Benutzer:Zweioeltanks/Datierung der Reformatorischen Entdeckung

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Wann in Martin Luthers Leben war der Zeitpunkt erreicht, an dem er zu seiner grundlegenden reformatorischen Entdeckung, seinem neuen Verständnis von der Gerechtigkeit Gottes, fand? Traditionell wird dieser Zeitpunkt häufig mit dem Begriff Turmerlebnis beschrieben, weil Luther in einer Tischrede gesagt haben soll, dass er diese Entdeckung in seinem im Südturm des Wittenberger Augustiner-Eremiten-Klosters gelegenen Arbeitszimmer erlangte.

Der Begriff Turmerlebnis ist aber als wissenschaftlicher Begriff untauglich, weil er den damit verbundenen Forschungsgegenstand zu stark vereinfacht. Zum einen betont er zu stark die Erlebnisseite von Luthers reformatorischer Entdeckung. Hierdurch wird zu wenig berücksichtigt, dass hinter der scheinbar plötzlichen Entdeckung ein Prozess des Zweifelns, Verwerfens und Abwägens gestanden haben wird. Zum anderen ist keineswegs sicher, wann Luther seine reformatorische Entdeckung erlangte. Hiervon ist aber abhängig, wie man darüber zu urteilen hat, was der Inhalt von Luthers reformatorischer Entdeckung gewesen ist. Tatsächlich gibt es unter den Lutherforschern auch hierüber Uneinigkeit. Mittlerweile haben sich als bessere Alternativen zum Begriff Turmerlebnis die Begriffe reformatorische Wende, reformatorischer Durchbruch, reformatorische Erkenntnis und reformatorische Entdeckung herausgebildet.

Datierungsversuche

In der Lutherforschung haben sich vier verschiedene Datierungsmöglichkeiten herausgebildet. Je nachdem, welcher Datierung man folgt, ergeben sich entscheidende Konsequenzen für die inhaltliche Bestimmung der reformatorischen Entdeckung und ihrer Bedeutung für die Reformation.

Frühdatierung

In der protestantischen Theologie bis einschließlich Karl Holl wurde meist eine Frühdatierung vertreten. Karl Holl setzte in seinen 1921 erschienenen „Gesammelten Aufsätzen zur Kirchengeschichte Band 1“ die reformatorische Erkenntnis auf den Zeitraum von 1511 bis zum Frühjahr 1513 an. Zunächst soll Luther zu einer neuen sittlichen Auffassung gefunden haben, die Teil der reformatorischen Entdeckung ist. Und dann, noch vor der ersten Psalmvorlesung 1514, soll Luther zu einem konkreten Zeitpunkt seine Auffassung von der Rechtfertigung und der Gottesgerechtigkeit entwickelt haben.

Datierung um 1515

Karl Holls Position wurde von in seiner Tradition stehenden Forschern modifiziert, weil sich zeigte, dass seine Datierungen sich nicht halten ließen. Er hatte nicht berücksichtigt, dass Luther seine Schriften im Nachhinein korrigierte. Dennoch ging man auch nach Holl in der protestantischen Theologie meist noch von einer frühen Datierung um 1515 aus. Als Grundlage hierfür untersuchte man weiterhin Luthers frühe Vorlesungen, und es bestand allgemein Einigkeit darüber, dass Luther seine reformatorische Entdeckung vor seiner Römerbriefvorlesung im April 1515 gehabt haben müsse, wenn auch noch vermischt mit Denkschemata von Augustin und der Mystik von Johannes Tauler. 1516 veröffentlichte er zudem die Theologia deutsch bzw. richtiger den „Frankfurter“, das Werk eines unbekannten Mystikers, das ihn in seiner wachsenden Ablehnung äußerlicher kirchlicher Riten bestärkte.

Wichtige Forscher für diese Datierungsversuche waren Emanuel Hirsch und sein Schüler Erich Vogelsang.

Spätdatierung

Eine neue Phase der Datierungsversuche begann 1958 mit der Veröffentlichung von Ernst Bizers Buch Fides ex auditu, in dem Bizer als erster für eine Datierung um etwa 1518 eintrat. Bizer begründete diese Spätdatierung mit einer Textpassage, die sich in der Vorrede zum ersten Band der 1545 erschienenen Gesamtausgabe von Luthers Werken befindet. Diese Textpassage, die von Bizer als Selbstzeugnis bewertet wird, legt eine Datierung um 1518 nahe. Weiterhin nahmen Bizer, Oswald Bayer und andere Forscher eine Neubewertung der frühen Vorlesungen Luthers mit dem Ergebnis vor, dass diese keineswegs bereits Luthers reformatorische Entdeckung enthalten. Dabei wurde auch deutlich, wie entscheidend es ist, was eigentlich als der wesentliche Inhalt von Luthers reformatorischer Entdeckung angesehen wird, um die Vorlesungen hieraufhin untersuchen zu können.

Kurt Aland gab außerdem zu bedenken, dass eine Vorlesung nicht geeignet sei, um Luthers reformatorische Entdeckung zu datieren, weil Vorlesungen einen wissenschaftlichen Zweck verfolgen und deshalb keine Auskunft über Luthers persönliche Glaubensentwicklung geben können. Stattdessen versuchte Aland durch eine Untersuchung von Luthers Predigten zu zeigen, dass Luther seine reformatorische Entdeckung zwischen dem 15. Februar und 28. März 1518 gehabt haben müsse.

Prozesslösung

Es gibt verschiedene Formen von Prozesslösungen, die gemeinsam haben, dass sie nicht von einem bestimmten Zeitpunkt ausgehen, an dem Luther seine reformatorische Entdeckung gemacht hat, sondern dass sich die reformatorische Entdeckung in einem längeren Prozess entwickelt haben soll. Unterschiede gibt es vor allem in Hinblick auf den Zeitraum dieses Prozesses (meist wird aber eine Synthese aus der Früh- und Spätdatierung angestrebt) und in Hinblick darauf, ob Luther hierbei einzelne oder ein großes, abschließendes Turmerlebnis gehabt habe.

Heutige Bewertung

Zumindest die letzten drei genannten Datierungsversuche werden bis heute in modifizierter Form vertreten. Da es der Forschung bislang nicht gelungen ist, sich auf eine Datierung zu verständigen, kann der Eindruck von Beliebigkeit entstehen. Hier ist aber zu berücksichtigen, dass die Frage der Datierung der Reformatorischen Wende immer auch von ihrer inhaltlichen Bestimmung und ihrer Bedeutung für die Reformation abhängig ist. Folgt man einer Datierung der reformatorischen Entdeckung vor der Veröffentlichung der 95 Thesen Luthers im Jahr 1517, ergibt sich als Konsequenz, dass es auch ohne diese Veröffentlichung zum Konflikt mit Rom gekommen wäre. Folgt man dagegen einer Spätdatierung, dann kann der Konflikt mit Rom gerade als Impuls gedeutet werden, der Luther zu seinem neuen Verständnis von Rechtfertigung führte. Je weiter nach hinten die Datierung erfolgt, desto stärker wird man das neue Rechtfertigungsverständnis als das wesentliche Element der reformatorischen Entdeckung ausmachen. Da dieses im Jahr 1515 zwar schon vorhanden, jedoch noch nicht voll entwickelt war, wird eine Prozesslösung dem Problem am besten gerecht. Diese muss jedoch von dem von Luther subjektiv beschriebenen Turmerlebnis als einmaligem Zeitpunkt unterschieden werden.

Literatur

  • Bernhard Kaiser: Luther und die Auslegung des Römerbriefes. Eine theologisch-geschichtliche Beurteilung. Biblia et Symbiotica 9. Verl. für Kultur und Wiss., Bonn 1995 ISBN 3-926105-35-6

Die folgenden beiden Sammelbände beinhalten die wichtigsten Beiträge zur Frage der Datierung bis 1988:

  • Bernhard Lohse [Hg.], Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, WdF 123, Darmstadt 1968
  • Ders. [Hg.], Der Durchbruch... Neuere Untersuchungen, VIEGM B. 25, Wiesbaden 1988

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