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Eduard Spranger

Eduard Spranger (* 27. Juni 1882 als Franz Ernst Eduard Schönebeck in Lichterfelde, Berlin; † 17. September 1963 in Tübingen) war ein Philosoph, Pädagoge und Psychologe, der zu den modernen Klassikern der Pädagogik gezählt wird. Er war maßgeblich beteiligt an der Etablierung der Pädagogik als selbständiger akademischer Disziplin und beeinflusste nach beiden Weltkriegen die Lehrerausbildung in Deutschland. Er gilt außerdem als einer der profiliertesten Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik und hat die pädagogische Diskussion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt. Für seine wissenschaftlichen Leistungen erhielt Spranger zahlreiche Ehrungen. Spranger setzte sich für das humanistische Gymnasium ein und prägte den Begriff Dritter Humanismus. Das Ziel der Bildung sei die innere Formung des Menschen.

Leben

Herkunft und akademischer Weg

Spranger wurde am 27.06.1882 als Eduard Schönebeck als einziger Sohn des Berliner Spielwarengeschäftsinhabers Carl Franz Adalbert Spranger (1829 - 1922) und dessen Frau Henriette "Bertha" Schönebeck (1847 - 1909), Verkäuferin in diesem Geschäft, vorehelich geboren. Sprangers Eltern heirateten 1884, und Franz Spranger erkannte Eduard urkundlich als leiblichen Sohn an, was zur Änderung seines Familiennamens in "Spranger" führte.

Friedrich Paulsen, der Doktorvater

Zunächst besuchte Spranger mit 6 Jahren das Dorotheenstädtische Realgymnasium in Berlin. Aufgrund seiner überragenden Leistungen und durch die Unterstützung eines seiner Lehrer wechselte er als 12-Jähriger auf das renommierte Gymnasium „Zum Grauen Kloster“, das er Ostern 1900 mit einem sehr guten Abitur abschloss. Spranger erwog ein Musikstudium, entschied sich jedoch letztendlich für ein Studium an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin im Hauptfach Philosophie und in den Nebenfächern Psychologie, Pädagogik, Geschichte, Nationalökonomie, Jura, Theologie, Germanistik und Musiktheorie, u.a. bei Friedrich Paulsen, Wilhelm Dilthey, Erich Schmidt sowie Otto Hintze. Ein erster Promotionsversuch des erst 19-Jährigen bei Wilhelm Dilthey zum von diesem vorgeschlagenen Thema „Die Entwicklungsgeschichte Friedrich Heinrich Jacobis“, einem Jugendfreund Goethes, scheiterte. Spranger begegnete in dieser Zeit zum ersten Mal Catharina „Käthe“ Hadlich, der Halbschwester seines Studienkollegen Hermann Hadlich, mit der er eine lebenslange intensive Brieffreundschaft pflegen sollte. Schließlich promovierte Spranger 1905 zum selbstgewählten Thema "Die erkenntnistheoretischen und psychologischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft" bei Friedrich Paulsen.

Nach der Promotion, während seiner Suche nach einem Habilitationsthema, wurde Spranger zeitweilig Lehrer an der privaten Höheren Mädchenschule „St. Georg“ in Berlin, die er 1908 wieder verließ. Er begann, als Lehrer an einer von Willy Böhm geleiteten privaten Höheren Töchterschule mit angeschlossenem Lehrerinnenseminar zu arbeiten. Im selben Jahr erkrankte seine Mutter an Tuberkulose, der sie nach einem Jahr Leidenszeit, in dem Spranger sie hingebungsvoll und ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit pflegte, erlag. Der Tod der geliebten Mutter, zu der er stets ein besonders inniges Verhältnis hatte, erschütterte Spranger tief.

1909 habilitierte sich Spranger an der Berliner Universität. Seine Habilitationsschrift trug den Titel "Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee". Er hielt 1909 seine Antrittsvorlesung und lehrte als Privatdozent an der Universität in Berlin, bis er an die Universität Leipzig berufen wurde. Dort erhielt er 1911 eine außerordentliche Professor für Philosophie und Pädagogik, auf die bereits im August 1912 die ordentliche Professur folgte. Ebenfalls im Jahr 1912 wurde er in das Kuratorium der Leipziger Hochschule für Frauen gewählt, an der junge Frauen zu Kindergärtnerinnen ausgebildet wurden. Spranger verließ das Kuratorium jedoch schon 1915 nach heftigen Auseinandersetzungen mit der betagten Leiterin Henriette Goldschmidt über die Art und Weise der Führung der Hochschule. Aus Solidarität exmatrikulierten sich sieben seiner Studentinnen, denen er fortan Privatunterricht gab. 1913 begegnete Spranger zum ersten Mal Anna Jenny Susanne Emilie Conrad, die er 21 Jahre später heiraten sollte.

Spranger wurde 1914, nach Ausbruch des ersten Weltkrieges, als unausgebildeter Landsturmangehöriger berufen, jedoch nie eingezogen. Er fühlte sich innerlich zerrissen, da er glaubte, wie seine Altersgenossen seine Pflicht an der Waffe erfüllen zu müssen. Zugleich war er sich jedoch im Klaren darüber war, dass er nicht über die nötigen psychischen und physischen Voraussetzungen verfügte. Die psychische Belastung und starke Überarbeitung führten dazu, dass Spranger 1916 schwer erkrankte und sich ein Jahr von der Universität beurlauben lassen musste. Er litt an starker Abmagerung und Rippenfellentzündung und stand unter Tuberkuloseverdacht.

Nach seiner Genesung wurde Spranger 1917 zum Berater des preußischen Unterrichtsministeriums bestellt. Ein Jahr später erfolgte seine Wahl in die Vorstandschaft der Gesellschaft für deutsche Schul- und Erziehungsgeschichte. 1919 folgte Spranger einem Ruf an die Universität Berlin, nachdem er zuvor Rufe an die Universitäten Hamburg und Wien abgelehnt hatte.

1922 starb Sprangers Vater im Alter von 83 Jahren an Magenkrebs. Das Vater-Sohn-Verhältnis war lebenslang von Spannungen geprägt. Ein Jahr später wurde Spranger zum Dekan der Philosophischen und Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin ernannt. 1925 folgte die Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften.

1934 heiratete Eduard Spranger Susanne Conrad nach über zwanzigjähriger Bekanntschaft in Berlin. 1936 besuchten die Eheleute Spranger Japan, wo Spranger als erster deutscher Austauschprofessor Vorträge hielt. Nach seiner Rückkehr an die Universität Berlin wurde er 1939 in den heerespsychologischen Reichswehrdienst einberufen, in dessen Zusammenhang er psychologische Prüfungen für Flieger abhielt.

Nach dem Attentat auf Hitler wurde Spranger 1944 als Mitverdächtiger im Untersuchungsgefängnis Moabit in Berlin inhaftiert. Auf Intervention des japanischen Botschafters wurde er jedoch nach zehn Wochen wieder aus der Haft entlassen. Nach Kriegsende leitete Spranger als erster Nachkriegsrektor für kurze Zeit kommissarisch die Berliner Universität. Dabei bemühte er sich vergeblich darum, die im sowjetisch besetzten Teil Berlins gelegene Universität unter eine Viermächteverwaltung zu stellen. 1945 wurde er grundlos von der amerikanischen Militärbehörde für eine Woche im Gefängnis Wannsee inhaftiert und verhört. Die Amerikaner beschlagnahmten darüber hinaus sein Haus in Berlin. Im Oktober 1945 wurde er als Rektor seines Amtes enthoben. In der Folge erhielt er Rufe an die Universitäten Göttingen, Hamburg, Köln, München und Tübingen und an die Pädagogische Hochschule Mainz. Den Ruf an die Universität Hamburg konnte er nicht annehmen, da ihm eine Übersiedlung nicht gestattet wurde. Schließlich nahm er den von Theodor Heuss unterstützten Ruf an die Universität Tübingen an, an der er 1946 zum ordentlichen Professor für Philosophie ernannt wurde. 1950 wurde Spranger offiziell emeritiert, hielt jedoch noch bis 1958 Vorlesungen und Seminare. 1951 durfte Spranger die Festrede zum zweiten Jahrestag der Bundesrepublik im Haus des Deutschen Bundestages halten:

„„Kein Mensch darf sich eines ehrlichen Umlernens schämen. Alles in der Welt hat sich verwandelt. Wir allein sollten keiner Verwandlung bedürfen? —. Stirb und werde! Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, so habe ich vieles, was meinem Herzen nahe lag, in nicht leichten Selbstüberwindungen abtun müssen. ,Das Liebste wird vom Herzen weggescholten'."“

Eduard Spranger[1]

1960 starb die lebenslange Freundin Käthe Hadlich und 1963 die Ehefrau Susanne Spranger. Nur etwa 5 Monate später starb auch Spranger. Er wurde auf dem Tübinger Stadtfriedhof neben seiner Frau beigesetzt. Ein Jahr nach seinem Tod erschien eine umfassende Reminiszenz, in der so bekannte Persönlichkeiten wie Otto Friedrich Bollnow, Andreas Flitner, Kurt Georg Kiesinger und Theodor Heuss Leben und Werk Sprangers würdigten.

Im Laufe seiner Karriere erhielt Spranger eine große Anzahl hoher internationaler Auszeichnungen und Ehrungen, darunter den Orden von Zuihosho, den Kaiserlichen Japanischen Orden des Heiligen Schatzes 2. Klasse, die Goldene Medaille der Goethe-Gesellschaft (überreicht durch Max Planck), das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband und den Großen Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Er wurde 1952 zum Ritter des Ordens Pour le Mérite (Friedensklasse) geschlagen - eine der höchsten Ehrungen, die einem Wissenschaftler oder Künstler zuteil werden kann. Er erhielt die Verfassungsmedaille in Gold des Landes Baden-Württemberg (überreicht durch Kurt Georg Kiesinger) und die Goldene Medaille der Stadt Tübingen. Er war Teilnehmer und/ oder Initiator u.a. der Berliner Mittwochsgesellschaft, der Goethe-Gesellschaft Weimar, der Dahlemer Gesellschaft, der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG (1951 bis 1954 auch Vizepräsident) und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Außerdem wurden ihm die Ehrendoktorwürden der Universitäten Padua, Berlin, Köln, Mannheim und Tokio verliehen.

Eduard Spranger und das Frauenstudium

Zum Jahreswechsel 1915/1916 schrieb Spranger eine Broschüre mit dem Titel „Die Idee einer Hochschule für Frauen und die Frauenbewegung“, die u.a. von Gertrud Bäumer begeistert aufgenommen wurde. Die Schrift ist ein Zeichen für Sprangers intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Frauenstudium, dem er zunächst sehr abweisend gegenüberstand. So schrieb er 1908 an Käthe Hadlich:

„Das Frauenstudium ist ein großer Unsinn, sie leisten alle nichts.“

Eduard Spranger[2]

Wenige Jahre später äußerte er sich beeindruckt über die intellektuellen Leistungen einzelner Frauen, während er zur selben Zeit gereizt über mangelnden Ernst seiner Schülerinnen und Studentinnen klagte. Seine nun disparate Haltung gengenüber dem Frauenstudium zeigte sich weiter in Briefen an Käthe Hadlich, in denen er schrieb, seine Kollegs hießen uniintern nur „Strickschulen“, und es sei

„ein Elend, dass die Frauenpersonen jetzt alle das Studierfieber gekriegt haben.“

Eduard Spranger[3]

Dennoch fühlte er sich dazu berufen, Frauen zu ihrem höheren, „wahren Selbst“ empor zu führen – Hintergrund war eine Grundidee, die er von seinem Vorbild Wilhelm von Humboldt übernommen hatte: Das Modell einer idealen Ergänzung der Geschlechter. Sprangers wichtigste Ratgeber und Vertraute waren zudem immer Frauen: Zunächst seine Mutter, später v.a. Käthe Hadlich und seine Ehefrau Susanne Conrad.

„Ich erteilte fünf Jahre lang an damals sog. höheren Töchterschulen einige Stunden deutschen Unterricht. Als einziges Kind sehr einsam aufgewachsen, lernte ich nun erst eine Gestalt des Menschentums kennen, die den anderen in den eigenen Schwestern früh begegnet. Das Ewig-Weibliche in seiner reifsten wie in seiner noch naiven Ausprägung hat mich innerlich tief gefördert, und obwohl ich damals meine über alles geliebte Mutter verlor, zögere ich nicht zu sagen: diese Zeit in der Schule ist eigentlich meine glücklichste Zeit gewesen.“

Eduard Spranger[4]

Verhältnis zum Nationalsozialismus

Universität Berlin

Aufgewachsen in der nationalkonservativen Tradition der preußischen Tugenden[5], begegnete Spranger der Weimarer Republik mit Skepsis. 1933 trat er in den Stahlhelm ein und unterschrieb als eines von mehreren Vorstandsmitgliedern des deutschen Hochschulverbandes eine Erklärung, die sich positiv zur nationalsozialistischen Revolution äußerte:

„Die Wiedergeburt des deutschen Volkes und der Aufstieg des neuen Deutschen Reiches bedeutet für die Hochschulen unseres Vaterlandes Erfüllung ihrer Sehnsucht und Bestätigung ihrer stets glühend empfundenen Hoffnungen... Nach dem Fortfall unseliger Klassengegensätze ist für die Hochschulen wieder die Stunde gekommen, ihren Geist aus der tiefen Einheit der deutschen Volksseele zu entfalten und das vielgestaltige Ringen dieser durch Not und fremdes Diktat unterdrückten Seele bewußt auf die Aufgaben der Gegenwart hinzulenken.“

Erklärung des deutschen Hochschulverbands 1933[6]

Im gleichen Jahr erklärte Spranger außerdem unter Berufung auf eine Platonische Form der Pädagogik, dass der „positive Kern der nationalsozialistischen Bewegung“ darin zu erblicken sei, dass der „Sinn für den Adel des Blutes und für Gemeinsamkeit des Blutes“ betont und „bodenständige Heimattreue“ sowie die „Sorge für einen leiblich und sittlich hochwertigen Nachwuchs“ gefordert werde.[7] An der Universität wandte sich Spranger gleichwohl gegen antisemitische Aktionen der Berliner Studentenschaft, insbesondere gegen ein verhetzendes Plakat.[8] Für den NS-Pädagogen Alfred Baeumler wurde 1933 ein neuer Lehrstuhl für politische Pädagogik neben dem Sprangers eingerichtet, woraufhin dieser bereits im April ein Rücktrittsgesuch einreichte. Das Ministerium erwog seine Entlassung gemäß § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, was mit dem Verlust der Pension verbunden gewesen wäre. Spranger zog das Rücktrittsgesuch auf Anraten seiner Freunde im Juni wieder zurück und wurde vorübergehend beurlaubt. Er behielt seinen Lehrstuhl, unbehelligt von den Nationalsozialisten, ohne je der der NSDAP beigetreten zu sein. Benjamin Ortmeyer bewertet Sprangers Haltung in der Zeit des Nationalsozialismus kritisch:

„Die Zusammenfassung seiner politisch durchgängig reaktionären Positionen vor 1933 im Sammelband "Volk, Staat, Erziehung" zeigen die theoretischen Schwierigkeiten, "deutsche Ideologie" von der NS-Ideologie abzugrenzen. [...] Sprangers politische Optionen vor und nach 1933 beinhalten eine Zustimmung zum Bündnis der NSDAP mit den Deutschnationalen, von Hitler und Hindenburg, wobei Sprangers Akzentsetzung im Rahmen dieses Bündnisses und im Rahmen der Unterstützung des "großen positiven Kerns" der nationalsozialistischen Bewegung auf der Linie Hindenburgs lag. Ob mit oder ohne Überzeugung: Spranger unterstützte [...] terminologisch den Nationalsozialismus [...]“

Benjamin Ortmeyer[9]

Eigenständige Haltung

Gedenktafel in Berlin

Eduard Spranger verteidigte stets die Freiheit der Wissenschaft und wandte sich gegen den Führungsanspruch der Politik: „Die Arbeit an der Wissenschaft kann stärker in den Dienst des Staates und der nationalen Erziehung gestellt werden; aber die Wahrheit kann nicht politisiert werden. Über diese Dinge bestehen noch viele Unklarheiten und Mißverständnisse.“[10] Aufgrund der negativen Erfahrungen mit der zunehmenden Radikalisierung der nationalsozialistischen Diktatur und als Mitglied der Berliner Mittwochsgesellschaft wandelte sich Spranger „spät, aber mit Einsicht“[11] zum überzeugten Demokraten. Aus dem Jahr 1941 ist ein Fall dokumentiert, dass Spranger gegen die Deportation von Juden helfend einschreiten wollte.[12] Außerdem war er einer der Gründer und Herausgeber der Zeitschrift Die Erziehung, die von 1925 bis 1943 erschien, und verweigerte gemeinsam mit dem Verlag 1943 die Zusammenlegung mit den Zeitschriften Nationalsozialistisches Bildungswesen und Weltanschauung und Schule. Daraufhin wurde Die Erziehung eingestellt, offiziell aus kriegsnotwendigen Gründen.

Psychologie und pädagogische Philosophie

Das Ziel der Bildung

Wilhelm Dilthey

Spranger stand in der Tradition der Hermeneutik seines Lehrers Wilhelm Dilthey und nahm sich die Denkformen Pestalozzis[13] und Goethes[14] zum Vorbild. Bildung war für Spranger die durch Kultureinflüsse erworbene, einheitliche und gegliederte, entwicklungsfähige Wesensform des Individuums, die es zu objektiv wertvoller Kulturleistung befähigt und für die Kulturwerte erlebnisfähig und einsichtig macht.[15] Das unverzichtbare Ziel der Bildung erkannte er in der inneren Formung des Menschen, in dem sich die Vielseitigkeit des Interesses und die Charakterstärke der Sittlichkeit verbinden und der so zu einer durchgängigen Übereinstimmung mit sich selbst finden sollte. Die menschliche Individualität müsse „emporgeläutert“ werden „von einer naturgeborenen Anlage zu einer kunstvollen geistigen Konstitution“, die sich weder in bloßen Kenntnissen noch in bloßer Tüchtigkeit zu gewissen Arbeiten oder in einer bloßen Wärme des Gefühls erschöpfen dürfe.[16] Das Bildungsideal ist „...die anschauliche Phantasievorstellung von einem Menschen, in dem die allgemein menschlichen Merkmale so verwirklicht sind, daß nicht nur das Normale, sondern auch das teleologisch Wertvolle desselben in der höchsten denkbaren Form ausgeprägt ist.“[17]

Die Wahrheit vordergründigen Wissens sei zu unterscheiden von der „Mittelpunkt-Wahrheit“ der nächsten Verhältnisse, nach der sich derjenige Kreis des Wissens bestimmt, durch den der Mensch in seiner Lage gesegnet wird. Nicht bloß abstrakte Wissenszusammenhänge, sondern erst der Bezug zur Individuallage, zu den nahen und ferneren Realverbindungen bewirke, dass Wissen bildet. Das Prinzip der Bildung in den organisch-konzentrischen Lebenskreisen war für Spranger gleichbedeutend mit dem Heimatprinzip. So entstehe die individuelle Welt als ein konzentrisches System von Lebenskreisen: Familie, Beruf, Nation und Staat. Im Zentrum stehe Gott als Liebe.[18] Religion war für Spranger das höchste Werterlebnis. Sein Inhalt sei die Werttotalität, nämlich Gott. Der Mensch verdanke ihm das, was weder Wissenschaft noch Philosophie bieten könne: den Totalsinn der Welt.[19]

Humanistische Position

Werner Jaeger, Lithographie von Max Liebermann (1915)

Den 1921 gehaltenen Vortrag „Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule“ widmete Spranger seinem Freund Werner Jaeger. Beiden setzten sich gemeinsam für die alten Sprachen und eine Philosophie der Bildung ein. Jaeger besuchte Spranger noch nach dem Krieg in Tübingen und führte einen Briefwechsel mit ihm. Spranger prägte den Begriff Dritter Humanismus. Die Philologie führe den Menschen in jene Tiefen seines Inneren hinab, wo sein begrenztes Dasein in einem Gesamtsinn Erlösung finde. Humanismus sei nach Spranger „die geschichtlich vertiefte Forschung an dem Problem, was der Mensch im Totalgefüge seiner Kräfte ist, die Frage nach seinen Möglichkeiten, seinen Wirklichkeiten und seinen je erreichten Gipfeln.“[20] Das Vergangene sei in der Geistesgeschichte so darzustellen, dass es nachvollzogen werden könne und für die Gegenwart sinnstiftend wirke. Geist sei als die Totalität der menschlichen Gemeinschaft und ihrer Bestimmungen zu verstehen.[21] Geistige Erscheinungen ergäben sich aus den Verflechtungen des subjektiven Geistes mit dem objektiven Geist.

Lebensformen

Sprangers Kulturpädagogik verbindet die allgemeine mit der praktisch-beruflichen Bildung und ist durch die Kategorie der geistigen Erweckung bestimmt. Das bedeutendste Werk Eduard Sprangers erschien 1921 mit dem Titel Lebensformen. Es war nicht nur für die Psychologie bedeutend, sondern auch für die Geisteswissenschaften und die Kulturphilosophie. Neben dem Psychischen und dem Physischen als den bekannten Seinsbereichen gibt es nach Spranger noch eine ursprünglichere, andere ontische Realität. Ihre eigentümlichen Funktionsgesetze seien das Geistige oder das Geistesleben. Deshalb dürfe sich die Psychologie nicht mit den sinnfreien und neutralen seelischen Funktionen begnügen, zu denen das Fühlen, Begehren und Erinnern gehören. Vielmehr solle sie sich der Analyse der sinnvollen Strukturen des Seelenlebens widmen. Die Seele müsse betrachtet werden als eingebettet in die großen Strukturen des Geisteslebens. Diese unterlägen eigenen Gesetzmäßigkeiten und reichten über das nur naturhaft Bedingte hinaus. Sie seien nicht nur seelischer Art. Eine besondere Beachtung verdiene der Bereich, wo sich die objektive Kulturwelt und das Subjekt begegnen und durchdringen. Dabei seien die Strukturgesetze der Kultur herauszuarbeiten. Den in den Gebilden und Sachgebieten der Kultur fixierten Geist bezeichnete Spranger als objektivierten Geist. Den überindividuellen Gruppengeist, der sich in den Organisationsformen der Gesellschaft manifestiere, bezeichnete er als objektiven Geist. Als normativen Geist benannte er die normativen, überindividuellen Ordnungen von Recht und Moral. Das Denken und Handeln des einzelnen Menschen sei nur aus diesem Gesamtzusammenhang heraus zu verstehen. Als bloße Hilfsmittel der Erkenntnis, nicht aber als wahre Abbilder der Wirklichkeit konstruierte Spranger die so genannten Idealtypen der Individualität. Dazu zählen der religiöse, der ästhetische, der soziale, der politische, der theoretische und der ökonomische Mensch.

Psychologie des Jugendalters

In seinem 1924 erschienenen Werk Psychologie des Jugendalters erklärte Spranger, wie der junge Mensch an dem Sinngehalt der verschiedenen Kulturgebiete Anteil gewinnt. Nur das habe Sinn, was als konstituierendes Glied in ein Wertganzes eingeordnet ist:

„Sinnvoll ist demgemäß eine Ordnung oder ein Zusammenhang von Gliedern, die ein Wertganzes bilden, auf ein Wertganzes bezogen sind oder ein Wertganzes bewirken helfen. Die Teile, die an einem Ganzen zu unterscheiden sind, haben nur dann Sinn, wenn 1. dieses Ganze unter einen Wertgesichtspunkt gerückt werden kann, 2. die Verbindung der Teile zum Ganzen eben durch diesen Wertgesichtspunkt bestimmt ist, wenn sie also den Wert mit ermöglichen und als wesentliche, geordnete, nicht beliebig auswechselbare Teile angesehen werden. [...] Ob aber das Leben als Ganzes (z.B. ein menschliches Einzelleben) Sinn hat, hängt davon ab, ob dieses Menschenleben irgendeinem größeren Wertzusammenhang als Glied eingeordnet gedacht werden kann.“

Eduard Spranger[22]

Die Seele des Menschen wachse allmählich in den objektiven und normativen Geist der jeweiligen Zeit hinein. Bei ihrer Betrachtung vertrat Spranger ebenfalls einen ganzheitlichen Ansatz:

„[Man muss] die sogenannte Seele selbst ansehen als ein Lebensgebilde, das auf Wertverwirklichung angelegt ist. Ein solches Gebilde im weitesten Sinne nennen wir eine Struktur. Gegliederten Bau oder Struktur hat ein Gebilde der Wirklichkeit, wenn es ein Ganzes ist, in dem jeder Teil und jede Teilfunktion eine für das Ganze bedeutsame Leistung vollzieht, und zwar so, daß Bau und Leistung jedes Teiles wieder vom Ganzen her bedingt und folglich nur vom Ganzen her verständlich sind. [...] Wie in dem physischen Organismus jedes Organ durch die Form des Ganzen bedingt ist und das Ganze nur durch das Zusammenwirken aller Teilleistungen lebt, so ist auch das Seelische ein teleologischer Zusammenhang, in dem jede einzelne Seite allein vom Ganzen her verständlich wird und die Einheit des Ganzen auf den gegliederten Teilleistungen und Einzelfunktionen beruht.“

Eduard Spranger[23]

Dieses Werk diente – gemeinsam mit den Lebensformen – vielen Generationen von Lehrern, Eltern und jungen Menschen als Orientierung zur Bildung und begründete Sprangers Ruf als eines humanistischen Interpreten der geistigen Welt.[24]

Liebe und Lebendigkeit

Nach Spranger verläuft Erziehung immer in einem gegenseitigen psychologischen Interpretieren und Verstehen. Der Einzelne wird bei Spranger „zum Gegenstand der Liebe als ein Gefäß der Werte.“[25] In einem Verhältnis der Liebe solle sich ein gegenseitiges Verstehen entwickeln. Auf dieser Grundlage könne dann die Liebe zur inneren Erzeugung der Kulturgüter geweckt und der Mensch „bildsam“ werden:

„... es muß im Erzieher der betreffende Akt lebendig sein, den er erzeugen will, und er muß ihn endlich zu so isolierter Darstellung bringen, daß er in der Nachbildung rein herauskommt und in seiner spezifischen Bedeutung lustvoll empfunden wird. Dies nennen wir Wertvollmachen, das heißt Hinlenkung des Gefühls auf geistige Grundakte, an denen das Ich sich seiner Kraft und seines aufbauenden Schaffens bewußt wird.“

Eduard Spranger[26]

Berufsbildung und Allgemeinbildung

Spranger zählt zu den Klassikern der Berufspädagogik und hat bedeutende Beiträge zu ihrer Theorie geleistet. Insbesondere setzte er sich als Vertreter der Position Wilhelm von Humboldts mit der Frage nach dem Verhältnis von Allgemein- und Berufsbildung auseinander. An die Stelle der Idee einer einheitlichen allgemeinen Ausbildung trat bei Spranger das Konzept eines nach Berufswegen differenzierten Schulaufbaus. In diesen Bereich fällt seine „Drei-Stufen-Theorie“, nach der ein Mensch zunächst grundlegende Bildung im so genannten allgemeinbildenden Schulwesen erwerbe. Diese spezialisiere er dann auf der zweiten Stufe in Bezug auf eigene Interessen und Begabungen. Hierbei könne bereits von Berufsbildung gesprochen werden. Erst auf der dritten Stufe werde diese zur allgemeinen Bildung fortentwickelt, indem der Mensch „jetzt den Strahlen (folge), die von seinem Zentralgebiet ausgehen“. Diese Phasen gehen dabei nach Spranger ineinander über, das heißt eine jeweilige Phase kann beginnen, bevor die vorausgehende abgeschlossen ist.

Schriften

  • Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Eine erkenntnistheoretisch-psychologische Untersuchung; Berlin 1905
  • Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee; Berlin 1909
  • Die Idee einer Hochschule für Frauen und die Frauenbewegung; Leipzig 1916
  • Kultur und Erziehung. Gesammelte pädagogische Aufsätze; Leipzig 1919
  • Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit; Halle 1921
  • Psychologie des Jugendalters; Leipzig 1924
  • Volk, Staat und Erziehung. Gesammelte Reden und Aufsätze; Leipzig 1932
  • Goethes Weltanschauung; Leipzig 1933
  • Schillers Geistesart, gespiegelt in seinen philosophischen Schriften und Gedichten; Berlin 1941
  • Die Magie der Seele. Religionsphilosophische Vorspiele; Berlin 1947
  • Pestalozzis Denkformen; Stuttgart 1947
  • Goethes Weltanschauung. Reden und Aufsätze; Leipzig 1949
  • Zur Geschichte der deutschen Volksschule; Heidelberg 1951
  • Aus Friedrich Fröbels Gedankenwelt; Heidelberg 1951
  • Pädagogische Perspektiven. Beiträge zu Erziehungsfragen der Gegenwart; Heidelberg 1951
  • Kulturfragen der Gegenwart; Heidelberg 1953
  • Gedanken zur Daseinsgestaltung (aus Vorträge, Abhandlungen und Schriften); München 1954
  • Mein Konflikt mit der Hitler-Regierung 1933, als Manuskript gedruckt im März 1955, geschrieben bereits 1945
  • Der geborene Erzieher; Heidelberg 1958
  • Der Philosoph von Sanssouci; Heidelberg 1962
  • Das Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen in der Erziehung; Heidelberg 1962
  • Menschenleben und Menschheitsfragen. Gesammelte Rundfunkreden; München 1963

Einzelnachweise

  1. Zitiert nach Hans Wenke, Staat und Erziehung, Artikel zum 75. Geburtstag Sprangers, in: DIE ZEIT, 27. Juni 1957, Nr. 26
  2. Eduard Spranger an Käthe Hadlich 1908, Priem 2000, S. 97
  3. Eduard Spranger an Käthe Hadlich 1915, Priem 2000, S. 134
  4. Spranger in einem biografischen Rückblick aus dem Jahr 1953, Priem 2000, S. 71 f.
  5. Vgl. dazu Spranger, Der Philosoph von Sanssouci, Berlin 1942
  6. Zitiert nach Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, C.H.Beck, München 2003, S. 823
  7. Spranger, März 1933, in: Die Erziehung 8 (1933), S. 403
  8. Klaus-Peter Horn, Erziehungswissenschaften an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Rüdiger vom Bruch u.a. (Hrsg.), Die Berliner Universität in der NS-Zeit. Band II: Fachbereiche und Fakultäten, Franz Steiner Verlag, 2005, S. 219
  9. Benjamin Ortmeyer, Mythos und Pathos statt Logos und Ethos, 2009, S. 303 f.
  10. Spranger, Kulturprobleme im gegenwärtigen Japan und Deutschland. Rede, gehalten am 9. Oktober 1937 in Tokyo, in: Die Erziehung 16 (1940/41), S. 128
  11. Eduard Spranger, Rückblick, ohne Jahr, S. 430
  12. Benjamin Ortmeyer, Mythos und Pathos statt Logos und Ethos, S. 395
  13. Spranger, Pestalozzis Denkformen, Stuttgart 1947
  14. Spranger, Goethe. Seine geistige Welt, Tübingen 1967
  15. Vgl. HWPh Bd. 1, S. 932
  16. Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin 1909, S. 492 f.
  17. Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin 1909, S. 6 f.
  18. Spranger, Der Bildungswert der Heimatkunde, 1923, 6. Aufl. 1964. Gesammelte Schriften Band 2, S. 313 ff., bes. S. 317
  19. Spranger, Lebensformen, S. 265
  20. Spranger, Aufruf an die Philologie, in: ders., Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule, 1922, S. 7
  21. Vgl. Spranger, Geist und Seele, Bl. dtsch. Philos. 10 (1937), S. 358–383, bes. S. 374 f.
  22. Spranger, Psychologie des Jugendalters, 24. Aufl. 1955, S. 19
  23. Spranger, Psychologie des Jugendalters, 24. Aufl. 1955, S. 23 f.
  24. Vgl. z.B. Ulrich Herrmann, Art. Spranger, Eduard, in: Walter Killy (Hrsg.), Literaturlexikon, Band 11, S. 118
  25. Spranger, Lebensformen, 1921, S. 172
  26. Zitat bei Peter Drewek, Eduard Spranger, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Klassiker der Pädagogik, Bd. 2, C.H.Beck 2003, S. 144 f.

Literatur

  • Bähr, Walter H. u.a. (Hrsg.): Erziehung zur Menschlichkeit. Festschrift zum 75. Geburtstag Eduard Sprangers. Tübingen 1957.
  • Bähr, Walter H. u.a. (Hrsg.): Eduard Spranger. Sein Werk und sein Leben. Heidelberg 1964.
  • vom Bruch, Rüdiger u.a. (Hrsg.): Die Berliner Universität in der NS-Zeit. Band II: Fachbereiche und Fakultäten. Stuttgart 2005.
  • Hohmann, Joachim S. (Hrsg.): Beiträge zur Philosophie Eduard Sprangers.Berlin 1996.
  • Killy, Walter (Hrsg.): Literaturlexikon. Gütersloh 1989.
  • Klussmann, Rita: Die Idee des Erziehers bei Eduard Spranger vor dem Hintergrund seiner Bildungs- und Kulturauffassung. Frankfurt/ Main 1984.
  • Ortmeyer, Benjamin: Mythos und Pathos statt Logos und Ethos. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Herman Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen. Weinheim 2009.
  • Paffrath, Hartmut: Eduard Spranger und die Volksschule. Bad Heilbrunn 1971.
  • Priem, Karin: Bildung im Dialog. Eduard Sprangers Korrespondenz mit Frauen und sein Profil als Wissenschaftler (1903-1924) Köln 2000.
  • Ritter, Joachim u.a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1971 bis 2007.
  • Sacher, Werner u.a.(Hrsg.): Volkserzieher in dürftiger Zeit. Studien über Leben und Wirken Eduard Sprangers. Frankfurt am Main 2004.
  • Schraut, Alban: Biografische Studien zu Eduard Spranger. Bad Heilbrunn 2007.
  • Schweizerische Lehrerzeitung (Hrsg.): Eduard Spranger. Zur Bildungsphilosophie und Erziehungspraxis. o.A. 1983.
  • Song, S.-J.: Der Erweckungsbegriff in der Pädagogik Eduard Sprangers. Diss. Tübingen 1991.
  • Tenorth, Heinz-Elmar (Hrsg.): Klassiker der Pädagogik. München 2003.
  • Waschulewski, Ute: Die Wertpsychologie Eduard Sprangers. Münster 2002.
  • Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. München 2003.

Weblinks