Benutzer:Purrrnerdyness/Roxanna-Lorraine Witt

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Roxanna-Lorraine Witt (*1993 in Minden) ist eine deutsche Wissenschaftlerin, Aktivistin und Autorin. Sie leitete bis 2020 das Bildungsreferat im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma. Im Juni 2020 initiiere sie gemeinsam mit Gianni Jovanovic, Isidora Randjelović, Petra Rosenberg, Joschla Weiss, Kenan Emini u.v.a. die Demo zum Schutz des Mahnmals für die ermordeten Sinti und Roma Europas.[1] Als Expertin für Radikalisierungsprozesse stellte sie als erste deutsche Sintezza ihre Forschungsarbeit zu Radikalisierung in digitalen Räumen und Rassismus gegen Sinti und Roma in Netz und Spielekultur auf der INACH-Konferenz 2019 vor.[2]Seit 2020 ist sie aktiv in der vom European Digital Rights (EDRi) und Digital Freedom Fund (DFF) ins Leben gerufen Initiative zu "Decolonizing Data"[3].Sie und Benjamin Ignac sind derzeit die einzigen Forschenden und Lehrenden auf dem Gebiet der potentiellen Bedrohung durch neue Technologien, Künstliche Intelligenz, Gaming und Gesichtserkennungssysteme für Sinti und Roma Gemeinschaften in Europa.[4] Sie ist Gründerin und Vorstandsmitglied von save space e.V., der Romblog Online Academy und der digitalen Netzwerk- und Bildungsplattform RomaSintiWireOnline. Bekanntheit außerhalb aktivistischer Kreise erlangte sie durch ihren Auftritt in der Sendung "Warum hat Rassismus mit uns allen zu tun?"[5], welche der WDR im Rahmen eines Themenabend im Zuge des Skandal um rassistische Diskurse in der Sendung "Die letzte Instanz" [6]produzierte. Auf Twitter kündigte der Rechtsextremismus-Experte Matthias Quent im Juni 2020 an, dass Witt Teil des Autorenpools der im Oktober 2021 im Transcript-Verlag erscheinenden Publikation "Rassismus. Macht. Vergessen." sein wird[7], in welcher sich die Autoren mit "Rassismus, Rechtsextremismus und Erinnerungskultur" auseinander setzen.[8]

Privatleben

Roxanna-Lorraine Witt wurde 1993 als Kind einer deutschen Sinti-Familie in Minden geboren. Die Familie ihrer Großmutter lebte schon lange in Minden und waren gut in die Stadtgemeinschaft integriert, die traumatischen Erfahrungen der Großmutter und die Auswirkungen der Enteignung ihrer Familie durch die Nationalsozialisten sind wiederkehrende Motive in ihrer politischen Arbeit. Roxanna-Lorraine Witt wurde in eine Familie von Holocaust-Überlebenden Sinti geboren. Von den fünf Geschwistern ihrer Großmutter überlebten nicht alle den Holocaust, die Familie erlitt während dieser Zeit Verfolgung und Hunger. Ihr Ur-Urgroßvater wurde deportiert und ihre Familie konnte sich nach dem Krieg auch dank der Mithilfe der Stadtgemeinschaft wieder zusammen finden und überleben.

Ein Teil ihrer Familie großväterlicherseits waren Bahner und gehörten zu den ersten Bahngewerkschaftern in der Umgebung. Ihr Großvater und ihre Großmutter lernen sich nach Ende des Krieges kennen. Ihre Großmutter lernte von ihm erst im Zuge ihres Kennenlernens Lesen und Schreiben. Ihre Großmutter war von den Erlebnissen des Nationalsozialismus schwer traumatisiert.

Ihre Mutter wurde Opfer der sogenannten "Zweiten Verfolgung" der Sinti und Roma in Deutschland - dem Fortwirken von Verfolgung und Gewalt an Sinti und Roma durch Nationalsozialisten, die in neuen Positionen, bspw. an Schulen, Ministerien oder Gerichten ungestraft weiterwirken konnten - und verließ die Schule deshalb ohne Abschluss.

Ihre Mutter war alleinerziehend. Das Ziel der Mutter war es, ihren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen zu können. Obwohl sich Sinti, und dementsprechend auch Witt, als Deutsche identifizieren und es auch damals schon taten, machte sie auch selbst während ihrer Schulzeit aufgrund ihrer sozio-kulturellen Gruppenzugehörigkeit intensive Diskriminierungserfahrungen.

Aufgrund der Feststellung ihrer Hochbegabung sollte sie als Kind auf einem Internat für hochbegabte Kinder beschult werden. Das Trauma, dass durch die Deportation von Sinti-Kindern aus den Schulen in Konzentrationslager und Vernichtungsstätten im kollektiven Gedächtnis der Sinti und Roma etabliert wurde, verhinderte jedoch, dass die Familie dem Besuch eines Internats zustimmte.

Später zog Witt im Alter von 15 Jahren von zuhause aus. Aufgrund der prekären Situation der Familie begann sie zu arbeiten, um ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten und ihre Schulbildung auf dem zweiten Bildungsweg fortsetzen zu können.[9]

Durch die Auswirkungen des Nationalsozialismus wuchs sie als Kind in schwerer Armut auf.Die Erfahrung der Mehrfachmarginalisierung war maßgeblich für ihre frühe Politisierung.[10] Sie selbst beschrieb in verschiedenen Foren, vor allem in den Blog-artigen Beiträgen auf ihrer Facebook-Seite, wie sie durch die Intersektion einerseits hochbegabt zu sein, andererseits einer stark verfolgten Gruppe anzugehören, verschiedenen Hürden ausgesetzt war und ihr die Förderung und Unterstützung, die sie als Mensch im Autismus-Spektrum gebraucht hätte, versagt blieb. Das Themenspektrum Intersektionalität behandelt sie immer wieder anhand eigener Erfahrungen in ihrer Biographie an den Beispielen Neurodiversität, Behinderung, Gender-Identität und sozio-kulturelle Gruppenzugehörigkeit.

Durch ihr frühes politisches Engagement wurde sie als Stipendiatin von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Sie studierte schließlich Marine Biotechnologie an der Hochschule Bremerhaven.[11] Damit wurde sie zur ersten Person in ihrer Familie, die ein Studium aufnahm.[12]

"Ich habe während meines Studiums an Algen geforscht. Ich war der glücklichste Mensch der Welt, das wollte ich immer tun, den Klimawandel aufhalten durch erneuerbare Technologien. Auf meiner ersten Forschungsreise wurde ich von meinem Dozenten gefragt, woher ich „wirklich“ komme. Als ich sagte, ich sei Sintezza, wusste dieser mir wohlgesonnene Mensch, der den höchsten Grad an möglicher akademischer Bildung besitzt, nicht, was das sein soll, bis er dann mit einem Mal „Ach, Zigeuner!“ ausrief. Da ist mir bewusst geworden, dass in dieser Welt für mich kein Platz ist, bis sich die Verhältnisse ändern." - Witt im Interview mit Juliane Preiss[13]

Aus dem Biotechnologie-Studium wechselte aus wechselte sie direkt in die Leitung des Bildungsreferat am Dokumentation- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma und übernahm damit den Posten des ehemaligen Leiter und Sprachwissenschaftler Reinhold Lagrene.

"Ich wurde dazu erzogen ein freier Mensch zu sein. Der Moment, in dem ich diese Tatsache erkannte, war der, in dem ich mich von den Grenzen, die mir Rassismus setzt, befreien konnte.Ich bin der Überzeugung dass wir für die Rechte aller kämpfen müssen, dem Recht freie Menschen zu sein. Nur so können wir Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Welt bekämpfen in dieser Welt. Aus diesem Grund nahm ich damals die Stelle als Leiterin des Bildungsreferats im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma an. [..] Ich bin der Überzeugung, dass es in der Verantwortung meiner Arbeit liegt, Bildung und Aufklärung zur Emanizpation der Sinti, meiner Leute, beizutragen, denn ohne das werden sie Beute von Neo-Nazi-Parteien werden. Verglichen zu meiner Familie und anderen Angehörigen meiner sozio-kulturellen Gruppe bin ich in einer priveligierten Position aufgrund meiner Bildung und weil mir mein physisches Erscheinungsbild es erlaubt meine Identität einfacher zu verstecken als andere, wenn ich dies wollte, während es eine Menge Menschen von uns gibt, die diese Möglichkeit nicht besitzen.[...] Wir müssen füreinander einstehen und mit anderen marginalisierten Gruppen zusammen stehen gegen jene, die unser Existenzrecht bedrohen." Roxanna-Lorraine Witt im Gespräch mit Mary-Evelyne Porter[9]

Wirken

Die Facebook-Seite von Roxanna-Lorraine Witt ist sowohl privater Blog, als auch ein wichtiges politisches Medium der Sinti und Roma Aktivisten-Szene, auf dem regelmäßig bekannte Persönlichkeiten aus Medien, Politik und Wissenschaft an den Diskursen teilnehmen, welche sich üblicherweise in den Kommentarspalten abspielen. Neben aktuellen Meldungen aus dem Tagesgeschehen der Gemeinschaften werden auf Witts Seite regelmäßig Persönlichkeiten und ihr Wirken vorgestellt. Sie gilt sowohl in der deutschen Aktivisten-Szene, als auch international als Revolutionärin und Hoffnungsträgerin für Umbruch und gehört zu den einflussreichsten Persönlichkeiten aus der Community.

Gemeinsam mit der Journalistin Gilda Horvath gründete sie auf der Plattform 2020 die Gruppe RomaSintiWireOnline, in welcher die beiden in verschiedene Polit-Talks und Interviews die Menschenrechtsverletzungen und strukturelle Benachteiligung von Roma und Sinti in Europa während der COVID-19 Pandemie thematisierten. Für das François-Xavier Bagnoud Center for Health and Human Rights der Harvard-Universität bildete sie daraufhin strukturelle Ungleichheit als Risiko-Faktor in der Pandemie für die Gruppen der deutschen Sinti und die Auswirkungen auf deren Lebensrealitäten im Rahmen einer digitalen Sonderserie des Institutes ab.[14][15]

"Romani Leadership - das bedeutet, dass wir unsere Träume und Ziele selbst in die Hand nehmen und damit nicht nur zu Vorbildern für uns selbst, sondern auch für andere werden, das gleiche zu tun. Es gibt einen Spruch, der sagt: Sei selbst die Veränderung, die du in anderen sehen willst. Die Zukunft beginnt bei dir." [16] - Roxanna-Lorraine Witt

Empowerment von mehrfachmarginalisierten Gruppen ist eine der zentralen Forderungen und Ziele ihres Wirkens. Sie verwendet dafür gehäuft den Begriff des "Romani-Leadership" gepaart mit der Forderung, dass Sinti und Roma Zugang zu politischer Teilhabe in einem Maß gewährt werden sollte, dass ihre Kompetenzen und Fähigkeiten unter Berücksichtigung des jahrhundertelangen, konstruktiven Einflusses auf deutsche und europäische Kultur würdigt. Daraus sollte sich nach Witt ergeben, dass den Angehörigen der Gruppen der Roma und Sinti eine tragende Rolle bei der Ausrichtung des politischen Kurses, aber auch in Gestaltung von Medien oder Unternehmen zukommen sollte, anstatt diese in Programmen der Sozialarbeit maximal zu Fließbandarbeitern auszubilden und auszubeuten und sie so in der Abhängigkeit der Sozialhilfe und ihrer Maßnahmen zu halten.

"Wir als Community müssen unsere Ressourcen darauf konzentrieren, Menschen zu empowern. Jung bis alt müssen emporwert werden. Wir haben lange genug darum gebeten, einen Platz am Tisch der Dominanzgesellschaft zu bekommen. Wir müssen anfangen, unseren eigenen Tisch zu bauen." - Witt im Interview mit Johanna Hirzberger von Radio Radieschen[17]

Zur gleichen Zeit, zu der die Polit-Talks in der Gruppe starteten, begannen Witt und Horvath damit digitale Online-Kurse zu geben, in denen vor allem Selbstorganisationen und Aktivistinnen aus der europäischen Aktivisten-Szene dazu befähigt werden sollten ihre Arbeit in den digitalen Raum verlegen zu können, da dies durch die Menschenrechtsverletzungen der Sinti und Roma in der Pandemie[18] [19][20]besonders dringlich wurde und die meisten Selbstorganisationen der Sinti und Roma kaum bis gar keinen Zugang zu digitaler Teilhabe und Bildung besitzen. Aus dieser Idee entwickelten sie die sich noch im Aufbau befindende Romblog Online Academy, der ersten MOOC-Plattform von Roma und Sinti. Witt hatte bereits 2019 mit der Gruppe Sinti-Roma-Pride Gegenredestrategien zu antiziganistischer Hassrede im Netz entwickelt und implementiert und dabei gemeinsam mit anderen Aktivisten eine hohe Reichweite erlangt. Diese nutzte sie u.A. dazu, den Konzern Kelly´s über die Bewertungsfunktion auf ihrer Facebook-Seite in einen öffentlichen Diskurs zu verwickeln. Dabei standen als zentrales Thema die sogenannten "Zigeunerräder" der Marke im Fokus der Debatte. Witt übernahm die mehrheitlich von Vertretern der Sinti und Roma vertretene Position, dass der "Zigeuner"-Begriff diskriminierender und entmenschlichender Natur sei und kein Produkt, um Speisen zu benennen. Sie veröffentlichte den privaten Nachrichtenaustausch mit der Firma Kelly´s, in welcher sie die ethische Frage danach stellte, wie ein Konzern es rechtfertigen könne seine Produkte mit einem Begriff zu benennen, der KZ-Insassen in die Haut eintätowiert wurde. Kurze Zeit später veröffentlichte sie eine private Nachricht der Firma, in welcher diese ankündigte das Produkt umzubenennen.[21] Im August 2020 gaben Kelly´s öffentlich bekannt, die "Zigeunerräder" in "Zirkusräder" umzubenennen.[22][23] Im Zuge des Diskurses, der sich zeitgleich in der Facebook-Gruppe der Initiative Sinti-Roma-Pride aus diesen Entwicklungen ergab, erschienen verschiedene Videos, in denen sich Aktivistinnen aus der Szene gegen die Verwendung des "Zigeuner"-Begriffes allgemein, aber im Speziellem gegen die Bezeichnung von Gerichten, wie der "Zigeuner"-Soße, aussprachen. Die Reaktion von Kelly´s hatte zur Wirkung, dass schließlich auch der Knorr-Mutterkonzern Unilever verkündete, die Produkte seiner Marken nicht weiter so zu bezeichnen.[24][25]

WDR und "Die letzte Instanz"

"Die Angehörigen der Minderheit als gleichwertige Individuen anzuerkennen, bedeutet, ihnen das Recht auf Selbstbestimmung zuzugestehen und damit auch das Recht auf Selbstbezeichnung. Sie weiterhin mit einem Begriff zu adressieren, der historisch für ihre Unterdrückung steht, ist Ausdruck derselben und sorgt gleichzeitig für ein Fortbestehen des Machtgefälles, gegen das sich Sinti*zze und Rom*nja in jedem Land, in dem sie leben, kontinuierlich zur Wehr setzen müssen. Sprache ist eines der wirkungsvollsten Mittel, um derartige Machtgefälle zu konstruieren und am Leben zu erhalten – jedes faschistische Regime hat sich in der Vergangenheit eines Propagandaapparates bedient, um seine Macht zu wahren. Und auch in einer Demokratie zählen die Medien zu den wichtigsten Instanzen, die das politische Klima beeinflussen." - Roxanna-Lorraine Witt im Interview mit Carina Parke[26]

Vorgeschichte

Im Januar 2021 wurde eine Wiederholung der WDR-Sendung "Die letzte Instanz" ausgestrahlt, bei der Moderator Steffen Hallaschka gemeinsam mit Autor Micky Beisenherz, dem Moderator Thomas Gottschalk, der Schauspielerin Janine Kunze und dem Schlagersänger Jürgen Milski die Entwicklungen um den Begriff der "Zigeunersoße" im Zuge der Umbenennung dieser, u.A. durch Knorr, zur Debatte stellte. Die Sendung wurde eingeleitet von Trailern, die dazu geeignet waren Stereotype und Vorurteile gegenüber Sinti und Roma zu schüren. Im Anschluss verglich Janine Kunze die Blicke, die sie als "Frau mit relativ großer Brust" erntete mit der strukturellen und systematischen Unterdrückung, die Roma und Sinti erfahren und stellte ihre Erfahrung mit diesen au eine Ebene. Thomas Gottschalk erzählte davon, wie er als Kind zu Karneval Blackfacing betrieb und sich durch diese Erfahrung, sich als Schwarzer Mensch zu Karneval zu verkleiden, in die Position von Schwarzen und marginalisierten Menschen hineinfühlen könnte. Kunze unterstellte schließlich dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, dass dessen Mitarbeiter wohl "nichts Besseres zu tun" hätten, nachdem sie von Hallaschka darauf hingewiesen wurde, dass auch der Zentralrat schon in der Vergangenheit sich gegen die rassistische Fremdbezeichnung für Sinti und Roma mit Nachdruck ausgesprochen hatte. Wie in der Sendung üblich, wurden die Anwesenden am Ende der Sendung gebeten das finale Urteil über das debattierte Thema zu treffen. Bei dem Diskurs waren ausschließlich weiße Gäste und weißes Publikum, bzw. die Mitarbeiter des WDR, welche aufgrund der Pandemiebedingungen das Publikum vertraten, anwesend. Diese fällten "in letzter Instanz" das Urteil, dass der Begriff weiterhin unproblematisch genutzt werden könne. Die symbolische Wirkung, dass weiße Menschen sich als absolute "letzte Instanz" im Fernsehen über die Empfindungen und Historie einer Verfolgtengruppe des Nationalsozialismus inszenierten löste über die Grenzen von Deutschland Empörung aus.[27]

Die Künstlerin Enissa Amani veröffentlichte als Reaktion auf ihrer Instagram-Seite ein 22,5 Minuten langes Video, in der sie die Ebenen des strukturellen Rassismus der Sendung analysiert und in den Kontext des durch die vorangegangene globale Black-Lives-Matter-Bewegung induzierten politischen Paradigmenwechsels stellte. Im Kontext der Kritik an ideologisch Wirksamen Vorstellungen weißer Vorherrschaft und Überlegenheit, wie sie auch im Rahmen von Kritischer Weißseinsforschung angewandt wird, forderte Amani die Verantwortlichen und insbesondere den WDR auf, Verantwortung zu übernehmen. Als der WDR im Anschluss nur schleppend auf die Kritik reagierte und Hallaschka seine Gäste in Schutz nahm, weil Amani diese in ihrem Statement als "Schrottmenschen" bezeichnete, entschloss sich Amani selbst zu handeln. Mit Gianni Jovanovic, Natascha Kelly, Max Czollek, Nava Zarabian und Mohammed Amjahid als Gästen, präsentierte sie unter dem Titel "Die beste Instanz" eine von ihr selbst finanzierte und produzierte Youtube-Sendung, in der die Forderung nach Diversität und Pluralität, sowohl in der Auswahl der Gäste, als auch in Hinblick auf politische Perspektiven, umgesetzt wurde. Ihr Ziel war es zu zeigen, dass die Umsetzung einer solchen Sendung im Sinne des politischen Zeitgeist keine Frage des Könnens, sondern des Willens ist und Menschen aus marginalisierten Gruppen sowohl Kompetenz, als auch Fähigkeit besitzen für und über sich selbst zu sprechen - oder auch für andere Themen als Experten aufzutreten.[28] Sie gewann 2021 schließlich den Grimme-Preis für "Die beste Instanz".[29]

"Freiheit,Gleichheit,Hautfarbe"

Im Anschluss an diese Entwicklungen sah sich der WDR schließlich im Zugzwang und bereitete mehrere kleinerer Formate vor, bei der Sinti und Roma symbolisch eine Plattform gegeben wurde. So sah man Roxanna-Lorraine Witt, zusammen ihrer save space e.V. Co-Vorsitzenden Amdrita wenige Tage vor dem Themenabend, der als Reaktion auf "Die letzte Instanz" geplant wurde, im Format "Dumm gefragt" des WDR-Formats 1live. In diesem traten u.A. auch Sejnur Memiši, der Begründer des ersten Podcast der Roma und Sinti "Rymecast"[30], sowie die Aktivistinnen Shimano Petermann und Christina Schumacher auf.[31]

Ursprünglich wurden als Gäste für den Themenabend Tayo Awosusi-Onutor, Hadija Haruna-Oelker und Perla Londole eingeladen, mit Aladin El-Mafaalani und Svenja Flaßpöhler durch den Themenabend zu führen, zu dem sich auch Jörg Schönenborn gesellen sollte.. Alle drei sagten jedoch am Tag vor der Ausstrahlung des Themenabends mit teils unterschiedlichen, teils ähnlichen Begründungen ab:

"Abgesagt haben die Sängerin Tayo Awosusi-Onutor, die sich beim Verein RomaniPhen engagiert, die Journalistin Hadija Haruna-Oelker und die Black-Lives-Matter-Organisatorin Perla Londole. Von den angekündigten Teilnehmerinnen und Teilnehmern verbleiben somit noch der Soziologe Aladin El-Mafaalani, die Philosophin Svenja Flaßpöhler, die eine Deutschlandradio-Sendung über diskriminierende Sprache um von ihr ins Studio mitgebrachte Schokoküsse organisierte, sowie WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn, der seinem Sender im Vorfeld attestierte, „seit Jahrzehnten ganz vorn“ zu sein, „wenn sich unsere Gesellschaft verändert“.

Der WDR teilt auf Anfrage mit, Grund für die Absagen seien „u.a. unterschiedliche Vorstellungen über die inhaltliche und personelle Gestaltung der Diskussionsrunde. Dies werden wir in der Sendung thematisieren.“

Neu in der Runde sind die Journalistin Sheila Mysorekar vom Verein Neue deutsche Medienmacher und die Wissenschaftlerin Roxanna-Lorraine Witt.

„Ich wollte gern nicht als Token fungieren“

Tayo Awosusi-Onutor sagt im Gespräch mit Übermedien, sie habe trotz einiger Bedenken ihre Teilnahme zunächst zugesagt, um eine breite Öffentlichkeit für Perspektiven von Roma und Sinti zu erreichen. Sie hätte ursprünglich zur Bedingung gemacht, dass noch jemand aus dieser Minderheit zu Gast ist, damit nicht, wie sonst immer, höchstens eine Person stellvertretend für viele sitze. „Ich wollte gern nicht als Token fungieren. Das war nicht möglich.“

Trotzdem wäre sie gekommen, doch dann hätten sich die Probleme gehäuft. Erst am Montag habe sie die Konstellation der Teilnehmerinnen und Teilnehmer erfahren, und nur zufällig in einer organisatorischen Mail vom Sendungstitel. Der Ablauf sei unklar gewesen. Alles habe sie schließlich in ihrer Kritik bestätigt: „Der Sender will nicht rassistisch geprägte Strukturen angehen.“ Sie bekam den Eindruck, dass die geplante Diskussion kein Rahmen sein könnte, in dem eine ersthafte, auch schmerzhafte Diskussion möglich wäre. Das Vorgehen der Redaktion sei ein Spiegel der Gesellschaft: „Alle sind sich einig, dass Rassismus schlecht ist und man etwas dagegen tun müsse – aber nicht mit soviel Arbeit.“

Strukturelle Probleme

Hadija Haruna-Oelker arbeitet als freie Journalistin unter anderem für den Hessischen Rundfunk und kennt daher selbst die Abläufe, wenn Gäste zu einer Sendung eingeladen werden. Umso erschrockener war sie, als sie kurz vor der Sendung das Gefühl bekam, von der Redaktion nicht ehrlich gesagt bekommen zu haben, worüber und in welcher Konstellation sie in der Sendung sprechen sollte.

Angefragt worden sei sie, um über die Frage zu reden, inwiefern das Misslingen der Sendung „Die letzte Instanz“ ein Einzelfall sei oder für ein strukturelles Problem stehe. Ihr Part sollte sein, „medienkritisch über Rassismus und diversitätssensible Berichterstattung zu sprechen“, schreibt sie auf Twitter. Auf Rückfrage von Übermedien erklärte sie, dass sie sich plötzlich in einem Zweiergespräch mit Flaßpöhler über Sprache auseinandersetzen sollte – anders als ihr das auf konkrete Rückfrage von der Redaktion vorher gesagt worden sei.

„Ich wollte einen Beitrag leisten, um auf konkrete Probleme in der Medienlandschaft aufmerksam zu machen und für mehr Sensibilität zu sorgen“, sagt Haruna-Oelker. Sie habe nicht dafür zugesagt, darüber zu reden, was man noch sagen darf und was nicht. Debatten dieser Art finde sie als Reaktion auf die Kritik an „Der letzten Instanz“ nicht angemessen. Nachdem sie ihre Absage ankündigt hatte, habe die Redaktion noch angeboten, den Ablauf zu ändern; doch das konnte ihre Entscheidung nicht mehr umkehren.

Ein unwohles Gefühl

Auch Perla Londole von der Black Community Foundation beklagt, dass sie von der WDR-Redaktion im Vorfeld über den Ablauf und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer weitgehend im Dunklen gelassen worden sei. Ihr sei es zum Beispiel wichtig gewesen, dass Expertinnen und Experten teilnehmen. Statt einer Rückmeldung erfuhr sie dann die Namen der anderen Gesprächsgäste über die sozialen Medien.

Sie habe dann ein unwohles Gefühl gehabt: „Das wird eher eine Debatte, anstatt den Betroffenen zuzuhören.“ Der Ablauf erschien ihr fragwürdig. „Es war nicht gut erklärt und nicht gut organisiert“, sagt sie. „Ich wollte nicht, dass es nach der Sendung einen Shitstorm gibt und ich mittendrin.“

„Reinwaschungs-Talk“

Der WDR wollte es diesmal besser machen – und hält sich selbst eigentlich für superprädestiniert, es richtig zu machen. Doch ausgerechnet bei der Organisation des großen Themenabends, der auch ein großer Wiedergutmachungsabend sein sollte, mit „Reinwaschungs-Talk“, wie es die Komikerin Enissa Amani nannte, ließ die Redaktion offenbar jegliches Gespür für die Anliegen mehrerer Schwarzer Teilnehmerinnen vermissen. Sie hatten Angst, missbraucht zu werden für ein Gespräch, das sich an Oberflächlichem abarbeitet und die schmerzhaften strukturellen Probleme ausblendet."

- Steffen Niggemeier für Übermedien[32]

"Warum hat Rassismus mit uns allen zu tun?"

Im Zuge der Kritik an Titel und Inhalt und den Absagen der Gästinnen änderte der WDR seinen Titel und lud Sheila Mysorekar und Roxanna-Lorraine Witt ein. Witt erörterte in der Sendung die Dimensionen der Entmenschlichung, die mit der rassistischen Fremdbezeichnung für Sinti und Roma verbunden sind. Als Schönenborn davon sprach, dass es dem WDR ein Anliegen sei Menschen aus benachteiligten Gruppen zu fördern und diesbezüglich auf das spezielle Volontariats-Programm aufmerksam machte, widersprach im Witt und führte an, dass seit Bestehen des WDR bis heute absolut keine Sinti oder Roma in dessen Reihen gearbeitet hätten und das heute auch nicht täten. Witt formulierte anschließend Forderung und Nachfrage in einem, als sie an Schöneborn gerichtet sagte, dass Rassismus zu bekämpfen bedeuten müsse, strukturelle Veränderung und Ausgleich struktureller Benachteiligung herbei zu führen und ob der WDR bereit sei, in dieser Form Rassismus entgegen zu wirken, indem er dafür Ressourcen wie Sendezeiten, Arbeitsplätze und die Abgabe von Macht, etwa konkret durch zeitnahe Besetzung von Führungspositionen mit Menschen aus (mehrfach-)marginalisierten Gruppen zur Verfügung stelle. Schönenborn machte daraufhin auf Nachfrage von Moderator Till Nassif vor einem Millionenpublikum ein Zugeständnis auf die Frage nach dem "ob" an Witt:

"Ja." - Jörg Schönenborn

Witt rückte die strukturellen Ebenen von Rassismus in der Sendung in den Vordergrund und bettete diese ein in Kapitalismuskritik, als sie erörterte, dass Rassismus im kapitalistischen System Ausbeutungsverhältnisse rechtfertige. Wie auch in anderen Beiträgen von ihr, betonte sie in der Sendung die Realität von Menschen mit Marginalisierungserfahrungen als ebenbürtige und nicht als "gefühlte" Wahrheit, etwa indem sie sagte, dass sich Menschen "nicht diskriminiert fühlen, sondern diskriminiert werden". Sie streifte zudem mehrmals die von ihr intensiv bearbeiteten Themenkomplexe Identität und Trauma, u.A. mit ihrer Aussage, dass weiße Menschen eine Identität benötigen würden, die nicht gewaltgeladen sei und auf der Ausbeutung anderer basiere oder als sie am Beispiel ihrer Kindheitserfahrungen mit ihrer vom Holocaust traumatisierten Großmutter dem Publikum die Funktionsweise transgenerationelle Traumaübertragung verdeutlichte.

Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas

Vorgeschichte

Im Mai 2020 veröffentliche die TAZ den Artikel "Roma-Mahnmal in Gefahr: Gedenken bleibt auf der Strecke":

"Das Denkmal für die im Nationalsozia­lismus ermordeten Sinti und Roma Europas im Tiergarten ist bedroht: Weil in einigen Jahren unter dieser Stelle in der Nähe des Reichstagsgebäudes der neue S-Bahn-Tunnel zwischen Hauptbahnhof und Potsdamer Platz gebaut werden soll, soll die Anlage nach den aktuellen Plänen der Deutschen Bahn AG temporär entfernt oder in Teilen gesperrt werden. Beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma stößt das auf Empörung und Widerstand.

Hintergrund ist der lange unklare und erst Ende Januar festgelegte Verlauf der künftigen S21, die den Hauptbahnhof endlich auch in Nord-Süd-Richtung an das S-Bahn-Netz anschließen soll. Nach Norden hin ist die Verbindung zur Ringbahn fast fertiggestellt, nach Süden stand den Planungen lange Zeit die Frage im Weg, wie der Reichstag unterirdisch umfahren werden soll.

Die Lösung, die schließlich vom Bundestag, dem Land Berlin und der Deutschen Bahn AG vereinbart wurde, sieht vor, dass sich der Tunnel nach der Spree-Unterquerung in zwei Arme spaltet, die westlich und östlich am Parlamentsgebäude vorbeiführen. Südlich davon laufen sie wieder zusammen. Ab hier wird das Tunnelbauwerk in offener Bauweise fortgeführt – und hier steht seit 2012 das Mahnmal für die Sinti und Roma."[33]

Der Artikel verbreitete sich innerhalb von Stunden in den sozialen Medien. Weniger als 24 Stunden später hatte bereits die bekannte Sinti-Roma-Pride Aktivistin Verena Lehmann die Petition "Das Mahnmal der ermordeten Sinti und Roma bleibt!" gestartet, welche mittlerweile über 9000 Unterschriften zählt (Stand: 27.06.2021). Zeitgleich versammelten sich mit Gianni Jovanovic und Roxanna-Lorraine Witt von save space,weitere Aktivistinnen, darunter Isidora Randjelović, Tayo Awosusi-Onutur, Jane Weiss, Roxie Thiele-Dogan, Joschla Weiss, Svetlana Kostic und Hajdi Barz vom feministischen RomaniPhen-Archiv, Petra Rosenberg vom Landesverband Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg, Kenan Emini vom Roma Antidiscrimination Network RAN, Milan Pavlovic vom Rroma Info Centrum und viele weitere Aktivistinnen, um eine Protestkundgebung anzumelden.

Das RAN veröffentlichte kurze Zeit später den folgenden Aufruf, der von verschiedenen Sinti und/ oder Roma-Selbstorganisationen auf nationaler und internationaler Ebene, so wie verschiedenen Vereinen und Bündnissen mitunterzeichnet wurde:

"Das zentrale »Mahnmal der im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas« ist durch Pläne der Deutschen Bahn bedroht. Eine Strecke der Berliner S-Bahn soll unter dem Mahnmal durchführen. Der Gedenkort soll (teilweise) entfernt und über viele Jahre gar nicht mehr zugänglich sein. Über 60 Jahre mussten Roma und Sinti um dieses Mahnmal und die mit ihm verbundene Anerkennung ihres Leids kämpfen.

Es gibt zur Zeit Gespräche über alternative Bahnstrecken – aber es steht nicht fest, wie diese Gespräche ausgehen werden. Daher finden wir es wichtig, darum zu kämpfen, dass das Mahnmal in der bestehenden Form bleibt und in keiner Weise angetastet wird. Die deutsche Bahn muss ihre Pläne ändern. Nichts von dem Areal rund ums Mahnmal darf angetastet werden. Es gibt immer weniger Zeitzeug:innen. Darum ist es umso wichtiger, dass das Mahnmal sicher bestehen bleibt, nicht jetzt und auch nicht in Zukunft angetastet wird.

Alle heute lebenden Roma und Sinti sind Nachkommen der Verfolgten, Kinder und Enkel der Überlebenden. Viele unserer Menschen haben kein Grab. Sie wurden in Todeslagern vergast, in Wäldern erschossen, in Massengräbern verscharrt. Unser Denkmal in Berlin ist der Ort, an dem wir um die Toten ohne Gräber trauern.

Es ist aber nicht nur ein Ort der Trauer für die Hinterbliebenen. Es ist auch ein Ort der Mahnung. Ein Ort des Nie wieder. Somit erfüllt das Mahnmal eine wichtige Funktion für die Mehrheit. Wir können den Völkermord an unseren Menschen nicht vergessen. Die Mehrheitsbevölkerung kann das durchaus, sofern sie überhaupt vom Völkermord an Roma und Sinti weiß. Das Mahnmal ist ein Ort, an dem die Mehrheit aus der Geschichte lernen kann. Darum ist auch die Mehrheit in der Verantwortung, für den Ort zu kämpfen.

Die Reichsbahn hat Zwangsarbeiter:innen nach Deutschland verschleppt, ohne die Wirtschaft und Krieg nicht aufrecht erhalten worden wären. Sie hat Millionen damit verdient, Menschen in die Arbeits- und Todeslager zu transportieren. Dass es jetzt gerade ihre Nachfolgerin ist, die Deutsche Bahn, die unser Denkmal zerstören wird, ist eine unerträgliche Respektlosigkeit gegenüber den wenigen Überlebenden, die noch da sind, und allen unseren Menschen.

Die Verfolgung von Roma ist nicht nur Teil der Geschichte. Sie ist auch Teil der Gegenwart. Rassismus, Diskriminierung und Gewalt sind Teil unseres Alltags. In Deutschland, in Europa, in der Welt.

Die Abwehr, die sich gegen uns richtet, sowohl in der Migrationsabwehr als auch in historisch gewachsenen strukturell rassistischen Vorgängen – sie wirkt schlimmer je weniger Unterstützung und Wahrnehmung wir haben. Daher empfinden wir schon die Diskussionen um das Mahnmal als Angriff.

Wir sprechen uns seit Jahren gegen ein leeres Erinnern und ein kaltes Vergessen aus. Um die Unterbrechung der fortgesetzten Geschichte müssen wir weiter ringen.

Wir haben bereits mit weiteren Roma-Selbstorganisationen gemeinsam eine Demo in Berlin organisiert unter dem Motto: Schützt das Mahnmal für die Sinti und Roma Europas. Wir organisieren weiter Proteste, Kundgebungen, Demonstrationen, Gedenkveranstaltungen, bis das Mahnmal sicher ist.

Dani Karavan, der Künstler, der das Mahnmal gestaltete, hat angekündigt, dieses notfalls mit seinem Körper zu schützen. Er ist heute 89 Jahre alt. Wir nehmen das als Auftrag und wir rufen euch: Aus Respekt für die bis zu 1,5 Millionen ermordeten Roma und Sinti Europas! Zeigt eure Solidarität, beteiligt euch und kämpft mit uns ums Mahnmal – egal wo, egal wie – by any means necessary!."[34]

Am 13.06.2020 fand die Protestaktion zum Schutz des Mahnmals für die ermordeten Sinti und Roma Europas statt. Der Aufruf dazu richtete sich im Vorfeld mit folgenden Worten an die Protestierenden:


"Protestaktion: Schützt das Mahnmal/Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas!

Liebe Rom*nja und Sinte*ze, liebe Freund*innen, Mitstreiter*innen,

nur drei Monate, nachdem in Hanau neun Menschen ihr Leben als Opfer von rassistischem Terrorismus ließen und noch mehr verletzt wurden,

nur wenige Wochen, nachdem mehrere Rom*nja und Sinte*ze ein weiteres Mal Opfer desselben Gedankengutes wurden, das bereits einmal in der Geschichte Deutschlands, in der Geschichte Europas mehr als einer halben Million Rom*nja und Sinte*ze das Leben kostete, als sie ihren Tod in den Vernichtungslagern fanden und Opfer eines systematischen Genozid wurden,

ja, während unsere Tränen noch nicht versiegt sind und unsere Wut noch frisch ist, müssen wir uns bereits gegen den nächsten Angriff auf unsere Würde und Anerkennung wehren.

Unser zentraler Gedenkort, Grabmal der Unbegrabenen – das Mahnmal/Denkmal für die ermordeten Sinte*ze und Rom*nja   Europas im Zentrum Berlins ist bedroht. Bedroht ausgerechnet von jenen, die besonders in Verantwortung für die jetzige Gesellschaft und zukünftige Generationen handeln müssten: Der Deutsche Bundestag und die Deutsche Bahn! Nach deren gemeinsamen Plänen soll unser Mahnmal für ein Bauvorhaben – für eine S-Bahn – temporär entfernt oder teilweise gesperrt werden. Die Deutsche Bahn nennt dieses Bauvorhaben „eines der wichtigsten Zukunftsprojekte“ für Berlin[1].

Nach fast drei Dekaden Kampf der Bürger*innenrechtsbewegung von Sinti*zze und Rom*nja und ihrer Verbündeten und nach mehr als zwei Jahrzehnten Planung und Bau wurde 2012 das vom jüdischen Künstler Dani Karavan entworfene Mahnmal/Denkmal der Rom*nja und Sinte*ze in Berlin Tiergarten gegenüber des Reichstagsgebäudes eingeweiht. Erst seit 2012 haben wir Sinte*ze und Rom*nja einen Ort des Gedenkens und der Erinnerung an all jene, die nicht zurückgekommen sind, die den deutschen Faschisten und ihren Verbündeten zum Opfer gefallen sind. Erst seit 8 Jahren gibt es mit dem Mahnmal/Denkmal ein sichtbares Eingeständnis von Schuld, Verantwortung und der Mahnung. Deutsche Politik und Gesellschaft hat beschämend lange gebraucht, um den rassistischen Genozid an den Rom*nja und Sinte*ze Europas anzuerkennen. Diese Genugtuung kam für viele der Überlebenden zu spät. Sie lebten auch nach 1945 Jahrzehnte ohne symbolische Anerkennung und finanzielle Entschädigung für ihr erlittenes Leid und in permanenter Angst vor erneuter Verfolgung und einer Wiederholung der erlebten Geschichte.

Auch die Deutsche Bahn AG brauchte viele Jahrzehnte, um sich ihrer Geschichte zu stellen und anzuerkennen: ohne die Vorläuferorganisationen der Deutschen Bahn wäre die Verschleppung von Sinte*zze und Rom*nja in die Vernichtungslager nicht möglich gewesen. Die Erinnerung daran und die Mahnung sei für die Deutsche Bahn AG wachzuhalten, sie sei für Erinnerung und gegen das Vergessen.[2] Wie können wir nun diese Bekenntnisse heute für glaubhaft halten?

Dieses Mahnmal/Denkmal dient nicht nur den Rom*nja und Sinte*ze, nicht nur den Überlebenden des Völkermordes, ihren Angehörigen und Nachkommen als Ort des stillen Gedenkens und der Erinnerung. Das Mahnmal/Denkmal ist Ort des Lernens und des Gedenkens für die gesamte Weltgesellschaft geworden und es ist ein wichtiges Symbol Deutschlands, eine Botschaft für die Welt, das Leid der Opfer anzuerkennen, die eigene Geschichte ernst zu nehmen und in politischer Verantwortung eines „Nie wieder!“ zu handeln.

Erschütternd ist, dass wiederum erst die Opfer selbst darauf aufmerksam machen müssen, dass ihre Würde verletzt wird! Rom*nja und Sinte*ze mussten nach 1945 selbst für dieses Mahnmal kämpfen, das jetzt in Gefahr ist!

Erschütternd ist, dass der Deutsche Bundestag und die Deutsche Bahn offensichtlich keinerlei Idee von der kollektiven Bedeutung und gesellschaftlichen Symbolik des Ortes haben und sogar einen temporären Totalabbau des Mahnmals in Erwägung zogen!

Skandalös ist, dass die Opfer der Nationalsozialisten und ihre Verbände und Organisationen nicht von Anfang an in die Planungen einbezogen wurden und dass bis jetzt keine öffentliche Transparenz zu diesem ungeheuerlichen Vorhaben hergestellt ist!

Dieses Mahnmal ist ein Zeichen der kollektiven Erinnerung, es ist ein Zeichen der Gerechtigkeit und es gibt uns ein Stück der Würde zurück, die uns und unseren Familien in den Konzentrationslagern genommen worden ist. Kommt zur Demonstration für unsere Würde und die Forderung nach Respekt für unsere Geschichte der Verfolgung, der Ermordung und des Kampfes für unsere Rechte!

Das Mahnmal in seiner jetzigen Gestaltung bleibt! Wir fordern eine Lösung, die unseren Gedenkort unberührt lässt! Wir rufen das Land Berlin als Bauherrin dazu auf, das Bauvorhaben in dieser Form zu stoppen! Statt einem Abbau fordern wir den Ausbau des Gedenkortes mit einer Informationsstelle und Begleitprogramm! Wir fordern die Transparenz dieser Vorgänge und den Einbezug unserer Zivilgesellschaft!

Opre Rom*nja und Sinte*ze!

Treff: Samstag, den 13. Juni 2020 um 15 Uhr, Scheidemannstraße vor dem Reichstagsgebäude

Schlusskundgebung: Deutsche Bahn AG Konzernzentrale, Potsdamer Platz"[35]



Die Protestkundgebung wurde von Roxanna-Lorraine Witt eröffnet. Auf der Kundgebung sprachen anschließend die Sintezza Olivia Weiss als jüngste Sprecherin, die zum damaligen Zeitpunkt gerade einmal 9 Jahre alt war, zudem Hajdi Barz, Estera Iordan, Margitta Steinbach, Kenan Emini, Gianni Jovanovic und Milan Pavlović. Der gesamte Protest wurde von Tayo Awosusi-Onutur moderiert, die ebenfalls sprach. Saraya Gomis, zu dem Zeitpunkt Vorsitzende des Schwarzen Dachverbandes Each One Teach One e.V., hielt ebenfalls eine Rede in Solidarität. Svetlana Kostic wurde von der Migrantifa Berlin eingeladen auf der zeitlich sich überschneidenden Kundgebung in einem anderen Teil von Berlin zu sprechen. Die Teilnehmerinnen der Demo schlossen sich anschließend der Protestkundgebung an. Auf dem Protest demonstrierten neben der Migrantifa und Mitgliedern Schwarzer zivilgesellschaftlicher Organisationen auch jüdische Menschen für die Rechte der Sintezze und Romnja in Deutschland.[36] Der Verein Zug der Erinnerung e.V. unterstützte die Protestkundgebung digital mit einem eigens dafür erstellten Video zur Rolle und historischen Schuld der Bahn an den Deportationen der Sinti und Roma.[37]


Der Wortlaut der Eröffnungsrede von Witt war wie folgt:

"Es protestieren nie die Satten.

Es sind die Hungrigen, die Brot fordern.

Ich sehe nicht mehr so aus, doch ich weiss, wie es ist, hungrig ins Bett zu gehen.

Hier mitten in Deutschland,

bin ich als Deutsche geboren.

Als Deutsche und als Sinteza.

Als Schwester und als Freundin.

Als Träumerin und als Denkerin.

Als Arbeiterin und als Akademikerin lebe ich hier,

mit all meinen Identitäten in einem der reichsten Länder dieser Erde.

Und doch weiss ich, wie sich Hunger anfühlt.

Ich weiß, wie es ist,

mit kaltem Wasser zu duschen vor der Schule,

weil für Warmes das Geld fehlt.

Ich weiß, wie es ist,

sich auf deutschen Straßen hinter Mülltonnen zu kauern,

um sich vor einem Herr demonstrierender Rechtsradikaler zu verstecken.

Und doch kann ich nicht klagen,

während heute Schulter an Schulter Menschen mit mir stehen,

deren Familien von Orten in Europa stammen,

an denen ihnen sogar das kalte Wasser bis heute verwehrt bleibt.

Deren erste Ausgrenzung nicht erst in der Schule,

sondern in ihrem Zuhause beginnt,

wenn ihnen europäische Minister drohen ihr Heim mit Bulldozern dem Erdboden gleich zu machen.

Weil sie Roma sind.

Weil sie Sinti sind.

Es protestieren nie die Satten.

Es sind die Hungrigen, die für Veränderung kämpfen.

Der Grund, warum ich heute hier stehen kann ist,

dass schon meine Großmutter, meine Mami gehungert hat.

Dass auch sie sich mit kaltem Wasser gewaschen hat,

wenn sie sich trauten aus ihrem Versteck an den Fluss zu gehen,

immer in Angst darum, dass ein Schluck Wasser ihren Tod bedeutet.

Viele Menschen auf der Welt,

denken an Brot, wenn sie von Öfen sprechen.

Doch wenn wir von Öfen sprechen,

dann denken wir an ausgemergelte Körper,

an hungrige Gesichter

und an den Geruch von Menschenfleisch.

In Auschwitz, da brennt es nicht mehr,

aber in unseren Herzen brennt es weiter.

Und die Kohlen dieses Feuers,

sind die tägliche Gewalt und der tägliche Hass,

den wir bis heute erdulden müssen.

„Wie lange noch?“ werden wir gefragt,

wenn wir von Erinnern und Verantwortung sprechen.

„Wie lange noch?“ frage ich euch hier und heute,

wie lange noch sollen wir es ertragen,

sollen wir es still ertragen,

dass ihr uns eurer grundlosen Verachtung und grundlosen Gewalt aussetzt?

Genug ist genug!

Die Nazis zogen in unsere Parlamente

und ihr habt geschwiegen.

Sie warfen Fackeln auf unsere Häuser,

sie verbrannten uns bei lebendigem Leib in den Staaten Europas

und ihr habt weggesehen.

Sie haben uns zu Bürger*innen, ja zu Menschen zweiter, nein dritter Klasse erklärt und diesen Platz habt ihr für uns in euren Köpfen behalten.

Und jetzt, wo sie über 75 Jahre nach der Befreiung

wieder eine „Endlösung des Zigeunerproblems“ fordern, denn das steht auf den Plakaten der AfD, jetzt, wenn sie dies tun, um auch die Letzten von uns auszulöschen;

jetzt, wo sie nicht einmal mehr zögern ihre Hände an jene Orte zu legen,

die das Andenken jener sind,

die die Gräber jener sind,

deren Asche noch in Auschwitz verweht

jetzt, ja jetzt habt ihr uns gesättigt:

Satt von eurer Respektlosigkeit,

satt von euren Privilegien,

satt, satt und nochmal satt davon ein Leben in Angst zu verbringen,

immer geduckt vor dem nächsten Schlag in unsere Mägen.

Ihr werdet hier heute Menschen sehen und hören,

die hungrig im Herzen sind,

aber satt von dem Hass und der Verachtung,

die die Gründe dafür sind,

dass die Zerstörung unserer Gedenkorte nichts weiter sind,

als eine Randnotiz, eine Fußnote in hundert Seiten Papier.

Ihr werdet heute Menschen sehen und hören,

die aus der Leere des Hungers

Stärke gewonnen haben.

Wir wollen keine Opfer mehr sein.

Und deshalb werden wir nicht länger schweigen.

Von hier bis an die Grenzen der EU und darüber hinaus,

erheben wir uns gemeinsam mit all jenen,

die unter den gleichen Systemen der Verachtung leiden.

Wir, die Hungrigen, protestieren heute,

vor den Chrale, den Gesättigten,

und wir fordern:

Das Mahnmal bleibt unangetastet!

Beendet den Rassismus und die Diskriminierung, die Ausgrenzung und die Verfolgung, die uns und all die anderen bislang marginalisierten Gruppen, zu denen wir in unserer intersektionellen Natur gehören, betreffen!

Wir brauchen nicht weniger Gedenken, wir brauchen mehr -

wir fordern: Mandatorische anti-rassistische Bildung in den Schulen und Universitäten und ein Ausbau der Gedenkstätten!

Ein demokratisches Miteinander und eine Geisteshaltung, welche auf den Werten unseres Grundgesetzes fußt zu erlernen, darf kein Wahlfach und kein Hobby sein!

Die Gewalt gegen Sinte*zze und Rom*nja muss ein Ende haben!

Wir fordern ein Ende der sprachlichen, mentalen und physischen Gewalt gegen uns, von denen unsere Leben jeden Tag bestimmt werden und eine Anerkennung der Verantwortung derer, aufgrund deren Handelns es überhaupt Tote gibt, derer wir gedenken müssen!

Aber allem voran fordern wir:

Einen Platz in eurer Mitte – und nicht länger am unteren Rand!

Die Deutsche Bahn, die die Zerstörung unseres Mahnmals als Randnotiz erwähnt,

denkt, sie hat sich mit einer mickrigen Spende an die EVZ vor Jahren von ihrer Vergangenheit freigekauft,

während wir das kalte Wasser, mit denen sie die KZ-Transportwaggons gekühlt haben,

noch auf den Gesichtern jener sehen,

die darin schmorten!

Es können nochmal 75 Jahre vergehen und wir werden euch an eure Verantwortung erinnern,

bis das einzige Schweigen jenes ist, wenn ihr uns zuhört;

bis wir endlich in eurer Mitte als gleichwertige Menschen in Sicherheit leben

und bis ihr die Unternehmen und Institutionen dieses Landes,

von der Bahn bis zur Polizei

von der Ideologie des brennenden Hasses befreit habt.

Sinte und Roma,

Rom*nja und Sinte*zze,

vom Norden bis zum Süden,

von Deutschland bis an die Grenzen Europas,

hier und an jedem Ort, an dem ihr seid -

Wir haben nicht überlebt, damit wir schweigen!

Wir haben überlebt, um laut zu sein!

Tschi hi bistermen!

Opre Roma!

Opre Sinti!"

Mit Ausnahme des Landesverband Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg, welcher zu diesem Zeitpunkt noch Mitglied im Zentralrat Deutscher Sinti und Roma war, nahm kein Verband des Zentralrat oder dieser selbst an dem Protest teil oder unterstütze diesen. Erst nach weiteren Verhandlungen, die immer noch andauern zwischen der Verkehrssenatorin Regine Günther, dem Zentralrat und der Deutschen Bahn, bedankte sich Romani Rose in einem Video bei denjenigen, die für den Erhalt des Mahnmals gekämpft hatten und deren Einsatz eine bedeutende Rolle für den Verlauf der Gespräche bedeutet hatten.[38] Die protestierenden Vereine und Organisationen wurden bis heute als Einzige Akteurinnen des politischen Willens der Sinti und Roma zu keinem Zeitpunkt an den Verhandlungstisch geladen. Die Verhandlungsgespräche zum Konflikt dauern immer noch an (Stand: 27.06.2021). Eine Einigung ist noch nicht in Sicht.

"Es muss klar sein, dass das Mahnmal unantastbar bleibt [...]Der eigentliche Skandal sei, dass man überhaupt dafür protestieren muss, findet Witt."

- Auszug aus dem DW-Artikel "Sinti und Roma bangen um Denkmal"[39]

Politische Ansichten

"Ich arbeite mit Frauen* um zu verdeutlichen, dass Bildung Macht bedeutet. Der wichtigste Faktor im Empowerment ist zu erkennen, dass es weitaus mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen verschiedenen sozio-kulturellen Gruppen gibt. Wir müssen auf diese Gemeinsamkeiten setzen, um einen globalen, aufrichten Feminismus zu errichten." -Witt im Gespräch mit Mary Evelyne Porter[9]

Roxanna-Lorraine Witt ist überzeugte Feministin und Verfechterin für die Rechte von LGBTIQ*-Communities. In ihren Reden und Beiträgen betont sie stets die Intersektionalität der Lebensrealitäten mehrfachmarginalisierter Gruppen und damit einhergehend die verschiedenen Arten interferierender Gewalt, deren Erfahrungen traumatisierend auf die Individuen einwirken.

"[...] Auch heute sehe ich goldene Tränen fließen: Die Solidarität der Die Vielen zeigt, dass es Verbundenheit im Schmerz geben kann, dass Krisen nicht spalten müssen, sondern Nähe schaffen können. Denn während viele Kunst- und Kulturschaffende bedingt durch die Krise selbst um ihre Existenzen bangen, haben sie sich als Vereinigung heute und hier versammelt um die Existenz unseres Denkmales, dieses Mahnmales der Gesellschaft zum Gedenken an unsere gemeinsame Verantwortung zu schützen.

Die Vielen haben hier und heute vorbildlich gehandelt, denn sie haben trotz ihrer eigenen Notlage sich dazu entschieden von ihren Privilegien als Angehörige der Dominanzgesellschaft Gebrauch zu machen und sie mit uns zu teilen, indem sie ihre Stimme uneigennützig für uns erheben. In der eigenen Not die Not eines anderen zu erkennen und den eigenen Anliegen gar überzuordnen ist nicht nur vorbildlich, es ist zukunftsweisend, es ist mutig und es ist ein Zeichen von Stärke, über sich selbst hinaus wachsen zu können. Es zeigt, dass wir keine Angst haben müssen aufeinander zuzugehen und dass Privilegien zu teilen nicht Verlust und Schwäche bedeutet, sondern gemeinsames Wachstum und Stärke.[...] Wir hörten zu Beginn das Gedicht eines jüdischen Rom, auf unserem Protest sprachen Schwarze Sintezze,Rom;nja und Sinte;zze aus der LGBTIQ+ Gemeinschaft und es folgten uns Demonstrant;innen im Rollstuhl oder mit Blindenstock. In den Kategorien des bisherigen Gedenkens gedenken wir der Toten aber weiterhin eindimensional und reduzieren sie auf die Kategorien, in denen die Nationalsozialisten sie eingeordnet haben. Dies wird dem Mensch-Sein der Ermordeten, ihren Leben nicht gerecht, es wird der Realität der Überlebenden und ihrer Nachkommen nicht gerecht. Anstelle der Bedrohung unserer Gedenkorte und ihres Abbaus fordern wir deshalb den ohnehin notwendigen Ausbau, wir fordern Orte der vielfältigen Repräsentation der Rom;nja und Sinte;zze, die von der gesamten Gemeinschaft in ihrer Vielfalt gestaltet und mit Inhalten gefüllt werden. Wir fordern die Zusicherung der Unantastbarkeit und des Schutzes durch den Staat und seine Organe vor Bedrohungen jeglicher Art und ein Ende der Gewalt gegen die Nachfahren der Überlebenden hier und in ganz Europa. Wir fordern Orte des Dialoges, an denen wir euch lehren, wie aus schwarzem Wasser ein Meer aus Gold wird, mit dem wir die zerbrochenen Stücke Schritt für Schritt zu einem neuem Ganzen zusammen fügen."

- Roxanna-Lorraine Witt auf der Protestaktion der Vereinigung "Die Vielen", 2021[40]

Eine Kernforderung ihres Aktivismus ist die Bekämpfung und Überwindung von Ideologien des weißen Übermenschentums und daraus geborene Gesellschaftsstrukturen, die von Unterdrückung geprägt sind. Damit verknüpft fordert sie ein Ende des Patriarchat und eine neue Gesellschaftsform, die den Kapitalismus, zu dessen Zweck Ausbeutungsverhältnisse geschaffen werden, ablöst. Witt definiert dabei Formen der Diskriminierung als Formen der Entmenschlichung, die der Ausbeutung dienen. Die Gesellschaft ist nach ihrer Auffassung auf einseitig-vorteilhaften Wert- und Normkonstruktionen erbaut, die einer kleinen Minderheiten, welche sehr eng definiert ist, dienen und den überwiegenden Großteil der Weltbevölkerung in gewaltvolle Ausbeutungsverhältnisse drängt. Sie bezieht sich dabei zwar oft, aber nicht ausschließlich auf Sinti und Roma. Sie kritisiert ebenso Klassenunterschiede, Ableismus, Homo- und Transphobie, Misogynie und thematisiert, wie die Erfahrungen des Nationalsozialismus traumatisch und nachhaltig auf weiße Deutsche gewirkt haben. In Deutschland sieht sie die nie stattgefundene Entnazifizierung als großes Problem und fordert nachholende Gerechtigkeit, die durch Bildung, Aufklärung und Reflexion Heilung herbei führen soll. Die Vermenschlichung von Opfergruppen des Rassismus, Nationalsozialismus und anderer menschenfeindlicher Ideologien sind in ihren Ausführungen ein Weg der Umkehrung selbiger, den es aktiv zu beschreiten gilt.

"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ heißt es im ersten Absatz der Erklärung der Menschenrechte. Die Betonung liegt dabei auf dem Wort „Mensch“. Alle Menschen sind frei und gleich. Doch was ist mit denen, die nicht als Mensch gelten?

Die Frage, wer als Mensch gilt und wer nicht ist eine essentielle Frage unserer Gesellschaft und sie beginnt für mich nicht in meiner Identität als Sinteza. In unserer Gesellschaft sind Frauen weniger Mensch als Männer. Dass ihren Leben weniger Wert beigemessen wird, beginnt bereits dort, wo ihre Lebenszeit im Durchschnitt geringer vergütet wird, wo „typisch“ weiblichen Tätigkeiten und Eigenschaften weniger Bedeutung und Relevanz für unsere Gesellschaft beigemessen wird.

Es gibt eine Reihe an Kriterien, die bestimmen, wie viel oder wenig Mensch man ist. Das Kriterium der Geschlechteridentität ist nur ein Beispiel. Sexualität, Religion oder Weltanschauung, sozialer Status, wie neuronormativ oder body-abled man eingeordet werden kann, wo man geboren wurde; ob die Eltern Akademiker oder Arbeiter oder keins von beiden waren, bestimmt in unserer Gesellschaft, wie viel Mensch man ist und dementsprechend auch, wie viel Menschenrechte einem zugestanden werden müssen. Der Rassismus gegen Sinte;zze und Rom;nja zeichnet sich in seiner einzigartigen, besoderen Schwere durch das Merkmal der vollkommenen Absprache des Mensch-Seins von Angehörigen der Gruppen aus. Das „Othering“, die Zuschreibung von Andersartigkeit als Mittel der künstlichen Hierachisierung von Menschengruppen in „uns“ und „die Anderen“ zum Zweck der Ausbeutung, findet im spezifischen Rassismus gegen Rom;nja und Sinte;zze seinen Gipfel. Die vollkommene Enthumanisierung, die totale Absprache des Mensch-Seins führt zu einem Ausmaß der sozialen und gesellschaftlichen Akzeptanz der unterschiedlichen Arten rassistischer Gewalt gegen Sinte;zze und Rom;nja, wie es bei keiner anderen Gruppe in diesem Ausmaß der Fall ist. Wer nicht als Mensch gilt, für den gelten auch keine Menschenrechte. Welche Würde wird Menschen zugestanden, welches Mensch-Sein besitzen Gruppen von Individuen, die während einer Pandemie in Massen sterben jetzt, in diesen Minuten, in denen ich noch diese Zeilen schreibe, weil sie nicht nur in der Pandemie, sondern auch sonst wie Krankheitsüberträger, wie Parasiten behandelt wurden, die es zusammenzutreiben und auszulöschen gilt?

[...] Das Recht auf Bildung ist ein gutes Beispiel hierfür. Die Segregation von Rom;nja und Sinte;zze im Bildungssystem wird oftmals auf politischer Ebene als exklusives Problem von Ländern diskutiert, die europäischen Standards der Umsetzung von Menschenrechten nicht genügen. Die gesellschaftliche Segregation und Zustände der Apartheid von marginalisierten Gruppen werden vielen Ländern, die auf einen Beitritt zur Europäischen Union hinarbeiten, zur Auflage gemacht. Deutschland hat sich seit dem Ende des zweiten Weltkrieges niemals vollständig und systematisch entnazifiert. Um Menschen zu vernichten bedarf es keiner Lager, die Vernichtung von Menschen kann mittels psychologischer Kriegsführung ganz ohne Öfen und Gaskammern stattfinden. Die selben Beamten und die selben Lehrer, die einst dafür sorgten, dass Schulkinder in ein leeres zuhause kamen, weil ihre Familie deportiert wurde oder Eltern ihre Kinder zur Schule schickten und nie wieder sahen, weil sie längst auf den Leichenbergen in Auschwitz türmten, bekleideten nach dem Krieg weiterhin dieselben Positionen wie zuvor und behandelten die Menschen mit der selben Unmenschlichkeit wie vor dem Krieg. Bis heute hat sich das Bild von Schule als ein Ort der Vernichtung in das kollektive Gedächtnis der Rom;nja und Sinte;zze gebrannt. Wer lässt seine Kinder gerne an einem Ort, an dem sie mit kleinen und großen Stichen Tag für Tag gebrochen werden?


Offensichtliche Diskriminierung ist hier nur ein Faktor, der sich in zahlreichen Studien nachweislich auf die Leistung von Schüler;innen nachteilig auswirkt und somit ihre Chancen im weiteren Berufsleben vermindert. Es ist die fehlende Repräsentation, der Mangel an Vorbildern in Büchern und im Unterricht: Obwohl es genug Möglichkeiten gäbe, den Sinte;zze und Rom;nja Perspektiven zu schenken, etwa durch Sichtbarkeit im Unterricht durch Repräsentation wichtiger Identifikationsfiguren wie August Krogh, dem ersten Rom, der einen Nobelpreis für seine Entdeckungen in der Medizin gewann oder durch wichtige historische Figuren wie Melanie Spitta, die als Sinteza durch ihr Zutun zur Aufklärung der Machenschaften der rassenhygienischen Forschungsstelle um Eva Justin und Robert Ritter das historische Narrativ der Sinte;zze und Rom;nja als „ewige Opfer“ mit ihrem Wirken durchbrach, sind sie genauso unsichtbare Vorbilder wie auch Lehrpersonal aus den Reihen der Rom;nja und Sinte;zze. Die Segregation wird in der Pandemie besonders dadurch verschärft, dass die durch die nationalsozialistische Enteignung und Raubmorde in prekäre Verhältnisse getriebenen Gruppen der Rom;nja und Sinte;zze in Deutschland oftmals kaum ökonomisches oder akademisches Kapital besitzen, um ihre Kinder bei der Teilnahme an digitalen Lernformaten zu unterstützen oder diese überhaupt zu ermöglichen[...]"

Witt für NDM zum Tag der Menschenrechte[12]

Viele der Ansichten von Witt zeigen ideologische Einflüsse, die sich bspw. auch in Diskursen des Black-Lives-Matter Movement wiederfinden lassen. Denkerinnen und Autorinnen mit ähnlichen Ansichten sind Beispielsweise Alice Hasters, Tupoka Ogette, Kimberly Crenshaw oder Noa Sow. Im Gegensatz zu Romani Rose und dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma vertreten sie selbst und ihr Umfeld offen LGBTIQ*-freundliche und queerfeministische Ansichten. Ihr Verein setzt sich u.A. sogar explizit für die Rechte von queeren Roma und Sinti ein. Durch den Mitgründer Gianni Jovanovic gingen 2020 in save spave e.V. schließlich sogar die erste queere Initiative von Roma in Deutschland, Queerroma, in dem Verein auf. Seit 2020 unterstützt der Verein von Witt zudem das vereinsübergreifende Kollektiv "Colours of Change", in welchem queere BIPOC-Aktivistinnen für Sichtbarkeit von queeren BIPOC und POC Gemeinschaften kämpfen.

Einzelnachweis

  1. Uta Schleiermacher: Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma - Eine gesellschaftliche Baustelle. TAZ, 14. Juni 2020, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  2. INACH: Report - INACH ANNUAL CONFERENCE 2019 Antigypsyism and Online Hate Speech. International Network Against Cyber Hate, 20. Oktober 2019, abgerufen am 27. Juni 2021 (englisch).
  3. Laurence Meyer: Creating Conditions for a Decolonised Digital Rights Field. Digital Freedom Fund, 31. März 2021, abgerufen am 27. Juni 2021 (englisch).
  4. EDRi: Webinar: “Facial recognition, resistance and Roma & Sinti Rights: In Conversation". In: YouTube. European Digital Rights, 21. April 2021, abgerufen am 27. Juni 2021 (englisch).
  5. Warum hat Rassismus mit uns allen zu tun? WDR, 18. März 2021, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  6. "Die letzte Instanz": Deutliche Kritik an WDR-Sendung. WDR, 1. Februar 2021, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  7. Matthias Quent: Coming soon. 17. Juni 2021, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  8. Onur Suzan Nobrega / Matthias Quent / Jonas Zipf (Hg.): Rassismus.Macht.Vergessen. In: https://www.transcript-verlag.de/. Abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  9. a b c Mary Evelyn Porter: Roxanna-Lorraine Witt. Roma Rising, abgerufen am 27. Juni 2021 (englisch).
  10. Gilda Horvath: Roxy. Berlin. Revolution. Deutsche Welle, 11. Dezember 2020, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  11. Juliane Preiss: "Der Norden ist ein guter Platz für uns Sinti“. TAZ, 7. März 2020, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  12. a b Roxanna-Lorraine Witt: Ich fühle mich ungesehen, weil... Neue Deutsche Medienmacherinnen, abgerufen am 27. Juni 2021.
  13. Juliane Preiss: „Der Norden ist ein guter Platz für uns Sinti“. TAZ, 7. März 2020, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  14. Structural Inequalities as Risk Factos During Pandemic. François-Xavier Bagnoud Center for Health and Human Rights at Harvard University, 14. September 2020, abgerufen am 27. Juni 2021 (englisch).
  15. Structural Inequalities During Pandemics. CEU Romani Studies Program, 14. September 2020, abgerufen am 27. Juni 2021 (englisch).
  16. Gilda Horvath: Roxanna-Lorraine Witt. Deutsche Welle, 11. Dezember 2020, abgerufen am 27. Juni 2021.
  17. Selbstbestimmt: Junge Rom*nja undSinti*ze. Radio Radieschen, 8. April 2021, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  18. OPEN LETTER TO THE EUROPEAN COMMISSION: QUARANTINES OF ROMA SETTLEMENTS IN BULGARIA AND SLOVAKIA REQUIRE URGENT ATTENTION. Amnesty International, 15. Mai 2020, abgerufen am 27. Juni 2021 (englisch).
  19. STIGMATIZING QUARANTINES OF ROMA SETTLEMENTS IN SLOVAKIA AND BULGARIA. Amnesty International, 17. April 2021, abgerufen am 27. Juni 2021 (englisch).
  20. "The enforcement of lockdowns and other COVID-19 related public health measures disproportionately hit marginalized individuals and groups who were targeted with violence, discriminatory identity checks, forced quarantines and fines. Such practices highlighted institutional racism, discrimination and the lack of accountability regarding allegations of unlawful use of force by law enforcement officials. Roma and people on the move, such as refugees and asylum-seekers, were placed under discriminatory “forced quarantines” in Bulgaria, Cyprus, France, Greece, Hungary, Russia, Serbia, and Slovakia. Monitors recorded the unlawful use of force by law enforcement officials together with other violations in Belgium, France, Georgia, Greece, Italy, Kazakhstan, Kyrgyzstan, Poland, Romania and Spain. In Azerbaijan, arrests on politically motivated charges intensified under the pretext of containing the pandemic, and government critics were arrested, when in March the President declared he would “isolate” and “clear” the opposition." - Amnesty International Report 2020/2021, S.42
  21. Roxanna-Lorraine Witt: Veröffentlichter Nachrichtenwechsel auf der FB-Seite von Witt. In: Facebook. 30. Januar 2020, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  22. (red.): Anti-Rassismus: Kelly's benennt "Zigeuner-Räder" um. woman.at, 18. August 2020, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  23. red: Kelly’s benennt Zigeunerräder um. wien.orf.at, 16. August 2020, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  24. löw/dpa: Knorr benennt "Zigeunersauce" um. Spiegel, 16. August 2020, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  25. cwu/dpa: Knorr benennt Zigeunersauce um. Welt, 16. August 2020, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  26. Carina Parke: Sinti und Roma: seit 700 Jahren in Europa und immer noch massiv diskriminiert. qiio.de, 18. Februar 2020, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  27. Nach Debatte über „Zigeunersoße“ – WDR-Sendung kassiert Shitstorm. welt.de, 31. Januar 2021, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  28. Aylin Doğan: "Gottseidank, wir haben mit 'Die beste Instanz' was Schönes geschaffen!" br.de, 12. Februar 202, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  29. Grimme Online Award 2021 Die beste Instanz. Grimme Online Award, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  30. MAX KNIERIEMEN: Der Podcast RYMEcast aus Mainz will jungen Sinti und Roma den Rücken stärken. SWR.de, 7. Dezember 2020, abgerufen am 27. Juni 2021.
  31. DUMM GEFRAGT - SINTI UND ROMA. WDR, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  32. Steffen Niggemeier: „Freiheit, Gleichheit, Hautfarbe!“ Warum drei Schwarze Frauen bei der WDR-Runde zu Rassismus abgesagt haben. 18. März 2021, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  33. Claudius Prösser: Roma-Mahnmal in Gefahr :Gedenken bleibt auf der Strecke Der Bahn AG ist das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma im Tiergarten im Weg. Protestschreiben gegen einen möglichen Eingriff. TAZ, 22. Mai 2020, abgerufen am 27. Mai 2021 (deutsch).
  34. Roma Antidiscrimination Network - RAN: Das Mahnmal bleibt! By any means neccessary. 3. Juni 2020, abgerufen am 27. Juni 2021.
  35. Protestaktion: Schützt das Mahnmal/Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas! Abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  36. Uta Schleiermacher: Eine gesellschaftliche Baustelle. TAZ, 14. Juni 2021, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  37. Zug der Erinnerung e.V.: Die Deutschen Bahnen waren Dienstleister des Todes. Zug der Erinnerung e.V., 5. Juli 2020, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  38. Romani Rose: Statement Romani Rose | Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas. Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, 12. Mai 2021, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  39. Luisa von Richthofen, Grzegorz Szymanowski: Sinti und Roma bangen um Denkmal. Deutsche Welle, 1. August 2020, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).
  40. Roxanna-Lorraine Witt: Gedenken für die Opfer des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma (Auszug aus der Rede von Roxanna-Lorraine Witt). GRIPS Blog, 18. Dezember 2020, abgerufen am 27. Juni 2021 (deutsch).