Benutzer:Meister und Margarita/Der Rattenmann

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Die Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose von Sigmund Freud, erstveröffentlicht im Jahr 1909, beschreiben die Krankengeschichte und Behandlung des sogenannten Rattenmanns. Es handelt sich um die umfassendste und berühmteste Studie von Zwangsgedanken aus der Frühzeit der Psychoanalyse.

Kontext

Die damals noch in Entwicklung befindliche Psychoanalyse benötigte dringend Fallstudien, einerseits um eine möglichst einheitliche Behandlungstechnik zu entwickeln, andererseits um durch Heilungserfolge ihre Existenzberechtigung zu belegen. In den Studien über Hysterie (1895, gemeinsam mit Josef Breuer) und im Fall Dora (Bruchstücke einer Hysterie-Analyse, 1905) wurden Hysterie bei weiblichen Patienten abgehandelt, das Kernthema zu Beginn der Psychoanalyse. Der Rattenmann (1909) und Der Wolfsmann (1918) erweiterten das Behandlungsspectrum auf (a) männliche Patienten, (b) Zwänge und Ängste. Die Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (Kinderanalyse des Kleinen Hans, 1909) und die Psychoanalytische[n] Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Der Fall Schreber, 1911) komplettierten die großen Fallstudien Freuds.

Zwar hat Freud in kleineren Arbeiten immer wieder Patienten und Behandlungsstil beschrieben, jedoch beschränkten sich dort seine Charakterisierungen auf Aspekte und Streiflichter. Der Rattenmann steht ziemlich genau in der zeitliche Mitte von Freuds Publikationen zur Zwangsneurose: 15 Jahre nach der kleinen Schrift Die Abwehr-Neuropsychosen (1894), 17 Jahre vor Hemmung, Symptom und Angst (1926), wo er sich in Kapitel V und VI abschließend zu dieser Störung äußert.

Der Patient und die Behandlung

Freud beschreibt den Patienten als „jüngere[n] Mann von akademischer Bildung“ (38),[1] der an Zwangsvorstellungen leide - „schon seit seiner Kindheit, besonders stark aber seit vier Jahren.“ Er befürchte, dass zwei Personen, die er sehr liebe - dem Vater und einer verehrten Dame, etwas geschehen werde. Auch leide er an Zwangsimpulsen, etwa sich mit dem Rasiermesser „den Hals abzuschneiden“, und produziere Verbote, die sich auch auf gleichgültige Dinge beziehen. Freud ergab sich der „Eindruck eines klaren, scharfsinnigen Kopfes“. Seinen Decknamen bekam der Patient, weil seine schlimmste Befürchtung darin bestand, dass sein Vater und die verehrte Dame der sogenannten „Rattenstrafe“ unterworfen würden - dem Eindringen hungriger Ratten in die Afteröffnungen (44f).

Die Analyse begann am 1. Oktober 1907, dauerte „etwa ein Jahr“ und erzielte - laut Freud - „zunächst die völlige Herstellung der Persönlichkeit und die Aufhebung ihrer Hemmungen“ (35). Freud arbeitete damals 6-stündig im Liegen, d.h. der Patient lag auf der Couch, Freud saß dahinter. Es gab wöchentlich sechs - jeweils einstündige - Therapiesitzungen, montags bis samstags, im Regelfall zur selben Stunde.

Paul Federn und Ernest Jones berichten, dass Freud mehrfach vor der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung über den Fortschritt der Behandlung berichtete.[2] Im April 1908 hielt Freud auf dem Ersten Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Salzburg einen vierstündigen Vortrag über diesen Fall, dessen Behandlung damals noch nicht abgeschlossen war. Im Frühjahr 1909 bereitete er das Material für die Veröffentlichung vor, Anfang Juli gab er das Manuskript zum Druck frei. Im Regelfall vernichtete Freud alle Materialen, auf denen eine Publikation beruhte, unmittelbar nach deren Drucklegung. Im Fall des Rattenmanns jedoch sind seine Originalnotizen, jeweils verfasst nach der jeweiligen Therapiestunde, für das erste Drittel der Behandlung erhalten geblieben - „eine merkwürdige und unerklärte Ausnahme"[3]. Ein wesentlicher Teil dieser Originalnotizen wurde 1955 in englischer Übersetzung in der Standard Edition und 1987 im Nachtragsband der Gesammelten Werke veröffentlicht.

Die Fallgeschichte

In der Einleitung befasst sich Freud eingehend mit dem Schutz der Identität des Patienten: „Die vollständige Behandlungsgeschichte kann ich nämlich nicht mitteilen, weil sie ein Eingehen auf die Lebensverhältnisse meines Patienten im einzelnen erfordern würde.“ (35) Und er beschreibt den „paradoxe[n] Sachverhalt, daß man weit eher die intimsten Geheimnisse eines Patienten der Öffentlichkeit preisgeben darf, bei denen er doch unbekannt bleibt, als die harmlosesten und banalsten Bestimmungen seiner Person, mit denen er allen bekannt ist und die ihn für alle kenntlich machen würden.“ (35f) [4]

Freud bekennt auch, dass es bisher nicht gelungen sei, „das komplizierte Gefüge eines schweren Falles von Zwangsneurose restlos zu durchschauen'“ (36). Er führt dies auf die Widerstände der Kranken einerseits, die Formen von deren Äußerung andererseits zurück - und sieht das Verständnis der Störung als „viel schwerer“ an, als das der Hysterie. Auch stellten sich die Zwangsneurotiker einer analytischen Behandlung viel seltener als die Hysteriker. Sie dissimilieren ihre Zustände, solange es geht, und kämen erst in einem fortgeschrittenen Stadium in Behandlung - wiewohl die Psychoanalyse „auf eine Reihe glänzender Heilungserfolge hinweisen“ (36) könne, und zwar sowohl bei leichten, als auch bei schweren, aber frühzeitig bekämpften Fällen.

I. Aus der Krankengeschichte

II. Zur Theorie

Im zweiten Abschnitt befasst sich Freud mit dem Verhältnis der Zwangskranken zur Realität, zum Aberglauben und zum Tod.

Der dritte Abschnitt steht unter dem Titel: (K)Das Triebleben und die Ableitung von Zwang und Zweifel. Freud diskutiert darin die Ambivalenzen des Patienten - erstens zwischen Vater und Dame, zweitens den ,,Widerspruch von Liebe und Haß beiden gegenüber, drittens zwischen der längst Geliebten, die ihn freilich abgewiesen hatte, und dem anderen Mädchen, welches er heiraten könnte - aber auch das ,,normale[.] Schwanken zwischen Mann und Weib als Objekten der Liebeswahl, welches dem Kinde zuerst in der berühmten Frage nahegebracht wird: >>Wen hast Du lieber, Papa oder Mama?<< (95). Er gesteht offen, dass das Verhältnis des ,,negativen Faktors der Liebe ,,zur sadistischen Komponente der Libido […] völlig ungeklärt (96f) sei, ist sich aber sehr sicher in seiner Verknüpfung von Zwang und Zweifel, die in Summe die Unfähigkeit zu handeln ergebe: ,,[D]as Denken ersetzt das Handeln (99), was von Freud als Regression bewertet wird, und es übernehme Triebfunktionen:

ZITAT Der Denkvorgang selbst wird sexualisiert, indem die sexuelle Lust, die sich sonst auf den Inhalt des Denkens bezieht, auf den Denkakt selbst gewendet wird, und die Befriedigung beim Erreichen eines Denkergebnisses wird als sexuelle Befriedigung empfunden (100)

Wo der Wißtrieb überwiege, werde das Grübeln zum Hauptsymptom. Als wichtige Abwehrmechanismen - neben der Verschiebung - benennt Freud die Entstellung, die Einschiebung eines ,,Intervall[s] zwischen die pathogene Situation und die abfolgende Zwangsidee, sowie die Verallgemeinerung. Schließlich wirft Freud - anlässlich der ausgeprägten Riechwahrnehmungen des Patienten - die Frage auf, ob nicht - menschheitsgeschichtlich - die ,,organische Verdrängung der Riechlust einen guten Anteil an [d]er Befähigung [des Menschen] zu neurotischen Erkrankungen haben (102) könne. Er resümiert den Fall, dass der Patient ,,gleichsam in drei Persönlichkeiten zerfallen gewesen wäre, eine unbewusste und zwei vorbewusste, welche im Sinne von Aberglauben einerseits, Askese andererseits im Gegensatz zu einander gestanden und ,,bei weiterem Bestand der Krankheit die normale Person aufgezehrt (103) hätten.

Nach der Therapie

Der Patient arbeitete - nach Abschluss der Therapie - in einer angesehenen Anwaltskanzlei und wurde 1913 zum Rechtsanwalt ernannt. „An Gisela hielt er fest, die ursprünglich sehr neurotische Objektwahl wurde zu einer reifen Beziehung.“[5] Ein Jahr nach Ende der Analyse verlobte er sich mit Gisela, ein weiteres Jahr später heiratete er sie. In einem Zusatz von 1923 teilt Freud mit, dass der Patient „wie so viele andere wertvolle und hoffnungsvolle junge Männer im großen Krieg“ (103) umgekommen ist.[6]

Freud als Therapeut

Im Gegensatz zum abstinenzfixierten New Yorker Stil der 1950er und 1960er Jahre, der − aufgrund seiner wiederholten medialen Wiedergabe in Roman und Film immer noch das Klischeebild der Psychoanalyse prägt − war Freud ein höchst aktiver, sich selbst einbringender Psychotherapeut. Er lobte den Patienten (), forderte seinen Widerstand heraus, erläuterte ihm das Funktionieren des Unbewussten und ließ sich auch auf Diskurse ein.

Seine Deutungen waren durchaus kühn und von hoher imaginativer Kraft. Beispielsweise wagte Freud − im Kontext des spätnächtlichen Öffnens der Tür zum Hausflur und der Entblößung des Penis vor dem Spiegel im Vorzimmers während der Lernphasen des Patienten, wohlgemerkt nach dem Tod des Vaters − die Konstruktion, der Patient "habe als Kind im Alter von 6 Jahren irgendeine sexuelle Missetat im Zusammenhänge mit der Onanie begangen und sei daher vom Vater empfindlich gezüchtigt worden" (71), worauf der Patient berichtete, dass ihm ein solcher Vorgang - eine Bestrafung durch den Vater in frühen Kinderjahren - von der Mutter mehrfach erzählt worden sei.

Freud zögerte aber auch nicht, von eigenem Scheitern − zum Beispiel vom Abbruch einer Therapie eines anderen Zwangspatienten nach einer provokanten Frage Freuds (66), von der „Lücke in der Analyse“ (74) oder von den Grenzen seines Verstehens des Krankheitsbildes (36) − zu berichten. Freud sah die Entwicklung der psychoanalytischen Methode als quasi öffentlichen Prozess, als Work in progress, an dem auch seine Mitstreiter wesentlichen Anteil haben sollten.[7]

Technische Fragen

Ausführlich wie in keiner anderen Fallstudie befasst sich Freud im Rattenmann mit Fragen der Behandlungstechnik:

  • Im Abschnitt ,,A. Die Einleitung der Behandlung gibt er eine präzise Anleitung der psychoanalytischen Grundregel.
  • Der gesamte vierte Abschnitt ist der ,,Einführung in das Verständnis der Kur gewidmet, 8 1/2 Seiten, die Freud elegant nutzt um sowohl den Fall zu beschreiben, als auch den Leser in die psychoanalytische Technik einzuführen.
  • Krankheitsgewinn (66) und Flucht in die Krankheit (67, Anm. 1)
  • Schließlich ergab die erste ausführliche Befassung mit den Abwehrmechanismen die Grundlage für das berühmte Buch seiner Tochter Anna Freud.

Publikationen

Deutschsprachige Ausgaben

  • 1909 Jb. psychoanalyt. psychopath. Forschung, B. 1 (2), 357-421
  • 1913 Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre, B. 3, 123-197 (2. Auflage 1921)
  • 1924 Gesammelte Schriften, B. 8, 267-351
  • 1932 Vier psychoanalytische Krankengeschichten, 284-376
  • 1941 Gesammelte Werke, B. 7, 379-463
  • 1973 Studienausgabe, B. 7, 31-103 (zahlreiche Auflagen)

Originalnotizen

  • 1907-08: Originalnotizen zu dem Fall von Zwangsneurose (>Der Rattenmann<), Gesammelte Werke, Nachtragsband, 1987, 505-569

Weitere Texte Freuds zur Zwangsneurose

  • 1894: Die Abwehr-Neuropsychosen, Abschnitt II, Gesammelte Werke, B.1, 59
  • 1895: Obsessions et phobies, Gesammelte Werke, B.1, 345
  • 1895: Manuskript K in den Fließ-Briefen, Aus den Anfängen der Psychoanalyse, London 1950, Frankfurt/Main 1962
  • 1896: Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen, Abschnitt II
  • 1907: Zwangshandlungen und Religionsübungen, Studienausgabe, B. 7, 11-21
  • 1908: Charakter und Analerotik, Studienausgabe, B. 7, 23-30
  • 1912-13: Totem und Tabu, Aufsatz II und III, Studienausgabe, B. 9, 318-326, 347f, 350f, 374-378
  • 1913: Die Disposition zur Zwangsneurose (Ein Beitrag zum Problem der Neurosenwahl), Studienausgabe, B. 7, 105-119
  • 1914: Analyse des Wolfsmannes, Abschnitt VI
  • 1916: Mythologische Parallele zu einer plastischen Zwangsvorstellung, Studienausgabe, B. 7, 119-122
  • 1916-17: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 17. Vorlesung
  • 1917: Über Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik, Studienausgabe, B. 7, 123-131
  • 1926: Hemmung, Symptom und Angst, Kapitel V und VI, Studienausgabe, B. 6, 263-266

Sekundärliteratur

Einzelnachweise

  1. Die in Klammer gestellte Zahl hinter Zitaten beschreibt die Seitenzahl des Zitats in der Studienausgabe (Bd. VII: Zwang, Paranoia und Perversion). Fehlt die Zahl bei den unmittelbar nachfolgenden Zitaten, so sind diese auf derselben Seite zu finden.
  2. Federn 1948, Jones 1962, B. 2, 60, 312-318
  3. Editorische Vormerkung, Studienausgabe, 33
  4. In einer Anmerkung zur Fallstudie Dora, hinzugefügt in der Ausgabe von 1924, stellt Freud ausdrücklich fest, dass die Veröffentlichung mit Zustimmung der Patientin erfolgte. Diese Zustimmung wurde im gegenständlichen Fall offenbar nicht eingeholt.
  5. Diercks/Schlüter (Hg.): Sigmund-Freud Vorlesungen 2006. Die großen Krankengeschichten, Wien: Mandelbaum 2008, 220
  6. Laut Studienausgabe, Fußnote am Ende der Fallgeschichte, 103. Wahrscheinlicher ist 1924, in dem der Text in den Gesammelten Schriften erneut abgedruckt wurde.
  7. Am Schluss der Arbeit spricht er "die Hoffnung aus[…], daß meine in jedem Sinne unvollständigen Mitteilungen wenigstens anderen die Anregung bringen mögen, durch weitere Vertiefung in das Studium der Zwangsneurose mehr zutage zu fördern." (102) Im harten Kontrast zu dieser methodischen Offenheit steht Freuds Radikalität beim Ausschluss kritischer Geister - wie Otto Gross, später Wilhelm Reich - aus der psychoanalytischen Bewegung. Diskutierenswert auch sein Beitrag zu den Abspaltungen Adlers und Jungs in zeitlicher Nähe zur Abfassung des Rattenmanns.