Benutzer Diskussion:Ahasveros/Jenische Neuentwurf
Die Verfolgung der Jenischen im NS
Die Politik der Nationalsozialisten gegenüber Jenischen unterschied sich grundlegend von ihrer Politik gegenüber den Sinti und Roma. Letztere wurden im Zuge der Nürnberger Gesetzgebung – auf Direktive von Reichsinnenminister Frick – als „Fremdrassige“ definiert und aus allen Bereichen des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens ausgegrenzt. Grundlage ihrer Entrechtung, Gettoisierung und schließlich Deportation in die Vernichtungslager war die nationalsozialistische Rassenideologie. Jenische hingegen wurden von den nationalsozialistischen Rassenbiologen zwar als „minderwertig“ eingestuft, galten jedoch grundsätzlich als „deutschblütig“. Quellen zeigen, dass auch Jenische unter dem Vorwand der „Asozialität“ verfolgt und in Konzentrationslager verschleppt wurden. In der historischen Forschung besteht jedoch Konsens darüber, dass die Jenischen nicht wie die Sinti und Roma als Kollektiv Opfer eines rassenideologisch motivierten und staatlich organisierten Völkermords wurden. Wie die überlieferten Dokumente belegen, sollten die Jenischen nach dem Willen der Nationalsozialisten von den Deportationen der Sinti- und Roma-Familien in die Todeslager im besetzten Polen bewusst ausgenommen werden. Im folgenden soll dieser grundsätzliche Unterschied bei der Behandlung von Jenischen sowie Sinti und Roma im NS-Staat anhand einiger konkreter Beispiele verdeutlicht werden.
Himmlers Erlass vom 8. Dezember 1938, der grundlegend für den weiteren Verfolgungsprozess war und in dem einleitend von Notwendigkeit einer „endgültigen Lösung der Zigeunerfrage“ die Rede ist, unterscheidet zwischen „Zigeunern“, „Zigeunermischlingen“ sowie „nach Zigeunerart umherziehende Personen“ (so die Nazi-Terminologie für die Jenischen). „Zigeuner“, „Zigeunermischlinge“ und Jenische sollten demnach gesondert erfasst werden. In der Ausführungsanweisung zu diesem Erlass vom 1. März 1939 heißt es einleitend: „Ziel der staatlichen Maßnahmen zur Wahrung der Einheit der deutschen Volksgemeinschaft [muss] sein einmal die rassische Absonderung des Zigeunertums vom deutschen Volkstum, sodann die Verhinderung der Rassenmischung und schließlich die Regelung der Lebensverhältnisse der reinrassigen Zigeuner und Zigeuner-Mischlinge.“ Zu diesem Zweck sei „die rassebiologische Untersuchung dieser Personen durchzuführen, um einwandfrei zu erkennen, ob es sich im Einzelfall um einen reinen Zigeuner, einen Zigeunermischling oder um einen Nichtzigeuner handelt.“ Mit dem letzten Terminus waren die Jenischen gemeint. Als Ersatz für ihre bisherigen Ausweispapiere, die eingezogen wurden, erhielten die Menschen verschiedenfarbige Bescheinigungen, die ihre jeweilige „rassische“ Zugehörigkeit dokumentieren sollten: „reinrassige Zigeuner“ bekamen eine braune Bescheinigung, „Zigeunermischlinge“ eine braune mit einem hellblauen Querstreifen und „Nichtzigeuner, aber nach Zigeunerart umherziehende Personen“ eine graue.
Die praktische Durchführung der von Himmler befohlenen Erfassung der Sinti und Roma wurde der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ übertragen, die 1936 in Berlin unter Leitung von Dr. Robert Ritter eingerichtet worden war und die eng mit dem SS-Apparat bzw. dem späteren „Reichssicherheitshauptamt“ kooperierte. Die „Forschungsstelle“ erstellte bis Kriegsende über 24.000 „Rassengutachten“ von Sinti und Roma, die eine wesentliche Grundlage für die Selektion der Opfer und ihre Deportation in die Vernichtungslager bildeten. Ritter und seine Mitarbeiter hatten insbesondere die Aufgabe, durch Überprüfung der „Abstammungsverhältnisse“ eine (rassenbiologisch begründete) Unterscheidung von „Zigeunern“ bzw. „Zigeunermischlingen“ und „Nichtzigeunern, aber nach Zigeunerart umherziehende Personen“ vorzunehmen. Mit Unterstützung staatlicher und kirchlicher Stellen führten Ritter und seine Mitarbeiter im gesamten Reich genealogische und anthropologische Untersuchungen durch. Sie zwangen die Menschen, Auskunft über ihre Verwandtschaft zu geben, und vermaßen sie von Kopf bis Fuß. Detaillierte Stammbaumtafeln und Tausende von Fotos sollten die pseudowissenschaftlichen Theorien NS-Rassebiologen untermauern, die noch in den Konzentrationslagern ihre „Forschungen“ fortsetzen. Am Ende dieses Prozesses stand ein individuelles Gutachten, das die untersuchten Personen als „Zigeuner“, Zigeunermischling“ oder als „Nichtzigeuner“ einordnete. Diese „Rassendiagnose“ war, wie gleich zu zeigen sein wird, entscheidend für den weiteren Verfolgungsweg. Im Januar 1941 wurde dieses Klassifikationsschema durch die Einführung verschiedener Mischlingsgrade sogar noch verfeinert. Selbst Menschen mit einem geringen Anteil von „Zigeunerblut“ wurden in der Folge dem Verfolgungsapparat überantwortet und bis zum Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ in Konzentrationslager deportiert oder zwangssterilisiert.
Die im Himmler-Erlass vom 8. Dezember 1938 vorgenommene Unterscheidung zwischen „Zigeunern“ bzw. „Zigeunermischlingen“ einerseits und Jenischen andererseits war eine entscheidende Weichenstellung; sie blieb maßgeblich für den weiteren Verfolgungsprozess. Sowohl von der im Oktober 1939 durch Himmler verfügten Festsetzung aller Sinti und Roma im Deutschen Reich – zur Vorbereitung der geplanten Deportationen in das besetzte Polen – als auch von der ebenfalls durch Himmler angeordneten ersten Deportation deutscher Sinti- und Roma-Familien in das „Generalgouvernement“ im Mai 1940 sollten Jenische – da sie ja als „Nichtzigeuner“ bzw. „deutschblütig“ eingeordnet wurden – ausgenommen bleiben. Der zur Deportation bestimmte Personenkreis wird in den zu Grunde liegenden Erlassen und Verordnungen ausdrücklich auf „Zigeuner“ und „Zigeunermischlinge“ begrenzt.
Wie konsequent diese Trennung in unterschiedliche „rassische“ Kategorien in der Praxis eingehalten wurde, zeigt folgendes Beispiel: Im Mai 1940 richteten die Nazis in der Festung Hohenasperg bei Stuttgart ein provisorisches Sammellager ein, von wo aus die zuvor verhafteten süddeutschen Sinti- und Roma-Familien direkt in das besetzte Polen verschleppt wurden. Im Sammellager entdeckte man, dass bei einigen der Inhaftierten die im Himmler-Befehl vorgeschriebenen „Rassengutachten“ nicht vorlagen. Um zu prüfen, ob es sich tatsächlich um „Zigeuner“ bzw. „Zigeunermischlinge“ handelt, wurde eigens ein Mitarbeiter der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“, Dr. Würth, herbei zitiert, der vor Ort Nachuntersuchungen durchführte. Die von ihm als „Nichtzigeuner“ eingestuften Menschen wurden daraufhin aus dem Sammellager Hohenasperg entlassen, die von Würth als „Zigeuner“ bzw. „Zigeunermischlinge“ Klassifizierten jedoch in die Gettos und Konzentrationslager nach Polen deportiert.
In einigen Fällen, in denen Jenische von den Verfolgungsorganen zunächst irrtümlich als „Zigeuner“ eingeordnet worden waren und denen man nach Himmlers „Festsetzungserlass“ verboten hatte, ihren Wohnort zu verlassen, wurde dieses Verbot von den nationalsozialistischen Behörden aufgehoben, nachdem die NS-Rassebiologen die Menschen nach Prüfung ihrer Abstammungsverhältnisse zu „Nichtzigeuner“ erklärten. Einzelne der im Mai 1940 Deportierten, die man als versehentlich als „Zigeuner“ verhaftet hatte, erhielten sogar die Erlaubnis nach Deutschland zurückzukehren, als die spätere Prüfung durch die „Rassehygienische Forschungsstelle“ ergab, dass es sich um Jenische bzw. „Nichtzigeuner“ handelte.
Auch Himmlers Auschwitz-Erlass vom 16. Dezember 1942, der die Grundlage für die Deportation von 23.000 Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich und den besetzten Ländern Europas in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau bildete, bezog sich gemäß den Ausführungsbestimmungen zu diesem Erlass ausdrücklich auf „Zigeuner“ und „Zigeunermischlinge“. Wiederum blieben Jenische von den Deportationen ausgenommen, wie auch Lokal- und Regionalstudien belegen. Dass bei den Auschwitz-Deportationen erneut die „Rassenzugehörigkeit“ das entscheidende Selektionskriterium war, zeigt ein Beispiel aus den Niederlanden: Auf Anordnung des dortigen Chef der Sicherheitspolizei und des SD fand im Mai 1944 eine landesweite Verhaftungsaktion gegen die niederländischen Sinti und Roma statt. Die verhafteten Männer, Frauen und Kinder kamen zunächst in das „Sammel- und Durchgangslager“ für die niederländischen Juden in Westerbork. Dort wurde eine Selektion durchgeführt: Etwa die Hälfte der zunächst mutmaßlich als „Zigeuner“ eingestuften Menschen wurden als "arisch" ausgesondert und entlassen. Die als "Zigeuner" eingestuften Menschen hingegen wurden von Westerbork zur Vernichtung nach Auschwitz deportiert. Einige Wochen später wurden die meisten von ihnen in den Gaskammern ermordet.
Resümee:
Jenische wurden vielfach ausgegrenzt, verfolgt und auch in Konzentrationslager verschleppt. Sinti und Roma hingegen wurden Opfer einer systematischen Vernichtungspolitik im gesamten nationalsozialistischen Macht- und Einflussbereich, und zwar vom Säugling bis zum Greis. Selbst Personen, die die NS-Rasseforscher auf der Grundlage ihrer menschenverachtenden Ideologie als so genannte „Achtelzigeuner“ einordneten, wurden in die Todeslager verschleppt oder in selteneren Fällen zwangssterilisiert (was lediglich eine alternative Variante des Völkermords darstellt, denn das Ziel der biologischen Auslöschung war dasselbe). Ein eindrucksvoller Beleg für die Totalität des nationalsozialistischen Vernichtungswillens gegenüber den Sinti und Roma ist die Tatsache, dass sogar Heimkinder als „Zigeuner“ oder „Zigeunermischlinge“ zentral erfasst und nach Auschwitz deportiert wurden. Nicht einmal Adoptivkinder, die in „arischen“ Familien aufwuchsen, bei denen man aber eine „zigeunerische“ Abstammung ausgemacht hatte, blieben verschont.
Bei der Verfolgung der Jenischen im Nationalsozialismus handelt es sich sicherlich um ein großes Unrecht, und die Opfer verdienen Anerkennung. Es handelt sich aber nicht um einen „Holocaust“, also um einen zentral geplanten und auf umfassende Vernichtung zielenden Genozid, wie dies einzelne Verbandsvertreter fälschlich behaupten. In der historischen Literatur sind einzelne Beispiele aufgeführt, dass Menschen als „Zigeunermischlinge“ deportiert und ermordet wurden, obwohl sie sich selbst als Jenische betrachtet und zum Teil sogar gegen ihre Einordnung als „Zigeunermischlinge“ durch NS-Rassebiologen protestiert haben. Diese Menschen sollten ausgelöscht werden, weil sie nach der Logik der nationalsozialistischen Rassenideologie und in den Augen der Verfolgungsorgane als „Zigeuner“ bzw. „Zigeunermischlinge“ galten. Bei der „Rassendiagnose“ war nicht das persönliche Bekenntnis der Betroffenen entscheidend, sondern die Definitionsmacht oblag allein den Tätern und ihren wissenschaftlichen Helfershelfern. Dies ist ein Kennzeichen der „rassischen“ Verfolgung im „Dritten Reich“ überhaupt und galt in gleicher Weise für die jüdischen Opfer. Wie dargelegt wurde, hat die für die Exekution der Vernichtungspolitik verantwortliche SS-Führung, allen voran Himmler, keinen Aufwand gescheut, Sinti und Roma gemäß einer rassenbiologischen Definition vollständig zu erfassen. Zu diesem Zweck wurde eigens ein wissenschaftlicher Apparat etabliert, der den Völkermord nicht nur ideologisch begründete, sondern mit der Erstellung Tausender „Rassegutachten“ auch eine wesentliche Voraussetzung für dessen praktische Durchführung schuf.
Die überlieferten Dokumente lassen keinen Zweifel daran, das sich die Verfolgung von Jenischen im NS-Staat vom staatlich organisierten Völkermord an den Sinti und Roma fundamental unterschied. Gerade die unterschiedliche Behandlung dieser beiden Gruppen lässt das Spezifische des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma und die historische Einmaligkeit der an ihnen begangenen Verbrechen in aller Schärfe hervortreten.
--Ahasveros 13:26, 10. Mär. 2008 (CET)