mitmenschen.

Inhalt

Handlung

Der Roman entfaltet sich auf drei Handlungsebenen: Dem kolonialen Indien, dem edwardianischen Edinburgh der 1930er-Jahre und dem Edinburgh der Jahrtausendwende.

Indien

Esme Lennox wird als Teil einer schottischen Familie der Oberklasse im kolonialen Indien geboren und wächst dort mit ihrer sechs Jahre älteren Schwester Kitty, ihrem wenige Monate alten Bruder Hugo und ihren Eltern auf. In ihrem Anwesen werden die zwei Schwestern, die ein enges Verhältnis zueinander pflegen, von einer Gouvernante unterrichtet.[1] Während Kitty mit Fleiß ihre Aufgaben erledigt, will die junge Esme viel lieber im Garten unter den hohen Mimosenbäumen[2] spielen oder ihren Bruder in der Kinderstube besuchen.[3]

Eines Tages werden Esmes Eltern zusammen mit Kitty zu einem Fest im Landesinneren eingeladen und lassen Esme als Strafe bei Hugo und den Bediensteten des Anwesens über mehrere Tage zurück. "Hugo wurde nicht mitgenommen, weil er noch zu klein war, und Esme musste zu Hause bleiben, weil sie in Ungnade gefallen war, nachdem man sie zwei Tage zuvor beim Barfußlaufen in der Auffahrt erwischt hatte."[4] In dieser Zeit sterben sowohl Hugo als auch sein Kindermädchen an Typhus, während die restlichen Angestellten flüchten und Esme drei Tage lang allein zurücklassen. Die ganze Zeit umklammert Esme die Leiche ihres Bruders so fest, dass er ihr aus den Armen gerissen werden muss, als die Familie schließlich zurückkehrt. Die Familie beschließt Indien zu verlassen und so legen sie in Bombay[5] mit einem Schiff ab, um bei Esmes Großmutter väterlicherseits in Edinburgh zu leben.

Edinburgh der 1930er

In Edinburgh angekommen wird schnell klar, dass sich Esme nur schwer an das neue Leben und die nun erwünschten sozialen Konventionen anpassen kann. Ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester, welche in den Augen der Familie dem Anspruch, den eine junge heiratsfähige Frau erfüllen soll, vollkommen entspricht. Während Kitty sich mit Begeisterung um gestärkte Falten im Rock[6] kümmert, vergisst Esme ständig ihre Handschuhe und wundert sich, woher Kitty weiß, wie und wann man eine Baskenmütze richtig trägt.[7] Aufgrund Esmes Schwierigkeiten die neuen Regeln der Weiblichkeit zu verstehen und sich an sie anzupassen, [8] treibt die Zeit die sich liebenden Schwestern auseinander und lässt Esme in den Augen der Familie in Ungnade fallen. Auch der Umgang mit dem erlebten Trauma, dem Tod ihres Bruders, macht Esme die Sache nicht leichter, da die Familie ihr verbietet, auch nur ein Wort über ihn zu reden.[9] Einzig der Gefallen an der Schule und der Wunsch, später eine Universität zu besuchen, macht Esme in dem kalten Edinburgh Freude. Aber zu ihrem Unwillen wollen Esmes Eltern sie stattdessen verheiraten, um ihrem Kind den Eigensinn und die Wildheit auszutreiben, aber Esme beschließt: „Ich heirate nie, […].“[10] Wider aller Erwartungen weckt Esme bei dem Jungen Jamie Dalziel, auf den Kitty ein Auge geworfen hat, Interesse. Als sich Esme gegen das Werben Jamies wehrt, wird das Unverständnis und die Scham der Familie auf die Spitze getrieben, als sich ihre Tochter weigert, ihre langen Haare zu schneiden und erwischt wird, während sie in dem Nachthemd ihrer Mutter vor dem Spiegel tanzt.[11] Auf einem Ball wird sie schließlich von Jamie Dalziel, der von ihrer wilden Sturheit angetan ist, vergewaltigt.[12] Unfähig, dieses Trauma zu verarbeiten, kann Esme nichts tun, außer unkontrolliert zu schreien, um so ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen.[13] Ihre Eltern sehen sich gezwungen, die 16-jährige Esme in die Irrenanstalt Cauldstone einzuliefern. Esmes Mutter ist bereit, das rebellische Mädchen, welches die alte Schuld einer Mutter verkörpert, die ihren Sohn in der Nacht seines Todes allein gelassen hat, mit allen Mitteln zu unterwerfen. Die Tochter, die als Störung und Verlegenheit empfunden wird, soll in der Anstalt lernen, sich endlich zu benehmen und zu einer respektablen Frau werden.[8] In der Anstalt bringt Esme einen Sohn zur Welt, welcher ihr sofort aus den Armen gerissen wird und ohne Esmes Zutun an ihre kinderlose und nun verheiratete Schwester Kitty übergeben wird, welche ihn stillschweigend als eigenen Sohn großzieht.[14] Die Familie verbietet erneut, jemals wieder von Esme zu reden oder sie je in der Anstalt, in der die junge Frau unschuldig 60 Jahre lang festgehalten wird, zu besuchen. „Mutter und Vater hatten eines Abends, unmittelbar vor meiner Hochzeit gesagt, dass ihr Name nie wieder erwähnt werden dürfe und dass sie mir dankbar seien, wenn ich mich daran hielte. Und ich tat es, ich hielt mich daran […]“[15] Esme wird somit vollständig aus ihrer Familiengeschichte und ihrem Leben gestrichen.

Edinburgh der Gegenwart

Als die Irrenanstalt 60 Jahre später geschlossen wird, ist Iris, die Enkeltochter von Esme, welche in der Lüge lebt, die nun an Alzheimer erkrankte Kitty als Großmutter zu haben, diejenige, die von Cauldstone kontaktiert wird. Iris, welche einen Secondhandladen führt, hat noch nie von Esme gehört, aber nimmt diese, als sie die schreckliche Wohnsituation sieht, in die Esme überliefert werden soll, trotz jedes Zweifels mit zu sich nach Hause. Die Warnungen von Iris‘ Freunden ignorierend, nimmt sie die vermeintlich Verrückte bei sich auf und entdeckt, dass diese gar nicht so verrückt ist wie ursprünglich gedacht. Iris und Esme entdecken sich als die Verwandten, die sie in Wahrheit sind, und der Roman endet mit einem letzten und endgültigen Aufeinandertreffen der entlassenen und von ihrer Familie verleugneten Esme und der schuldvollen, an Alzheimer erkrankten Kitty.

Personen

Euphemia (Esme) Lennox

Euphemia Lennox, welche Esme genannt wird, ist die Protagonisten des Romans. Sie hat einen mutigen, unabhängigen Geist, der in ihrer Jugend für ein Mädchen unangemessen ist.[16] Das Heranwachsen zu einer temperamentvollen jungen Frau, die sich weigert, ihre vorhergesehene Rolle auf dem patriarchalischen Heiratsmarkt zu spielen,[8] entfremdet sie von ihrer Schwester Kitty und der restlichen Familie, welche sie beschämend finden. Mit 16 Jahren wird ihr mit der Einlieferung in eine Irrenanstalt ihr Leben genommen, welches von dem Trauma ihres verstorbenen Bruders, der darauffolgenden Verweigerung ihrer Mutter, sie anzusehen oder anzusprechen und einer Vergewaltigung geprägt ist.[17]

Indem Esmes Namen in der Anstalt durch ihren offiziellen Namen Euphemia ersetzt wird, geschieht eine buchstäbliche Ausrottung ihrer Identität als Kind ihrer Eltern und als Schwester von Kitty.[8] Im Kontrast zur jungen rebellischen Esme steht die Esme, welche nach 60 Jahren aus der Irrenanstalt entlassen wird und zu einer naiven, institutionalisierten alten Frau geworden ist, welche es versteht, sich für andere unsichtbar zu machen.[17] Durch das Verschwinden aus der realen Welt der gesunden Menschen, in der sie von ihrer Familie vergessen wurde, entwickelt Esme einen Bewältigungsmechanismus, in dem sie nur in ihren Erinnerungen lebt, um ihren Verstand zu bewahren.[18] Esme ist eine Frau, die zur falschen Zeit am falschen Ort geboren wurde und so zum Opfer und Sündenbock einer Gesellschaft wird.[19]

Kathleen (Kitty) Lennox

Kathleen Lennox, welche Kitty genannt wird, ist die sechs Jahre ältere Schwester von Esme. Kitty ist als Favoritin ihrer Mutter diszipliniert[19] und besessen von dem Wunsch, eine pflichtbewusste Mutter und Ehefrau zu werden.[8] Die Unzertrennlichkeit zu ihrer Schwester schwindet, als diese sich Kittys Welt der sozialen Konventionen nicht anschließen will und wird zu Eifersucht, als sich der von Kitty begehrte Mann stattdessen für Esme interessiert.[19] „Warum sie und nicht ich? Ich war hübscher, das wurde mir immer wieder bestätigt, ich war älter, also näher an seinem Alter. Ich konnte Sachen, die sie nie meistern würde.“[20] Die Schwierigkeiten Kittys, zu verstehen, dass jemand ohne Etikette und ohne Ambitionen zu heiraten, möglicherweise attraktiver erscheinen kann als sie, die Frau, die darauf bedacht ist, allen Normen zu gefallen und sich an das zu halten, was die Gesellschaft für ihr Geschlecht vorsieht, machen ihr es schwer, ihrer Schwester zu verzeihen.[8] Nach Esmes Einweisung heiratet Kitty Duncan Lockhart, welcher anfängt, sie Kathleen zu nennen, da ihm der Name Kitty zu kindisch ist.[21] Ihre Ehe bleibt kinderlos und Kittys Wunsch, in der Gesellschaft die ihr zugeteilte Rolle perfekt zu spielen, wird so allmächtig, dass sie sogar ihre Schwester verrät und ihren Sohn stiehlt, um ihn als eigenes Kind aufzuziehen.[19] Kitty nutzt daher die Folgen von Esmes Rebellion gegen die edwardianische Geschlechternormen, um ihre eigene Kinderlosigkeit auszugleichen. Sie schafft es, ihren Anstand und ihren Platz in der Gesellschaft zu bewahren, indem sie eine Frau ausbeutet, welche davon ausgeschlossen wurde.[8] Als alte, an Alzheimer erkrankte Frau ist sie in ihren wirren Erinnerungen gefangen, die von Schuldgefühlen geprägt sind.

Iris Lockhart

Iris ist die vermeintliche Großnichte von Esme und Enkeltochter von Kitty. Sie wird als eine Frau porträtiert, deren Möglichkeiten im Leben so vielfach sind, wie es sich Esme in ihrer Jugend immer gewünscht hat. Iris lebt allein mit ihrem Hund, nimmt sich Liebhaber und hat keinen Wunsch zur Heirat. Befangen nimmt die junge Frau Esme auf, als diese aus der Anstalt entlassen wird. Von Neugier getrieben fängt sie eine Suche nach der wahren Vergangenheit ihrer Familiengeschichte an.

Form

Die Erzählung des Romans wird von Esmes Erinnerungen an ihre Kindheit, von den Alzheimer beeinträchtigte Erinnerungen ihrer Schwester Kitty und der Geschichte von Iris in der Gegenwart präsentiert.[8] Der Roman setzt sich aus den Innenleben der Charaktere zusammen, welche immerzu hin und her springen, wodurch die drei verschiedenen narrativen Standpunkte gegenübergestellt werden und sich so das Rätsel von Esmes Leben zusammensetzt.[16] Esme versucht in ihren Gedanken aus der abgeschotteten Welt der Anstalt einige schöne Erinnerungen wiederzuentdecken und andere zu meiden, während Kitty in dem Pflegeheim als Ausdruck ihrer Krankheit gedanklich alte Fehler und Ausreden durchspielt. Die kleinen, meist anachronischen Teile aus Esmes Erinnerungen werden durch die Versionen anderer Personen oft bestätigt, manchmal jedoch infrage gestellt. Dabei arbeitet der Roman mit strategisch platzierten Hinweisen und Enthüllungen eines psychologischen Thrillers und springt zusätzlich zu den drei Personen auch zwischen Ort und Zeit des kolonialen Indiens, des Edinburghs der 1930er-Jahre und der Gegenwart hin und her. [17] Die Erinnerungen von Esme und Kitty fügen sich in dem Roman mittels der fehlenden Fäden eines verlorenen Lebens, welchen Iris auf der Spur ist, als eine Art Beichte zusammen.[19]

Thema

Weiblicher Wahnsinn

Die Autorin Elaine Showalter untersucht die Thematik des weiblichen Wahnsinns in ihrem einflussreichen Buch The Female Malady: Women, Madness and English Culture, 1830-1980 (1987). Dabei stellt sie fest, dass Wahnsinn als Begriff verwendet werden kann, um Frauen, die nicht dem weiblichen Stereotyp entsprechen, zu entwerten. Dabei war der überwiegend männlich geprägte psychiatrische Diskurs ausschlaggebend für die Art und Weise, wie Frauen betrachtet und behandelt werden. Wahnsinn kann in diesem Kontext als eine verständliche Reaktion auf die patriarchalische Gesellschaft angesehen werden.[22] Dieser weibliche Wahnsinn ist das Grundthema von Die Frau, die es nicht gab und beschäftigt sich mit der Aufdeckung und der Kritik an Fehleinschätzungen der Symptome weiblicher Patienten durch viktorianische und edwardianische männliche Praktiker.[8] O’Farrell zeigt in ihrem Roman auf, wie Frauen und ihre Geschichten sowohl physisch als auch mündlich von Ärzten und Therapeuten als medizinische Erzählungen und Theorien interpretiert und umgeschrieben werden. Dabei ist anzumerken, dass dies nicht als wissenschaftliche Beobachtung fungiert, sondern als Fiktion, in der Ärzte und die dominanten Kulturen, die sie vertreten, die Rolle von Autoren anstelle von Wissenschaftern einnehmen.[8]

Der Roman präsentiert und kritisiert die Prozesse der Medizin, durch die Esme zunächst zum Schweigen gebracht wird, und die Konsequenzen, die dieses Schweigen für sie hat, als sie durch ihren offiziellen Namen Euphemia einen Teil ihrer Identität aufgeben muss. Als hysterisch und schizophren abgestempelt, hört Esme auf, in der Welt außerhalb der Asylmauern zu existieren.[8] „Seit Euphemia in Cauldstone ist, wurden bei ihr von unseren Mitarbeitern die unterschiedlichsten Störungen diagnostiziert.“[23] „Persönlichkeitsstörung, […] bipolar und Elektrokrampftherapie.“[23] Die Hauptgründe durch die Esme, die eigentlich sowohl geistig als auch physisch in perfekter Gesundheit ist, in dem Roman als verrückt konstruiert wird, ist das Trauma und die von der Gesellschaft auferlegten Geschlechternormen, der sie sich nicht anpassen möchte.[8] Esmes Einlieferungsgrund ist in den Akten wie folgt vermerkt: „Alter: sechzehn […] Besteht darauf, das Haar lang zu tragen. […] Die Eltern sagen aus, sie habe, das Kleid ihrer Mutter tragend, vor einem Spiegel getanzt.“[24] Esmes Geisteszustand ist im herkömmlichen Sinne nicht verrückt und wird durch den Mangel an Liebe und Empathie ihrer Eltern und deren Unfähigkeit, den wilden, lebendigen Geist ihrer Tochter zu schätzen, als abweichendes menschliches Verhalten gedeutet.[18] „Sie ist nicht krank. Sie weiß, dass sie nicht krank ist.“[25] Anhand von Esme wird die Autorität und Verantwortung aufgedeckt, welchen Psychiatern und Ärzten im Allgemeinen übertragen wird.[18] Von der Medizin werden Esmes traumatische Erfahrungen falsch verstanden und überschrieben.[8]

Auch Iris wird am Anfang von den medizinischen Zuschreibungen getäuscht, beim Durchsuchen der Zulassungsunterlagen von Cauldstone gewinnt sie aber bald einen Einblick in die medizinischen Diskurse und Definitionen, die ihre Wahrnehmung von Esme als Verrückte prädestiniert haben. Schnell fällt ihr auf, dass neben Esme auch viele andere Frauen wegen dem inhaftiert wurden, was einer Frau aus dem späten zwanzigsten Jahrhundert als gesunder Menschenverstand, Intellekt und berechtigter Wunsch nach Unabhängigkeit und Gleichheit gegeben ist.[8]

„Iris liest […] über eine Jane, die die Kühnheit besaß, ganz allein ausgedehnte Spaziergänge zu unternehmen und mehrere Heiratsanträge auszuschlagen, […].“[26] über „Sprachverweigerung und ungebügelte Wäsche, über Nachbarschaftsstreitigkeiten und Hysterie, über nicht gespültes Geschirr und nicht gefegte Fußböden, über die Vernachlässigung ehelicher Pflichten oder die übertriebene Einforderung derselben, über verbotene Triebe oder die Suche nach aushäusiger Befriedigung. Über ratlose Ehemänner und Eltern, die ihre Töchter nicht mehr verstehen, über Väter, die immer wieder beteuern, was für ein reizendes Kind ihr kleines Mädchen früher war. Über Töchter, die einfach nicht gehorchen wollen. Über Ehefrauen, die eines Tages den Koffer packen und gehen, die man aufspüren und zurückbringen muss.“[24]

Als Esme entlassen wird, ist sie überrascht, dass die Versuche von Frauen, aus den ihnen zugewiesenen häuslichen Rollen auszubrechen, in der Gegenwart nicht mehr mit dem Label der Hysterie gleichzusetzen sind.[8]

In der Weltliteratur ist die Metapher des vernünftigen Verrückten, der weiser ist als der Rest der Welt eine häufige. Der Roman bringt diese Thematik bis ins 21. Jahrhundert und stellt die Frage, wer in dem Werk wirklich verrückt ist. Sind es die Eltern, die Emse missbrauchen und sie dann fallen lassen? Ist es die Schwester, welche Esmes Kind stiehlt und sie in der Anstalt zurücklässt? Ist es ihr Verehrer, der sie vergewaltigt und sie ohne Reue im Stich lässt? Oder sind es die Ärzte, die Esme 60 Jahre lang wegsperren?[18]

Die Stellung der Frau

In der Gegenüberstellung von Esme und Iris, zwei sehr ähnlichen Charakteren, kann festgestellt werden, dass sich das Leben der Frauen aufgrund der Zeit und der Gesellschaft, in der sie leben, erheblich unterscheidet. Wie die junge Esme hasst Iris Hochzeiten, ist nicht verheiratet und will auch nicht verheiratet sein. Für Esme sind die Möglichkeiten, die Iris in ihrem Leben als Frau für selbstverständlich hält, grenzenlos und wunderschön, sowie die Tatsache, dass sie ihr eigenes Geschäft besitzt, dass sie nicht verpflichtet ist zu heiraten und dass sie Liebhaber haben kann. Dabei unterliegt Iris‘ Liebesleben neuen, wenn auch anderen kulturellen Tabus und Regeln, welche ihre Beziehungen zu Männern kompliziert machen: Eine Affäre mit einem verheirateten Mann, welcher für Iris seine Frau verlassen will, endet, als sie bemerkt, dass diese ein Kind erwarten. Und während Iris‘ große Liebe, ihr Stiefbruder Alex, mit einer anderen Frau unglücklich verheiratet ist, wird deutlich, dass sich die zeitgenössisch emanzipierte Heldin zu Männern hingezogen fühlt, die in traditionellen Ehen leben.[8] Esme und Iris sind die Heldinnen des Romans, die im Rahmen der Gesellschaft ehrlich und unkonventionell sie selbst sein wollen.[18]

Stellung in der Literaturgeschichte

Einordnung ins Werk des Autors

Die Frau, die es nicht gab ist der vierte Roman, den Maggie O’Farrell veröffentlichte. Seit ihrem ersten Roman, dem preisgekrönten Debüt Seit du fort bist (englischer Originaltitel: After You'd Gone, 2000), ist O‘Farrell geschickt darin geworden, labyrinthische Plots zu entwerfen, welche sich vorsichtig durch Hinweise und Halbwahrheiten offenbaren.[19] Seit du fort bist legte den Grundstein für die Themen Liebe, Verlust und Familiengeheimnisse, welche auch die drei folgenden Romane, Die Freundin meines Freundes (englischer Originaltitel: My Lover's Lover, 2002), Bevor wir uns trafen (englischer Originaltitel: The Distance Between Us, 2004) und Die Frau, die es nicht gab prägten.[17] Ebenso bedeutend, wie die Charaktere selbst sind die Räume zwischen den Menschen, sowie die komplexen Beziehungen, die daraus entstehen, typisch für O’Farrells Romane und bilden das Fundament für mysteriöse und vielschichtige Geschichten.[19] Ihr dritter Roman Bevor wir uns trafen, kann in vielerlei Hinsicht als ein Vorläufer von Die Frau, die es nicht gab gesehen werden. Beide Bücher beschäftigen sich mit dysfunktionalen Familien und Geschwisterrivalität, während Fragen nach Identität und Entfremdung die verknüpfte Vergangenheit der Charaktere ans Licht bringen.[19]

Vorläufer des Romans

In der Danksagung von Die Frau, die es nicht gab verweist O’Farrell ausdrücklich auf das Buch Sanity, Madness and the Family: Families of Schizophrenics (1970) von RD Laing and Aaron Esterson. Die zwei schottischen Psychiater vertreten in dem Werk die Auffassung, dass Schizophrenie ein Etikett ist, welches insbesondere jenen Frauen aufgedrückt wird, die den Werten ihrer Familie nicht entsprechen.[27] Die Thematik des weiblichen Wahnsinns und der Verrücktheit von Frauen wurde schon vor O’Farrells Roman immer wieder aufgegriffen, wie die Romane Die Glasglocke (englischer Originaltitel: The Bell Jar, 1963) von Sylvia Plath, Die weite Sargassosee (englischer Originaltitel: Wide Sargasse Sea, 1966) von Jean Rhys und Das karmesinrote Blütenblatt (englischer Originaltitel: The Crimson Petal and the White, 2002) von Michel Faber zeigen. Dabei ist zu beobachten, dass die Geschichten von viktorianischen Verrückten und vergessen Frauen häufig Isolation mit Hysterie und Nonkonformität mit Wahnsinn verwechseln.[17] O’Farrell ist dabei besonders an feministische Kritiken, an der Konstruktion des Wahnsinns und der Macht der Psychiatrie interessiert, während andere Schriftsteller eine Vielzahl von Ansätzen zum Thema Wahnsinn verfolgen, welche als Konsens aber alle durch die weibliche Sensibilität gefiltert werden.[22]

Literatur

Textausgaben

  • Maggie O'Farrell: The Vanishing Act of Esme Lennox. Headline Book Publishing, London 2006, ISBN 0-15-101411-6.
  • Maggie O'Farrell: Die Frau, die es nicht gab. Wilhelm Goldman Verlag, München 2007, ISBN 3-442-46442-0 (Originaltitel: The Vanishing Act of Esme Lennox. Übersetzt von Regina Rawlinson).

Sekundärliteratur

  • Allan Beveridge: The presentation of mental disturbance in modern Scottish literature. In: BMJ Publishing Group LTD. Band 43, Juni 2017, S. 81–85.
  • Christie Hickman: Sibling rivalries. In: New Statesman. Band 135, August 2006, S. 49.
  • Deborah Donovan: The Vanishing Act of Esme Lennox. In: The Booklist. Band 103, Nr. 21. American Library Association, Chicago 2007, S. 31.
  • Elaine Showalter: The Female Malady: Women, Madness and English Culture 1830-1980. Virago Books, 1987, ISBN 0-86068-869-0.
  • Julia Scheeres: Seeking Asylum. In: New York Times Book Review. The New York Times Company, New York 2007, S. 24.
  • N.N.: Book Review: The Vanishing Act Of Esme Lennox: Here's to you, Mrs Rochester. In: Scotland on Sunday. Johnston Publishing Ltd, 2006, S. 9.
  • Nadine Muller: Hystoriographic Metafiction: The Victorian Madwoman and Women’s Mental Health in 21st-Century Britisch Fiction. In: Gender forum. Band 25, April 2009.
  • Nancy Andreasen: Book: A tale of madness and sanity. In: Elsevier Limited. Band 369, Februar 2007, S. 633.
  • R.D. Laing, Aaron Esterson: Sanity, Madness and the Family: Families of Schizophrenics. Penguin Books Ltd, Harmondsworth / Middlesex 1970, ISBN 0-14-021157-8.

Einzelbelege

  1. Maggie O'Farrell: Die Frau, die es nicht gab. Wilhelm Goldman Verlag, München 2007, ISBN 3-442-46442-0, S. 32.
  2. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 10.
  3. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 33.
  4. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 36–37.
  5. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 74.
  6. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 134.
  7. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 91.
  8. a b c d e f g h i j k l m n o p Nadine Muller: Hystoriographic Metafiction: The Victorian Madwoman and Women’s Mental Health in 21st-Century Britisch Fiction. In: Gender forum. Band 25, April 2009.
  9. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 100.
  10. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 38.
  11. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 171.
  12. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 176.
  13. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 177–178.
  14. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 232.
  15. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 198.
  16. a b Deborah Donovan: The Vanishing Act of Esme Lennox. In: The Booklist. Band 103, Nr. 21. American Library Association, Chicago 2007, S. 31.
  17. a b c d e N.N.: Book Review: The Vanishing Act Of Esme Lennox: Here's to you, Mrs Rochester. In: Scotland on Sunday. Johnston Publishing Ltd. 2006, S. 9.
  18. a b c d e Nancy Andreasen: Book: A tale of madness and sanity. In: Elsevier Limited. Band 369, Februar 2007, S. 633.
  19. a b c d e f g h Christie Hickman: Sibling rivalries. In: New Statesman. Band 135, August 2006, S. 49.
  20. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 225.
  21. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 207.
  22. a b Allan Beveridge: The presentation of mental disturbance in modern Scottish literature. In: BMJ Publishing Group LTD. Band 43, Juni 2017, S. 83.
  23. a b O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 43.
  24. a b O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 67.
  25. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 202.
  26. O’Farrell: Die Frau, die es nicht gab. 2007, S. 65.
  27. Beveridge: The presentation of mental disturbance in modern Scottish literature. 2017, S. 84.