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Das Schlagwort von einer türkisch-islamischen bzw. türkisch-muslimischen Synthese zum Staatsvolk der Türkei wird spätestens seit 1960 sowohl von Nationalisten als auch von offiziellen Demographen verwendet. Diese Haltung ist Ausdruck der Minderheitenpolitik der Türkei und beruht auf der Annahme einer Homogenisierung bzw. Assimilierung der über 40 Ethnien in Anatolien. Daher wird zwischen der ethnischen Identität und der Staatszugehörigkeit nicht unterschieden - muslimische, türkischsprechende Staatsbürger werden als türkisiert angesehen. Offiziell gelten 98% der Einwohner der Türkei als ethnische Türken.

Staatsbewusstsein, Nationalstaat und ethnische Entwicklungen

Das Staatsvolk-Verständnis der Türkei ist annähernd vergleichbar z.B. mit dem republikanischen Verständnis Frankreichs. Wer türkischer Staatsbürger ist, wird als Türke definiert, ebenso werden seit der Französischen Revolution Elsässer, Bretonen, Katalanen und Basken als Franzosen eingestuft. In Deutschland und vielen anderen mittel- und osteuropäischen Staaten hingegen ist das Ethnizitätsprinzip weiterhin verbreitet, also die genau gegenteilige Auffassung; demnach ist unabhängig von seinem Wohnort derjenige Deutscher, der deutscher Herkunft ist oder die deutsche Sprache beherrscht und sich der deutschen Nation zugehörig fühlt. Vorbild für das türkische Staatsbewusstsein waren auch die Schweiz oder Belgien, wo jedoch von einem vergleichbaren schweizerischen oder belgischen „Staatsvolk“ nicht die Rede sein kann, da dort drei bzw. vier sprachlich und kulturell verschiedenen Volksgruppen bzw. Nationen leben, weshalb sich diese Staaten auch als föderalistisch und multikulturell bzw. multilingual verstehen.

Vor der Einwanderung der Türken hatten viele verschiedene Völker auf dem Gebiet der heutigen Türkei gelebt (z.B. Griechen, Lasen, Kurden, Armenier, Araber). Die ersten Türken wanderten in großer Zahl erst im 11. Jahrhundert ein.

Seit dieser ersten Einwanderungswelle der Seldschuken hätten sich in Anatolien vor allem unter der Herrschaft der Osmanen die ansässigen Muslime (Araber, Kaukasier und Kurden) und später eingewanderte muslimische Turkvölker nach und nach verschmolzen bzw. alle wären von den Osmanen allmählich und nachdrücklich turkisiert worden, so z.B. der jungtürkische Nationaldichter und von Kemalisten geschätzte Philosoph Ziya Gökalp. Aus dem osmanisch-muslimischen Staatsvolk sei dann nach Errichtung der laizistischen Republik und der Verdrängung des Islam durch Kemal Atatürk die türkische Nation entstanden.

Nach dem Ersten Weltkrieg ging aus dem Osmanischen Reich die Türkei hervor. Der folgende Unabhängigkeitskrieg gegen die Alliierten war kein rein türkischer Kampf, sondern vielmehr der gemeinsame Kampf vieler Ethnien um eine gemeinsame Republik. Nach den Kriegen und der Vertreibung der Griechen wurde die junge Republik in ihrer religiösen Zusammensetzung scheinbar homogen, es lebten nur noch wenige Christen in der Türkei. Doch innerhalb der moslemischen Bevölkerung gab es dennoch gravierende Unterschiede. Neben den Sunniten leben auch eine große Minderheit von Alewiten in der Türkei, Schätzungen zufolge sogar bis zu einem Drittel sowohl der türkischen als auch der kurdischen Bevölkerung.

Durch diverse Reformen und Zwangsmaßnahmen versuchte die Regierung, nach europäischem Vorbild die ethnische Heterogenität der Gesellschaft der Türkei zu verringern bzw. ganz zu homogenisieren. (Dagegen gerichtete Aufstände der Tscherkessen und Kurden wurden niedergerungen.) Grundlage für diese Maßnahmen bildete der Islam als größter gemeinsamer Nenner, z.B. wurden die Verwendung der türkischen Übersetzung des Koran (statt des arabischen Originals) und der türkischen Sprache bei Predigten in den Moscheen durch die strengen Sprachgesetze gefördert. Ein türkisierter Islam diente zur Turkisierung der anderen islamischen Völker der Türkei.

Die Ideologie der Türkisch-Muslimischen Synthese fällt in eine Zeit der Zurückdrängung des Islam (Militärputsch der Kemalisten 1960 gegen islamische Regierung) und hat Wurzeln auch im antikommunistischen Kulturverständnis. Seit 1965 wird zudem bei türkischen Volkszählungen nicht mehr zwischen den einzelnen Anteilen dieser vermeintlichen Synthese unterschieden. In den amtlichen Statistiken wird nicht mehr die Ethnie erfasst, sondern lediglich die Religions- bzw. Sprachzugehörigkeit.

Muslimische Synthese

Armenische Quellen berichten von bis zu zwei Millionen Muslimen armenischer Abstammung (das wären drei Prozent der Gesamtbevölkerung), die auch sprachlich völlig türkisiert sind. Neben offiziell aber je nur einem Prozent für Juden (Spaniolen) und Christen (Georgier sowie Reste der Armenier und Assyrer) müssen vom türkischsprechenden Staatsvolk auch jene ein bis zwei Prozent Araber abgezogen werden, die sich zumindest sprachlich nicht assimiliert haben.

Je ein weiteres Prozent ist trotz Synthese noch heute stolz auf albanische oder bosnische Stammbäume. Wie Bosnier und Albaner geben auch fünf bis sieben Prozent der türkischsprechenden Staatsbürger an, von Tscherkessen oder anderen Nordkaukasiern abzustammen, weitere drei bis fünf Prozent von Lasen (muslimische Georgier), die noch heute geschlossene Siedlungsgebiete an der Schwarzmeerküste bewohnen. Einige kaukasische und tatarische Kulturvereine in der Türkei setzen den prozentualen Anteil doppelt so hoch an.

Der Anteil der als „Bergtürken“ vereinnahmten, sich der Synthese aber widersetzenden Kurden an der Gesamtbevölkerung kann nur vage zwischen 20 und 30 Prozent geschätzt werden.

Türkische Synthese

Die verbleibenden maximal 60 Prozent „eigentlichen“ Türken unterteilt der exilrussische Philosoph und Historiker Dr. Georg Kobro (Universität Mainz) noch in zwei Drittel (bis drei Viertel) Türken der osmanischen Frühzeit einerseits sowie ein Viertel bis ein Drittel vor allem Aserbaidschaner und Turkmenen andererseits, die erst im 19. Jahrhundert während der osmanischen Spätzeit eingewandert waren. Meyers Konversationslexikon erwähnte eine letzte große Welle nach der Einnahme der Turkmenenfestung Merw durch die Russen 1884.

Eine umfassende Vermischung dieser Aseris und Turkmenen mit den verwandten Osmanen hatte zumindest bis zum Ersten Weltkrieg noch nicht stattgefunden. Jungtürkische Emporkömmlinge, oft albanischstämmig, hatten gerade erst zuvor (erfolglos) die Verschmelzung mit aristokratischen Araberfamilien zum Volk der Edeltürken angeregt. Noch 1919 sondert der Orientalist Ewald Banse (ebenso wie Meyers 1889) Turkmenen, Jürüken (Juruken) und Kisilbaş (Aseris) von den Osmanen ab, bis 1927 kamen aus dem russischen Kaukasus weitere Aseris und muslimische Georgier dazu.

Nach dem Völkermord an den Armeniern dürfte dann auch zum Zeitpunkt der Gründung der Türkischen Republik der tatsächliche Anteil der Türken am Staatsvolk lediglich 40 Prozent ausgemacht haben. (Dem nicht unähnlich beträgt auch in der Nachbarrepublik Iran der Anteil persischer Iraner nur etwa 50 Prozent. Der Anteil der staatstragenden Paschtunen in Afghanistan liegt ebenfalls nur bei 40 Prozent. Auch in Kasachstan macht das türkisch-muslimische Staatsvolk nur 50 Prozent aus.) Durch die erzwungene Verwendung ausschließlich des Türkischen (Schulpflicht, Wehrpflicht usw.) wurde aber schließlich auch ein Großteil der Kurden tatsächlich turkisiert.

  • „Die neue türkische Siedlungs- und Minderheitenpolitik nach 1921 zielt in erster Linie auf eine Homogenisierung der Bevölkerung unter dem Gesichtspunkt der Zugehörigkeit zum Islam ab... Doch auch die Zugehörigkeit zum Islam gewährte noch keine Sicherheit vor diskriminierenden Regierungsmaßnahmen auf kulturellem Gebiet: die nicht-türkischen Ethnien sahen sich ständig der Gefahr des Verlustes ihrer Identität ausgesetzt.“ (Kobro, S. 221f)
  • „Die Schwierigkeiten für eine neue Bestandsaufnahme liegen jedoch vornehmlich in dem Umstand, dass die türkischen Statistiken nur ungern – ab 1965 überhaupt nicht mehr – auf Minoritätenfragen eingehen und bei Umfragen lediglich nach Merkmalen der Religions- bzw. Sprachzugehörigkeit, nicht aber nach Volkstum/Nationalität unterschieden wird. Außerdem erwiesen sich die Ergebnisse derartiger Umfragen nur allzu oft als unzuverlässig, wobei die Befragten im Falle eines offenen Bekenntnisses zu ihrer Ethnie bzw. Religionsgemeinschaft mit nicht unerheblicher Diskriminierung rechnen müssen.“ (Kobro, S. 231)
  • „Bezeichnenderweise wurden in den amtlichen Statistiken ab 1965 keine nach Ethnien aufgeschlüsselten Zahlenangaben zu den einzelnen Provinzen mehr publiziert: Der Vielvölkerstaat sucht seine Minoritätenprobleme durch das fingierte Bild einer ethnisch einheitlichen Bevölkerung zu verdrängen.“ (Kobro, S. 230)

Geschätzte Zusammensetzung

nach Dr. Georg Kobro:

  • osmanische Türken 40-45%
  • aserische Türken und Turkmenen (hauptsächlich Aleviten) 15-20%
  • Kurden etwa 25%
  • Tataren und Kaukasier (Tscherkessen und Lasen) mindestens 10%
  • Araber, Albaner, Bosnier, Christen und Juden je 1%

„Dieses Sachgebiet stellt für manche türkische Forscher ein heikles Thema dar, welches man durch z.T. spitzfindige Argumentation, Auslassungen, Verzerrungen bzw. durch Verschweigen unbequemer Tatsachen zu bewältigen sucht, um gemäß den Wunschvorstellungen von einem ethnisch homogenen türkischen Staat für die Geschichte und Ethnogenese der verschiedenen Volksgruppen nachträglich ein neues Kleid schneidern zu können.“ (Kobro, S. 271)

Literatur

  • Georg Kobro: Das Gebiet von Kars und Ardahan. München 1989
  • Binnaz Toprak: Religion als Staatsideologie in einem laizistischen Staat - Die türkisch-islamische Synthese. In: Zeitschrift für Türkeistudien. Leverkusen, 2. Jg., 1989, H.1 (1989), S.55-62.

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