Benutzer:Toter Alter Mann/Wikipedia als Demokratie

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Die Wikipedia ist keine Demokratie! Das kann sie auch nicht sein, und das wird sie auch niemals sein. Eine Demokratie ist eine Staatsform. schreibt Benutzer:Widescreen und arbeitet sich dann an den dürftigen Definitionen ab, die die deutsche Politikwissenschaft sich selbst – und nicht etwa ihrem Forschungsgegenstand – in den letzten 60 Jahren abgerungen hat. ich will diese Sackgasse gar nicht nehmen, denn die griechische Polis ist sicher kein Staat gewesen und erst recht kein Rechtsstaat. Dennoch gibt es etwas, was das antike Athen mit uns hier auf Wikipedia verbindet und dem ich nachgehen möchte. Was aber ist das?

Der Grundgedanke der athenischen Demokratie ist der, dass die Bürger keine Herren über sich duldeten: Weder einen Alleinherrscher, noch eine Kaste von Aristokraten. Was alle anging (das, was die Römer später res publica nannten), sollte auch von allen gemeinsam entschieden werden. Das galt nicht nur für weltliche Herrschaft, sondern auch die der Götter, die die Griechen bekanntlich für mehr oder weniger desinteressiert am Treiben der Menschen betrachteten. Zumindest waren letzte mehr mit sich selbst beschäftigt als mit dem Treiben auf Erden. Für die Griechen gibt es also keinen omnipotenten Vermittler mehr, der politische Fragen entscheidet oder überhaupt entscheiden kann. Und auch wenn Platon versucht hat, einen solchen Despoten für die Politik und Philosophie einzusetzen (sei es in Form eines wissenden Philosophenkönigs oder der absoluten und für uns unerreichbaren Idee), so ist ihm das zum Glück bisher nur in der Theorie gelungen. Dionysius tat gut daran, den alten Zausel als Sklaven zu verkaufen; vielleicht hätte er der Nachwelt einen größeren Gefallen getan, wenn er ihn einfach ins Meer geworfen hätte.

Was heißt es aber, ohne allwissenden Vermittler oder Entscheider beziehungsweise ohne absolut wahre Ideen zu leben? Wie können wir erfahren, was wahr ist? Indem wir das tun, was die Griechen tun: Die, die von einer Frage betroffen sind, sind auch die, die berufen sind, über sie zu richten. Wenn ein Artikel nicht die Zustimmung dessen findet, von dem er spricht, so ist er sehr wahrscheinlich ein sehr schlechter Artikel. Das gilt nicht nur dort, wo das jedem sofort einleuchtet, etwa bei Gravitation (wenn der Stein dem Artikelinhalt widerspricht: weg damit). Es gilt erst recht dort, wo wir uns leicht tun, die zu übergehen, die von der Sache betroffen sind. Wie leicht ist es, die Existenz von Geistern und Göttern in Abrede zu stellen und über die zu lachen, die sich ungerecht behandelt fühlen. Wie leicht ist es, den Unterlegenen in einer Löschdiskussion oder einem MB vorzuhalten: „Die Mehrheit [egal ob der Argumente oder Benutzer] hat gesprochen und wusste es besser als ihr!“ Wie leicht ist es, einer Homöopathin grinsend mitzuteilen: „Es gibt keinen Platz für deine Erfahrungen und Werte auf Wikipedia, denn die Quellen haben gesprochen und du hast zu schweigen!“

Die Schlussfolgerung daraus ist für uns alle sehr unangenehm: Wir können die Vielfalt der Meinungen, Interessen und Welten nicht voreilig auf eine von ihnen reduzieren. Vielmehr muss eine neue, gemeinsame Welt geschaffen werden, in der alle widersprüchlichen Meinungen gemeinsam Platz haben, so wie Höhe und Fläche in einer topographischen Karte gemeinsam Platz finden. Schon allein das ist schwer. Weil wir aber nicht aus allen Meinungen eine machen können, sondern eien Auswahl treffen müssen, müssen wir aber auch entscheiden, wen eine Sache überhaupt etwas angeht, und welches Gewicht einer Stimme zukommt. Wer sollte das letzte Wort in einem Artikel über Religion haben? Die Religiösen oder die Religionssoziologen? Und haben die Skeptiker ein berechtigtes Interesse an diesem Artikel? Wenn ja, welches? Der Dritte Prüfstein für Wikipedia als Demokratie ist, dass jeder Konflikt von neuem gelöst werden muss: Eine einmalige Lösung ist keien Garantie für die Zukunft; heutige Verbündete können morgen erbitterte Gegner sein.

Das ist eine dreifache Ungewissheit: Wir wissen nicht von vornherein, wer betroffen ist und mitreden soll. Wir wissen nicht, wie man aus all den divergierende Ansichten eine einzelne machen. Und wir wissen nicht, wie wir das ganze das nächste Mal machen sollen. Es sind umgekehrt aber auch drei Chancen: Niemand kann uns vorschreiben, wer mitreden darf und soll. Niemand kann uns vorschreiben, welche Ansicht die richtige ist. Und niemand kann uns vorschreiben, dass das alles auf immer so zu bleiben hat.