Benutzer:Otfried Lieberknecht/01
Als Fingerzahlen bezeichnet man die Darstellung von Zahlen und Mengen mit den Fingern, gegebenenfalls auch unter Einbeziehung anderer Körperteile wie Zehen. Sie haben eine praktische Bedeutung als mnemotechnisches und kommunikatives Hilfsmittel für das Zählen, das Rechnen (Fingerrechnen) und das Anzeigen von Zahlen. Darüber hinaus werden sie auch für alpha-numerisch basierte Gebärdensprachen, Gebetstechniken, Feilschrituale und Fingerspiele verwendet.
Einleitung
Neben den Zahlwörtern der Sprache, und noch vor artifiziellen Hilfsmitteln mathematischer Repräsentation wie Kerbholz, Rechenstein, Rechenschnur und Zahlschrift, ist die menschliche Hand das wichtigste Hilfsmittel für das Erfassen, Merken (d. h. das temporäre Speichern) und Kommunizieren von Mengen und Zahlen. Das gilt sowohl für die Indivdiualentwicklung des einzelnen Menschen, wie auch für seine stammes- und und kulturgeschichtliche Evolution.
Entwicklungsgeschichtlich stehen bei beiden am Anfang mehr oder minder intuitive Zählverfahren, welche die zu zählenden Einheiten mit je einem Finger, Fingerglied oder anderen Körperteil im Verhältnis eins zu eins abbilden und durch Einübung und gemeinschsaftlichen Gebrauch bereits Prozessen der Konventionalisierung unterliegen. Mit zunehmender Komplexität der zu erfassenden Wirklichkeit und weil der natürliche Zeichenvorrat des menschlichen Körpers begrenzt ist, ergibt sich die Notwendigkeit zur Ökonomisierung und damit auch zu größerer Abstraktheit der Abbildungsverfahren. Diese Entwicklung zeigt sich an der Entstehung von komplexen Fingerzahlsystemen wie den griechisch-römischen Fingerzahlen bis zur vierten, oder der einhändigen chinesischen Fingergliedzählung bis zur fünften Zehnerpotenz. Sie läßt sich im übrigen ebenso an den artifiziellen Hilfsmitteln wie Kerbholz, Rechenschnur und Zahlschrift beobachten, die ähnliche Entwicklungsschritte wie den Übergang von der Einerzählung zu Bündelung und Stellensystem aufweisen und wegen ihrer leichteren technischen Zurichtbarkeit und besseren Speicherfähigkeit die Fingerzahltechniken abzulösen vermögen.
Begrifflich könnte man unterscheiden zwischen Fingerzahlen im engeren Sinn, die als Fingerzeichen zur gestischen Kommunikation von Zahlen dienen, und Fingerzählverfahren, die in erster Linie mnemotechnisch zum individuellen Merken, aber nicht zum kommunikativen Zeigen von Zahlen gebraucht werden. Im konkreten Einzelfall ist die Grenzlinie aber nicht eindeutig oder mangels geeigneter Dokumentation nur spekulativ zu bestimmen, weshalb im weiteren auch einfache Fingerzählverfahren berücksichtigt sind.
Zehnfingerzählen
Die einfachste oder der westlichen Kultur vertrauteste Art von Fingerzahlen ist die Darstellung der Zahlen 1-5 und 6-10 durch Ausstrecken einer entsprechenden Zahl von Fingern von der geschlossenen Hand, oder durch Wegbeugen dieser Finger von der offenen Hand. Üblicherweise wird hierbei auf jeder Hand mit dem Daumen (= 1 bzw. 6) begonnen und bis zum kleinen Finger (= 5 bzw. 10) gezählt. In arabischen und anderen orientalischen Kulturen beginnt das Zehnfingerzählen dagegen traditionell mit dem Zeigefinger, und der Daumen wird jeweils erst als letzes für die 5 bzw. 10 hinzugenommen, weshalb auch das islamische Schahadah, das Bekenntnis zur Einzigkeit Allahs, mit erhobenem Zeigefinger gebetet wird.
Zwölf Fingerglieder
In einigen Ländern des Fernen Ostens und des Orients, nämlich in Indien, Indochina, Pakistan, Afghanistan, Iran, Türkei, Irak und Ägypten, ist demgegenüber ein Zwölfersystem verbreitet. Hierbei dient nicht der ganze Finger als Zähleinheit, sondern das einzelne Fingerglied (oder Fingergelenk unter Einbeziehung des Wurzelgelenks), und gezählt wird nur an den eigentlichen Fingern ohne den Daumen, so daß sich 4 x 3 = 12 natürliche Zähleinheiten ergeben. Gezählt wird durch Berühung mit dem freien Daumen oder auch mit einem Zählfinger der anderen Hand. Die Zählung führt an jedem Finger abwärts von obersten zum untersten Glied und beginnt mit dem obersten Glied des rechten kleinen Fingers. Sie kann auf der linken Hand bis 24 fortgesetzt werden.
Während das Zehnfingerzählen die natürliche Grundlage unseres Dezimalsystems ist, kann das Zählen der zwölf Fingerglieder als die natürliche Voraussetzung älterer Duodezimalsysteme angesehen werden, deren Nachwirken sich noch in der Stundenzählung des Tages sowie im Gebrauch von Maßeinheiten wie Dutzend (12), Schock (5 x 12) und Gros (12 x 12) zeigt.
Eine erweiterte Technik des Zwölfgliederzählens von 1 bis 5 x 12 = 60, eine mögliche natürliche Grundlage des Sexagesimalsystems unserer von den Babyloniern geerbten Kreis- und Stundenteilung, soll noch heute in einigen Gegenden der Türkei, des Iraks, Irans, Indiens und Indochinas in Gebrauch sein. Gezählt wird dabei auf der linken Hand, während auf der rechten Hand jeweils durch Umlegen eines Fingers gemerkt wird, wie oft die 12 bereits erreicht wurden: man zählt links von 1 bis 12 alle Fingerglieder durch, legt dann rechts den ersten Finger um, zählt links erneut die 12 Glieder von 13 bis 24 durch, legt rechts den zweiten Finger um, und so weiter, bis die rechte Hand zur Faust geballt ist und links die 60 erreicht sind.
Mond- und Sonnenzyklus
Speziell für den mittelalterlichen Computus, die Berechnung der Festtage des christlichen Kirchenjahres, ist durch Beda Venerabilis in dessen Schrift De temporum ratione (cap. 55) und durch weitere mittelalterliche Quellen ein Verfahren bezeugt, die 19 Jahre des Mondzyklus und die 28 Jahre des Sonnenzyklus an den Fingern abzuzählen.
Der "circulus lunaris" (19) wird dabei an den Gelenken aller fünf Finger der linken Hand unter zusätzlicher Einbeziehung der Fingernägel oder Fingerspitzen gezählt. Die Zählung führt an jedem Finger vom Wurzelgelenk aufwärts zur Fingerspitze und beginnt mit dem Wurzelgelenk des Daumens, so daß sich von dort bis zur Spitze des kleinen Fingers 19 Zählpunkte ergeben.
Für die 28 Jahre des "circulus solaris" werden dagegen zunächst auf der linken und dann auf der rechten Hand jeweils nur die je 12 Fingerglieder ohne den Daumen gezählt, und zwar jeweils von rechts nach links, d. h. auf der linken Hand beginnend mit dem kleinen Finger und auf der rechten beginnend mit dem Zeigefinger, wobei jeweils zuerst die oberen, dann die mittleren und zuletzt die unteren Glieder gezählt werden. Zum Schluß wird dann 25-26 an den Daumengliedern der linken und 27-28 an denen der rechten Hand hinzugefügt.
Einfacher ist ein ähnliches Verfahren, die 12 Finger- und 2 Daumenglieder als 28 zu zählen, das noch heute in Indien, Indochina und im südlichen China begegnet. Gezählt wird an beiden Händen jeweils an allen fünf Fingern aufwärts, vom untersten bis zum obersten Glied, und zwar jeweils vom untersten Glied des kleinen Fingers bis zum oberen Daumenglied. Bezeugt ist in jüngerer Zeit außerdem ein chinesisches Verfahren zur Kontrolle des weiblichen Menstruationszyklus, bei dem beginnend mit dem oberen Glied des kleinen Fingers an jedem Tag eine Schnur um eines der 28 Fingerglieder gebunden wird (Ifrah 1991, S.86)
Indisch 2 x 15 und stummes Feilschen
Europäische Reisende beschreiben im 17. und 18. Jahrhundert eine Technik des Fingerzählens, die besonders in Nordostindien verbreitet gewesen und auch heute noch in Bengalen und Bangladesh vorkommen soll. Hierbei werden an jedem Finger vom unteren zum obersten Glied zählend und beginnend mit dem Handballen des Daumens an jeder Hand 15 Glieder gezählt. Die Zahl 15 hat im Hinduismus auch kalendarische Bedeutung: sie entspricht den Tagen des Hindumonats, da das Hindujahr von 360 Tagen in 12 Zeiten von jeweils zwei Mondphasen zu 15 Tagen, einer zunehmenden (Rahu) und einer abnehmenden (Ketu), eingeteilt ist. Das Zählen an den 15 Fingergliedern soll allerdings hauptsächlich zum kaufmännischen Rechnen und stummen Feilschen verwendet worden sein. Hierbei reichen die Händler einander unter einem Tuch die Hand, damit Außenstehende den Handel nicht durchschauen können, und sie geben durch gegenseitiges Berühren der jeweiligen Fingerglieder die Höhe ihres Angebotes bzw. ihrer Forderung zu verstehen.
Stummes Feilschen mit den Fingern ist für die meisten Länder Asiens und des Orients bezeugt. Das einfachste und gebräuchlichste Verfahren beruht auf dem Zehnfingerzählen und wird mit den fünf Fingern einer einzigen Hand vorgenommen, wobei die Fingerzählung nach orientalischer Art mit dem Zeigefinger statt dem Daumen beginnt. Man nimmt die Hand seines Gegenübers in dessen Ärmel oder verdeckt unter einem Tuch und gibt durch Drücken oder Greifen von einem, zwei, drei oder vier Fingern oder durch Drücken der ganzen Hand einschließlich des Daumens zu verstehen, ob man 1, 2, 3, 4 oder 5 Einheiten der jeweiligen Währung bieten will. Die Zahlen 6-9 werden durch additives Greifen (3+3, 4+3, 5+4) angezeigt, oder auch abweichend speziell die Zahl 6 durch Greifen von Daumen und Zeigefinger. Ob um Einer-, Zehner-, Hunderter- oder noch höhere Beträge gefeilscht wird, ergibt sich entweder aus dem Wert der Ware von selbst oder kann ebenfalls durch mehrfaches Greifen der gleichen Finger angezeigt werden, wobei hierbei dann die Zahl der Griffe multiplikativ den Stellenwert anzeigt (zweimaliges Greifen multipliziert mit 10, dreimaliges mit 100, u.s.w.).
Die 3 x 33 Namen Allahs
Nach islamischer Überlieferung besitzt Allah hundert Namen, von denen der Mensch nur 99 kennen kann. Das Gebet der 99 Namen Allahs hat seinen festen Platz in der religiösen Praxis und wird herkömmlich an den Fingern oder am Tasbih, dem islamischen Äquivalent des Rosenkranzes, als jeweils 3 x 33 abgezählt, wobei einige die Gebetskette ablehnen, weil es zu Mohammeds Zeit noch keine Gebetskette gegeben habe, oder weil er selber den Gebrauch von Gebetsperlen oder -steinchen getadelt und stattdessen das Abzählen an den Fingern empfohlen haben soll. Für das Abzählen an den Fingern findet man heute unterschiedliche Verfahren. Das in Asien und Nordarfrika am weitesten verbreitete zählt an jeder Hand beginnend mit dem unteren Glied des kleinen Fingers und unter Einbeziehung des Daumenballens jeweils 15 Glieder, also entsprechend der indisch-bengalischen Zählweise, aber beginnend mit der linken Hand. Die noch fehlenden 3 Zählpunkte werden dann auf der rechten Hand an den Spitzen von kleinem Finger, Ringfinger und Mittelfinger hinzugefügt.
Chinesisch 1 bis 99.999
In China soll es ein im 19. Jahrhundert beschriebenes Verfahren gegeben haben, allein an den 15 Fingergliedern der rechten Hand (unter Einbeziehung des Daumenballens und der beiden Daumenglieder) bis 99.999 zu zählen. Dabei wird beginnend mit dem obersten Glied des kleinen Fingers an jedem Finger insgesamt drei mal gezählt: erst an der linken Seite des Fingers 3 abwärts, dann in der Mitte des Fingers wieder 3 aufwärts und schließlich an der rechten Seite des Fingers wieder 3 abwärts, so daß sich insgesamt 9 Zählpunkte pro Finger ergeben. Diese stehen beim kleinen Finger für die 9 Einer 1 bis 9, beim Ringfinger für die 9 Zehner von 10 bis 90, beim Mittelfinger für die 9 Hunderter von 100 bis 900, beim Zeigefinger für die 9 Tausender von 1000 bis 9000 und beim Daumen für die 9 Zehntausender von 10.000 bis 90.000. Die fünf Finger der rechten Hand bilden auf diese Weise ein echtes dezimales Stellensystem, auf dem man mit den fünf Fingerspitzen der freien linken Hand durch Berühren der entsprechenden Zählpunkte jede beliebige fünfstellige Zahl anzeigen kann.
Griechisch-römische Fingerzahlen
Die Fingerstellungen
Besondere Fingerfertigkeit erfordert ein im griechischen und römischen Schrifttum vielfach erwähntes, aber erst im frühen Mittelalter ausführlich beschriebenes System, durch Fingerstellungen die Zahlen 1-9999 darzustellen. Hierbei werden die Zahlen folgendermaßen dargestellt:
- Die Einer 1 bis 9 auf der linken Hand durch Anwinkeln von jeweils ein oder zwei Fingergliedern des kleinen Fingers, Ringfingers und Mittelfingers
- Die Zehner 10 bis 90 ebenfalls auf der linken Hand durch Stellungen von Zeigefinger und Daumen
- Die Hunderter 100 bis 900 auf der rechten Hand durch diejenigen Stellungen, die linkerhand den Zehnern entsprechen
- Die Tausender 1000 bis 9000 auf der rechten Hand durch diejenigen Stellungen, die linkerhand den Einern entsprechen
Durch Einbeziehung weiterer Körperteile konnten auch die Zehntausender und Hunderttausender und sogar eine Million dargestellt werden, zunächst die Zehntausender jeweils mit der linken Hand:
- 10.000: Die Hand liegt mit dem Handrücken auf der Brust und weist nach oben zum Hals
- 20.000: Die Hand liegt gespreizt auf der Brust
- 30.000: Der Daumen weist auf das Brustbein
- 40.000: Der Handrücken liegt auf dem Nabel
- 50.000: Handfläche nach unten und Daumen weist auf den Nabel
- 60.000: Griff nach dem linken Schenkel
- 70.000: Handrücken auf den Schenkel
- 80.000: Handfläche auf den Schenkel
- 90.000: Griff in den Schritt mit dem Daumen nach vorn
- 100.000 bis 900.000: wie die vorigen, aber jeweils mit der rechten Hand
- Eine Million: Zusammenlegen der Hände mit ineinandergefalteten Fingern
Altertum
Aus schriftlichen Erwähnungen geht hervor, daß die Fingerzahlen in dieser oder ähnlicher Form, jedenfalls aber mit dem charakteristischen Wechsel der Hände ab dem Zahlwert 100, bei Griechen und Römern mindestens seit hellenischer Zeit in Gebrauch waren. In einer von Plutarch (Moralia 3,174B) überlieferten Bemerkung des Orontes, des Schwiegersohnes von Artaxerxes II. wird orientalische Herkunft vermutet, und tatsächlich findet sich eine mögliche Darstellung bereits auf einem ägyptischen Grabmal des 26. Jahrhunderts vor Christus (Ifrah 1991, S.101). In spätantiker Zeit wurden auch mythische Erfinder wie Kadmos namhaft gemacht, während arabische Schriftsteller z.T. ebenfalls wieder auf ägyptische, nämlich koptische Vorgänger verweisen.
Der Gebrauch dieser Fingerzahlen wurde im Altertum im Rahmen des Unterrichts der Arithmetik gelernt und galt als hilfreich auch für die übrigen mathematischen Fächer, insbesondere für die Astronomie. Fingerzahlzeichen für die Zahlen 1-10 und 12-15 sind erhalten auf römischen tesserae, runden Elfenbeinplättchen, in die auf der Rückseite die jeweils gleiche Zahl in römischen Ziffern eingeritzt ist, und die als Spiel- oder Steuermarken verwendet worden sein könnten. Darstellung von Fingerzahlgesten in der bildenden Kunst ist zwar in den aus antiker Zeit erhaltenen Werken nicht ganz sicher identifizierbar, aber durch schriftliche Quellen bezeugt. Der bekannteste Fall, berichtet von Plinius (Nat. hist. 34,33), ist die angeblich durch Numa Pompilius gestiftete Statue des Ianus geminus, die mit den Fingern die Zahl 365 als Zahl der Tage des Jahres gezeigt haben soll. Das Fingerzählen oder -rechnen galt einerseits als Signum des Wissenschaftlers, so durch Cicero (De fin. 1,39) und Sidonius Apollinaris (Epist. 9,14) für die Haltung der Hände in Bildnissen des Chrysippos bezeugt, es wurde andererseits aber vielfach auch zur Charakterisierung von Wucher und Geiz eingesetzt (z.B. Ambrosius, De Tobia 1,25, PL 14,768B), und so ist es dann auch gemeint, wenn der Habgierige die Braut nicht mit dem Auge (wegen ihrer Schönheit), sondern "mit den Fingern" (wegen ihrer Mitgift) erwählt (Hieronymus, Adv. Iov. 1,46, PL 23,275C).
Lateinisches Mittelalter
Ob die Fingerzahlen kontinuierlich bis in das Mittelalter praktiziert wurden, ist nicht sicher zu entscheiden. Dem frühen Mittelalter konnten sie mindestens der Sache nach durch Erwähnungen bei römischen Autoren wie Martianus Capella und in Schriften der Kirchenväter bekannt werden. Eine ausführliche Anleitung auf der Grundlage einer etwas älteren, seit 688 bezeugten Romana computatio gab dann Beda Venerabilis in dem Kapitel De computo vel loquela digitorum seiner 725 verfaßten Schrift De temporum ratione (CCSL 123B, S.271f.). Durch Bedas Schrift, das einflußreichste der chronologischen Lehrwerke des Mittelalters, für das 245 handschriftliche Zeugen bekannt sind, und durch Einarbeitungen seines Kapitels De loquela digitorum in andere Lehrwerke (wie Hrabanus Maurus, De computo, und Abbo von Fleury, In calculum Victorii) war von da an eine breite lateinische Tradition gegeben, in der zur textlichen Beschreibung vielfach auch bildliche Darstellungen hinzukamen.
In welchem Umfang die Fingerzahlen nicht nur als eher antiquarisches Wissen tradiert, sondern als Hilfsmittel für elementares Rechnen und für den Computus auch praktisch gelehrt und eingesetzt wurden, und in welchem Maße sie über Kloster und Schule hinaus auch im kaufmännischen und bürgerlichen Leben eine Rolle spielten, ist mangels eindeutiger Zeugnisse schwer zu beurteilen. Auch im engeren Bereich der klösterlichen Komputistik selber waren sie nicht das einzige System, wie die von Beda in einem anderen Kapitel seiner Schrift beschriebenen Fingerzahlen für den Mond- und Sonnenzyklus zeigen. Der größte Mathematiker des Mittelalters, Leonardo da Pisa ("Fibonacci"), in dem sich ausgedehnte Kenntnis der lateinischen Tradition mit Kenntnis der Praktiken in den italienischen Bank- und Handelsniederlassungen in Nordafrika und im Orient verband, gibt in seinem Liber abbaci (erhalten in der 2. Fassung von ca. 1227) noch einmal eine genaue Beschreibung der Fingerstellungen und empfiehlt, damit Additionen und Multiplikationen zu üben und außerdem beim schriftlichen Rechnen mit den arabischen Ziffern Überträge mit den Fingerzahlen zu merken. Aber Leonardo und sein in 13 Handschriften erhaltener Liber abbaci können nicht unbedingt als repräsentativ für die Praxis des späteren Mittelalters gelten.
Griechisches und arabisches Mittelalter
Im byzantinischen und besonders im arabischen Kulturraum waren die Fingerzahlen des griechisch-römischen, dort aber eher als ägyptisch empfundenen Typs ebenfalls bekannt. Zahlreiche literarische und oft derb obszöne Anspielungen in der arabischen Literatur, die dann z. B. die Zahlen 30 und 90 wegen der gerundeten Form ihrer Fingerzahlzeichen als Umschreibung für den menschlichen Anus verwenden, legen die Vermutung nahe, daß das Publikum diese Zeichen aus eigener Anschauung kannte, hier also wirklich ein "Sitz im Leben" anzunehmen ist. Aus Beschreibungen wie der des persischen Lexikographen Farhanghi Djihangiri (16. Jh.) ergibt sich, daß im arabischen Kulturraum die Verteilung der Zahlen auf die beiden Hände abweichend von der okzidentalen Tradition, aber gemäß der Lesrichtung der arabischen Schrift von rechts (1-99) nach links (100-9999) geordnet war. Im griechischen oder griechisch schreibenden Kulturraum wird dagegen von Rhabdas (Nikolaos Artavasdes) von Smyrna um 1430 im ersten seiner beiden Briefe zur Arithmetik die okzidentale Verteilung von links nach rechts und auch sonst enge Übereinstimmung mit Beda belegt.
Fingerzahlen als Fingeralphabet
Durch ihre dezimale Stufung nach Einern, Zehnern, Hundertern usw. korrespondieren die Fingerzahlen der seit dem 4. Jh. v. Chr. bezeugten griechischen Zahlschrift, in der die 24 Buchstaben des Alphabets unter Hinzunahme von drei als Lautzeichen obsolet gewordenen Sonderzeichen (Digamma für 6, Koppa für 90 und San für 900) in drei Reihen zu je neun Zeichen für die Einer, Zehner und Hunderter eingeteilt waren:
Fingerzahlen und Zahlenexegese
Rechnen mit Fingerzahlen
Ozeanische Körperteilzählung
Während die okzidentalen und orientalischen Kulturen sich im wesentlichen auf das Zählen mit Fingern und Fingergliedern beschränken, sind
Einhändig 1 bis 10
China
Auch nach der heute in China am meisten verbreiteten Methode sind die Zahlen 1 bis 5 mit zunächst angelegtem und zuletzt dann ausgestrecktem Daumen zu zählen. Abweichend wird dann aber die 6 durch Ausstrecken von Daumen und kleinem Finger, die 7 durch Aneinanderlegen von Daumen und Zeigefinger, die 8 durch Auseinanderstrecken von Daumen und Zeigefinger, die 9 durch Anwinkeln des zurückgebogenen Zeigefingers bei gleichzeitigem Schließen der übrigen vier Finger zur Faust und die 10 durch Ballen aller fünf Finger zur Faust oder durch Überkreuzen der Zeigefinger beider Hände dargestellt.
Multiplikation mit Fingern
Diese Methode dient zur Berechnung einer Multiplikation von Zahlen zwischen 5 und 10, also für das kleine Einmaleins ab der Zahl 5. Dabei haben die Finger und der Daumen die Bedeutung der Zahlen 5 (alle Finger offen) bis 10 (alle Finger geschlossen), wie auf der Abbildung gezeigt. Das Vorgehen wird am Beispiel der Multiplikation 7 × 8 erläutert:
- Bei der ersten Hand werden die Finger 6 und 7 geschlossen: diese Hand steht für die 7.
- Bei der zweite Hand werden die Finger 6, 7 und 8 geschlossen: diese Hand steht für die 8.
- Man zählt nun die Anzahl der geschlossenen Finger: das sind 5 Finger (2 Daumen, 2 Zeigefinger und 1 Mittelfinger). Diese Zahl ergibt die erste Ziffer (Zehnerstelle) der Lösung: 5
- Nun zählt man die ausgestreckten Finger pro Hand: An der einen Hand haben wir zwei Finger (Ringfinger und kleiner Finger) und an der anderen 3 Finger (Mittelfiinger, Ringfinger und kleiner Finger). Diese beiden Fingeranzahlen werden multipliziert 2 × 3 = 6. Dies ergibt die 2. Ziffer (Einerstelle) des Ergebnisses: 6
- Lösung: 56
In der 2. Abbildung ist dieses Beispiel gezeigt, wobei hier die Finger nicht gekrümmt wurden.
Diese Rechenmethode ist im hebräischen Sprachraum belegt.[1]
Neuzeitliche Gebärdensprachen
Siehe auch
- Chisanbop, aus Korea stammende Fingerrechenmethode
Literatur
- Karl-August Wirth: Fingerzahlen, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 8, 1986, Sp. 1225-1309