Benutzer:WikiProSoph/Petersburg

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Petersburg

Andrej Belyj konzipierte seinen Roman Petersburg eigentlich als zweiten Teil einer Trilogie mit dem Namen "Osten oder Westen" (russ. "Восток или запад"), die er 1910 mit seinem Erstlingswerk Die silberne Taube (russ. "Сереряный голубь") begonnen hatte.[1] Die vollständige Fassung von Petersburg wurde 1913-1914 in drei Ausgaben des Almanachs Sirin veröffentlicht, bevor sie 1916 in Petrograd textidentisch auch in Buchform publiziert wurde. Dieser ersten Version folgten weitere Romanvarianten, die sich von der Urfassung allerdings inhaltlich und strukturell unterschieden.

Aufbau und Struktur

Der "Roman in acht Kapiteln" schildert die Ereignisse von zehn Tagen im Herbst 1905. Handlungsort der Erzählung ist Petersburg. Die glitzernde Hauptstadt-Metropole präsentiert Belyj "in ihrer grotesk-komischen phantasmagorischen, apokalyptisch-endzeitlichen, architektonisch gefügten und imperialen Gestalt".[2] Russland befindet sich in einem tiefen Zwiespalt zwischen der geometrischen Rationalität des Westens und der chaotischen Emotionalität des Ostens. Politische Reaktion und intellektueller Terrorismus stehen sich gegenüber. Aus mehreren nebeneinander und untereinander verknüpft ablaufenden Handlungssträngen montiert Andrej Belyj ein Diesseits das aus Elementen aktueller historischer und politischer Erfahrungen besteht. So spielen beispielsweise die Russische Revolution von 1905, der Russisch-Japanische Krieg sowie die Terroristen- und Geheimpolizeiszene eine besondere Rolle. Der Roman ist aus Polaritäten aufgebaut, welche sich sowohl im Stadtbild (Makrokosmos), als auch in den Hauptfiguren (Mikrokosmos) des Romans widerspiegeln.

Handlung

Der historisch-politische Handlungsstrang, dreht sich um das geplante Bombenattentat auf den reaktionären Senator Apollon Apollonovič Ableuchov, der kurz vor seiner Ernennung zum Minister steht. Im Vordergrund des Geschehens steht, neben dem Terroristen Dudkin, der Sohn Apollons, der Philosophiestudent Nikolaj Apollonovič. Der familiäre Handlungsstrang befasst sich mit der Familiengeschichte der Ableuchovs: seitdem Anna Petrovna Ableuchova die Familie mit ihrem Liebhaber Mantalini verlassen hat, ist die Beziehung Nikolajs zum Vater gestört. Abseits dieses Geschehens wird in dem erotischen Handlungsstrang die unglückliche Beziehung zwischen Nikolaj Apollonovič Ableuchov und Sof’ja Petrovna Lichutina beleuchtet. Nikolaj fühlt sich zu der Ehefrau seines Freundes, des Offiziers Sergej Sergeevič Lichutin, hingezogen, sie weist ihn letztlich jedoch ab. Dadurch gerät Nikolaj in eine katastrophale Identitätskrise, welche im theosophisch-mystischen Handlungsstrang beschrieben wird. Er erklärt sich, gepeinigt von Selbstmordgedanken, gegenüber der "Partei" - einer terroristischen Untergrundorganisation, die nicht näher beschrieben wird - bereit, seinen eigenen Vater zu ermorden. Auf dieses Versprechen kommt der Terroristenführer und agent provocateur Nikolaj Stepanyč Lippančenko zurück, als der Senator zum Minister befördert werden soll. Als Mittelsmann zwischen Nikolaj und Lippančenko fungiert der Terrorist Aleksandr Ivanovič Dudkin. Dieser bringt Nikolaj auch die Zeitbombe ins Haus, mit der er das Attentat begehen soll. Von dem Doppelagenten Morkovin alias Voronkov unter Druck gesetzt, aktiviert Nikolaj schließlich die Bombe, obwohl er seinen Vater eigentlich nicht ermorden will. Seine Einsicht kommt jedoch zu spät, denn nach einer Verkettung unglücklicher Umstände detoniert die Bombe im Haus des Senators. Es wird aber niemand verletzt.

Petersburg als historische Tribüne

Der Bauernaufstand Pugačevs (1773-1775), die Französische Revolution (1789) und die Rebellion der Dekabristen (1825) waren Vorzeichen für einen revolutionären Umbruch im russischen Zarenreich. Die Befürchtungen der russischen Regierung bewahrheiteten sich infolge der Niederlage des autokratischen Systems in der Auseinandersetzung mit dem aufstrebenden Japan (1904/1905): Petersburg wurde zum historischen und legendären Schauplatz der ersten russischen Revolution von 1905. Die Hoffnung von Innenminister Pleve, die unzufriedenen gesellschaftlichen Kräfte durch einen erfolgreichen Krieg von politischen Forderungen abbringen zu können, erfüllten sich nicht. Im Gegenteil: die traumatischen Niederlagen bei Port Arthur (1904), Tsuschima und Mukden (1905) verschärften die oppositionelle Stimmung in der Bevölkerung und schufen eine Atmosphäre, die es einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ermöglichte auf die staatlichen Repressionen mit einer individuellen Terrorkampagne zu antworten, der zahlreiche politische Funktionsträger zum Opfer fielen.

In Belyjs Petersburg, das als "direkter Reflex auf zeitgeschichtliche Realia"[3] betrachtet werden kann, wird diese explosive Stimmung im historisch-politischen Handlungsstrang aufgegriffen. Dabei wird der revolutionäre Terrorismus auf Staatsebene durch Nikolajs geplantes Bombenattentat auf seinen Vater beschrieben.

  1. Stahl-Schwaetzer, Henrieke: Renaissance des Rosenkreuzertums. Frankfurt/M. [u. a.]: Lang, 2002, S. 196ff.
  2. Lachmann, Renate: Intertextualität als Sinnkonstitution: Andrej Belyjs Petersburg und die 'fremden' Texte. In: Poetica: Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft, 1983; 15 (1-2), S. 89.
  3. Gerigk, Horst-Jürgen: Staat und Revolution im Russischen Roman des 20. Jahrhunderts. Heidelberg: Mattes Verlag, 2005, S. 150.