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Sozialwissenschaften

für die Kurse MB 70/71 2009 in den Fach Psychologie, Soziologie und Pädagogik

Zweiter Lehrabschnitt


Themenübersicht

Wechselwirkungen zwischen Individuum und sozialem Umfeld

Persönlichkeitspsychologie

Wechselwirkungen zwischen körperlicher und seelischer Gesundheit

Formen des Krankheitserlebens

Einfluss der persönlichen und sozialen Faktoren auf das Krankheitserleben und Bewältigungsstrategien am Beispiel verschiedener Patientengruppen

Einflussfaktoren der Krankheitsbewältigung

Einleitung

Charlotte Perkins Gilman

Die gelbe Tapete (Auszüge)

Es kommt nur ganz selten vor, daß so gewöhnliche Leute wie John und ich ein altes Herrenhaus für den Sommer ergattern. Es ist eine Villa im Kolonialstil, ein Ahnenstammsitz, ich würde es gar als Spukhaus bezeichnen und damit den Gipfel romantischer Glückseligkeit erreichen - aber das wäre denn doch zu viel verlangt vom Schicksal! Trotzdem behaupte ich stolz, daß es etwas Merkwürdiges an sich hat. Warum wäre sonst die Miete so günstig? Und warum wäre es sonst so lange leer gestanden? John lacht mich natürlich aus, aber das ist in einer Ehe ja zu erwarten. John ist ein extrem praktisch denkender Mensch. Er hat kein Verständnis für den Glauben, verabscheut zutiefst jede Form von Aberglauben, und er spottet jedesmal, wenn über Dinge gesprochen wird, die nicht gespürt, gesehen und in Zahlen niedergeschrieben werden können. John ist Arzt, und vielleicht - (das würde ich natürlich keiner Menschenseele erzählen, aber das hier ist totes Papier und verschafft mir große Erleichterung) - vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb ich nicht schneller gesund werde. Er glaubt mir nämlich nicht, daß ich krank bin! Was kann man da schon machen? Wenn ein sehr angesehener Arzt, der noch dazu der eigene Mann ist, Freunden und Verwandten gegenüber versichert, daß man eigentlich nichts weiter hat als eine zeitweilige nervöse Depression - eine leichte Neigung zur Hysterie -, was soll man tun? Mein Bruder ist ebenfalls Arzt, auch ein sehr angesehener, und er sagt dasselbe. Also habe ich Phosphate oder Phosphite - was auch immer es ist - und Stärkungsmittel verordnet bekommen, Reisen, Luft und Bewegung, und es ist mir streng verboten worden zu "arbeiten", bevor ich wieder gesund bin. Ich persönlich halte ihre Ansichten für falsch. Ich persönlich glaube, daß mir eine angenehme Arbeit, die mir Spaß macht und mir Abwechslung verschafft, helfen würde. Aber was soll man tun? Eine Zeitlang habe ich trotz ihres Verbots einfach geschrieben; aber es strengt mich doch ziemlich an - weil ich es so heimlich, still und leise tun muß, um nicht auf heftigen Widerspruch zu stoßen. Manchmal stelle ich mir vor, daß mir in meiner Verfassung weniger Widerspruch und mehr Gesellschaft und Anregung ... aber John sagt, das Allerschlimmste, was ich tun kann, ist, über meinen Gesundheitszustand nachzudenken, und ich muß wirklich zugeben, daß es mir dann immer schlechtgeht.

[..]

Manchmal ärgere ich mich ganz grundlos über John. Ich war früher bestimmt nicht so empfindlich. Ich glaube, es liegt an dieser Nervenschwäche. Aber John meint, wenn ich in solch einen Zustand gerate, liegt das an fehlender Selbstkontrolle. Deshalb versuche ich alles mögliche, mich zu beherrschen - zumindest vor ihm -, und das macht mich sehr müde.

[..]

Er ist sehr besorgt und liebevoll, und er läßt mich kaum etwas ohne genaue Anweisung machen. Ich habe einen exakt festgelegten Plan für jede Stunde des Tages; er nimmt mir jede Sorge ab, und ich komme mir zutiefst undankbar vor, daß ich das nicht mehr zu schätzen weiß. Er sagt, wir seien einzig und allein wegen mir hierhergekommen, ich solle völlige Ruhe haben und soviel frische Luft wie möglich. "Wieviel du dich bewegst, hängt von deinem Kräftezustand ab, Liebes", sagte er, "und wieviel du ißt, von deinem Appetit, aber Luft kannst du die ganze Zeit über einatmen." Also haben wir das Kinderzimmer ganz oben im Haus als unser Schlafzimmer genommen.

[..]

Ursprünglich war es das Kinderzimmer, später dann wohl Spiel- und Turnzimmer, denn die Fenster sind offensichtlich wegen der kleinen Kinder vergittert, und an den Wänden sind Ringe und dergleichen angebracht worden. Der Anstrich und die Tapete sehen aus, als wäre eine Knabenschule hier untergebracht gewesen. Um das Kopfende meines Bettes herum, etwa soweit ich reichen kann, und ein großes Stück ganz unten auf der anderen Seite des Zimmers sind große Flächen davon abgerissen - von der Tapete. In meinem ganzen Leben habe ich noch keine so schlimme Tapete gesehen. Sie hat ein wildwucherndes, üppiges Muster, das allen Regeln der Kunst zuwiderläuft. Es ist so wirr, daß einem die Augen flimmern, wenn man dem Muster nachspürt, so ausgeprägt, daß es ständig irritiert und näheres Hinsehen verlangt; und folgt man den schwachen, unsicheren Kurven eine kurze Strecke, dann begehen sie plötzlich Selbstmord - tauchen in haarsträubenden Winkeln ab, zerstören sich in unerhörten Widersprüchen. Die Farbe ist abstoßend, geradezu ekelhaft, es ist ein schwelendes, schmutziges Gelb, das von dem langsam wandernden Sonnenlicht merkwürdig ausgebleicht wurde. An manchen Stellen ist es ein mattes und doch schreiendes Orange, an anderen ein kranker Schwefelton. Kein Wunder, daß die Kinder es gehaßt haben! Ich würde es selbst hassen, wenn ich lange in diesem Zimmer wohnen müßte. Da kommt John, und ich muß das jetzt wegstecken - er haßt es, wenn ich auch nur ein Wort schreibe.

[..] Es wird langsam immer anstrengender für mich, geradlinig zu denken. Es liegt bestimmt einfach an dieser Nervenschwache.

[..]

Manchmal hasse ich es, dem Licht zuzusehen, es kriecht so langsam, und durch irgendein Fenster kommt es immer herein.

[..]

Bei dieser Tapete gibt es eine spezielle Besonderheit, etwas, das außer mir niemand wahrzunehmen scheint, und zwar, daß sie sich mit wechselndem Licht verändert. Wenn die Sonne durch das Ostfenster scheint - ich warte immer auf diesen ersten, langen, geraden Strahl -, dann ändert sich das Muster so schnell, daß ich es kaum fassen kann. Deshalb sehe ich immer zu. Im Mondlicht - wenn der Mond scheint, dann dringt sein Licht die ganze Nacht herein -würde ich es gar nicht für dieselbe Tapete halten. Nachts, und zwar in jedem Licht, im Zwielicht, im Kerzenlicht, im Licht der Lampe und am allerschlimmsten im Mondlicht, wird ein Gitter daraus! Das äußere Muster meine ich, und die Frau dahinter ist ganz deutlich sichtbar. Ich habe lange nicht begriffen, was das für ein Ding ist, das dahinter zum Vorschein kommt, dieses unklare Muster dahinter, aber jetzt bin ich mir ziemlich sicher, daß es eine Frau ist. Bei Tageslicht verhält sie sich still und ruhig. Ich denke, es ist das Muster, das sie zähmt. Es ist so rätselhaft. Es hält mich stundenlang gefesselt. Ich lege mich jetzt sehr oft hin. John sagt, es tut mir gut, und ich soll soviel schlafen wie möglich. Eigentlich hat er mir das angewöhnt, weil er mich drängte, mich nach jeder Mahlzeit eine Stunde hinzulegen. Ich bin überzeugt davon, daß das eine sehr schlechte Angewohnheit ist - ich schlafe nämlich gar nicht. Und so werde ich zum Schwindeln verleitet, denn ich sage ihnen nicht, daß ich wach bin - o nein! Es ist nämlich so, daß ich seit kurzem ein bißchen Angst vor John habe.

[..]

Endlich bin ich wirklich auf etwas gestoßen. Weil ich es nachts, wenn es sich so sehr verändert, ständig beobachtete, habe ich es schließlich herausgefunden. Das Muster im Vordergrund bewegt sich wirklich - und das ist kein Wunder! Die Frau dahinter rüttelt daran! Manchmal glaube ich, daß ganz viele Frauen dahinter stecken, und manchmal denke ich, es ist nur eine, die schnell herumkriecht, und durch das Kriechen wird alles durchgeschüttelt. An den ganz hellen Stellen hält sie sich ruhig, und an den ganz dunklen Stellen packt sie einfach die Gitterstäbe und rüttelt daran.

[..]

Ich glaube, die Frau kommt tagsüber heraus! Denn - und das bleibt unter uns! - ich habe sie gesehen! Ich kann sie von jedem meiner Fenster aus sehen! Ich weiß, es ist dieselbe Frau, denn sie kriecht immer, und die meisten Frauen kriechen nicht am Tage. Ich sehe sie auf diesem langen, schattigen Weg, wo sie auf und ab kriecht. Ich sehe sie in diesen dunklen, weinbewachsenen Lauben, durch die sie um den ganzen Garten herum kriecht. Ich sehe sie auf der langen Straße unter den Bäumen, sie kriecht sie entlang, und wenn ein Wagen kommt, dann versteckt sie sich unter den Brombeersträuchern. Ich kann es ihr nicht verdenken. Es muß äußerst peinlich sein, tagsüber beim Kriechen erwischt zu werden! Ich schließe immer die Tür ab, wenn ich tagsüber krieche. Nachts kann ich es nicht, denn ich weiß, daß John sofort Verdacht schöpfen würde. Und John ist zur Zeit so merkwürdig, daß ich ihn nicht verärgern will. Wenn er nur ein anderes Zimmer nähme! Außerdem will ich nicht, daß irgendjemand außer mir diese Frau nachts herausläßt.

[..]

Aber ich muß mich an die Arbeit machen. Ich habe die Tür abgeschlossen und den Schlüssel auf den Weg vor dem Haus geworfen. Ich will nicht hinaus, und ich möchte nicht, daß jemand hereinkommt, bevor John da ist. Ich möchte ihn verblüffen. Ich habe ein Seil hier oben, das nicht einmal Jennie gefunden hat. Wenn diese Frau herauskommt und versucht wegzulaufen, kann ich sie festbinden! Aber ich habe vergessen, daß ich nicht besonders weit reichen kann, wenn ich nichts habe, worauf ich stehen kann. Das Bett läßt sich einfach nicht verrücken! Ich habe versucht, es hochzuheben und zu schieben, bis ich nicht mehr konnte, und dann war ich so böse, daß ich an einer Ecke ein kleines Stückchen abgebissen habe - aber die Zähne taten mir danach weh. Dann habe ich die ganze Tapete so weit abgerissen, wie ich vom Boden aus hinaufreichen konnte. Sie klebt fürchterlich fest, und das Muster genießt es nur so! Diese ganzen abgewürgten Köpfe und hervortretenden Augen und herumwatschelnden Pilze kreischen geradezu vor Spott! Ich werde bald so wütend, daß ich etwas Verzweifeltes anstelle! Aus dem Fenster zu springen wäre ein bewundernswürdiges Unterfangen, aber die Gitterstäbe sind zu stark, um es überhaupt zu versuchen. Außerdem würde ich es auch gar nicht tun. Natürlich nicht. Mir ist sehr wohl klar, daß so ein Schritt nicht angemessen wäre und falsch verstanden würde. Ich mag nicht einmal aus dem Fenster sehen - da draußen sind so viele von diesen kriechenden Frauen, und sie kriechen so schnell. Ob sie wohl alle aus der Tapete gekommen sind, so wie ich? Aber ich bin jetzt sicher an meinem gutversteckten Seil festgebunden - mich kriegt ihr da nicht raus auf die Straße. Wenn es Nacht wird, muß ich wohl wieder hinter das Muster, und das ist hart! Es ist so angenehm, draußen in diesem großen Zimmer zu sein und herumzukriechen, wie es mir gefällt! Ich will nicht nach draußen. Auch nicht, wenn Jennie mich darum bittet. Denn draußen muß man auf der Erde kriechen, und alles ist grün statt gelb. Aber hier kann ich ruhig auf dem Fußboden herumkriechen, und meine Schulter paßt genau in diese lange Rille an der Wand, so daß ich mich nicht verirren kann. Oh, da ist John an der Tür! Es hat keinen Sinn, junger Mann, du kriegst sie nicht auf! Und wie er ruft und gegen die Tür hämmert! Jetzt schreit er nach einer Axt. Es wäre zu schade um diese schöne Tür! John, Liebster!" sagte ich mit sanftester Stimme, "der Schlüssel ist unten bei den Treppen am Eingang, unter einem Bananenblatt!" Das brachte ihn für ein paar Momente zum Schweigen. Dann sagte er, und zwar wirklich ruhig: "Mach die Tür auf, Liebling!" "Kann ich nicht", sagte ich. "Der Schlüssel ist unten an der Eingangstür unter einem Bananenblatt!" Und dann sagte ich es wieder, mehrmals, ganz sanft und langsam, und ich wiederholte es so oft, daß er nachsehen mußte, und er fand ihn natürlich und kam herein. An der Tür blieb er abrupt stehen. "Was ist los?" rief er. "Um Himmels willen, was machst du!" Ich kroch einfach weiter, aber ich sah ihn über die Schulter weg an. "Jetzt bin ich doch noch herausgekommen", sagte ich, "obwohl du wie Jane dagegen warst. Und ich habe fast die ganze Tapete abgerissen, so daß ihr mich nicht wieder reinstecken könnt!" Warum fiel dieser Mann denn nur in Ohnmacht? Ja, tatsächlich, und mir genau in den Weg, an der Wand, so daß ich jedesmal über ihn hinwegkriechen mußte!


Quelle http://www.ak-anna.org/der_neue_mensch/medizin_kritik_norm/depression_frauen.htm

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