Billigkeit

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Billigkeit (griechisch Epikie[1]) ist ein im deutschen Recht vorkommender unbestimmter Rechtsbegriff, unter dem eine gerechte oder angemessene Anwendung allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen im Einzelfall verstanden wird.

Der umgangssprachliche Begriff weicht inzwischen hiervon ab, so dass „billig“ zwischenzeitlich für „preiswert“ oder „günstig“ steht und im weiteren Verlauf die Nebenbedeutungen „niedrigpreisig“ sowie „minderwertig“ oder „schlecht“ bekam.[2]

Allgemeines

Im Zuge einer Bedeutungsverschlechterung veränderte sich die Bedeutung des Adjektivs „billig“ zum Neuhochdeutschen hin erst zu „preisgünstig“.[3] Eine ähnliche Bedeutung hingegen hat das Wort in der Redewendung „recht und billig“.

In der deutschen Rechtstradition spielt der Begriff der Billigkeit eine prominente Rolle vor allem im Zivilrecht. Hier ist Billigkeit ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung. Mit der Billigkeit kann eine Rechtsordnung der Gerechtigkeit im Einzelfall Genüge tun. Da das Gesetz in den meisten Fällen nur Anordnungen für den Regelfall trifft, muss es der Rechtsprechung im konkreten Einzelfall erlauben, die Bestimmungen unter Berücksichtigung von Billigkeitsaspekten zu ergänzen oder zu korrigieren.[4] Im deutschen Recht ist neben diesen Generalklauseln aber auch die zweite Alternative verwirklicht, bei der das Gesetz sogar Einzelfälle regelt, so dass die Gerechtigkeit bereits kraft Gesetzes hergestellt wird. Billigkeitskontrolle ist eine einzelfallbezogene, an individuellen Besonderheiten ausgerichtete gerichtliche Kontrolle von Verträgen. Billigkeit ist ein Ausfüllungsbegriff, der der Konkretisierung durch die Rechtsprechung bedarf. Für das Reichsgericht (RG) galt bereits im April 1901 als billig, was der Auffassung aller billig und gerecht denkenden Menschen entspricht[5] und interessenausgleichend oder interessengerecht wirkt. Das Gesetz erwähnt den Begriff der Billigkeit recht häufig, so etwa in den § 315, § 319, § 571, § 2048 BGB oder § 91a, § 495a ZPO.

Billigkeit ergänzt das geschriebene Recht, um Härten zu vermeiden oder sie zu mildern. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung (hier: Billigkeitsentscheidung) bzw. Situationsrecht (vergleichbar mit Situationsethik). Billigkeit ist also die feinjustierte und deshalb zielgenauere Gerechtigkeit. Billigkeit erfordert eine „Prüfung und Abwägung der objektiven wirtschaftlichen Interessenlage (…) bei den beiden Vertragspartnern“,[6] ist also letztlich auf die Erzielung einer Gerechtigkeit im Einzelfall ausgerichtet. Der Berechtigte darf also nicht nur seine eigenen Interessen verfolgen, sondern muss die Belange des Vertragspartners in seine Abwägung einbeziehen.[7] Dabei verhält sich das geltende Recht und das elementare Gerechtigkeitsprinzip der Billigkeit abhängig vom historischen Kontext.[8]

Das Gegenteil von Billigkeit ist die Unbilligkeit, ein älteres Wort ist Unbill. Sie ist ein der Gerechtigkeit widersprechendes Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung und eine Zwischenstufe zwischen billigem Ermessen und Willkür.[9]

Geschichte

Der Grundsatz der Billigkeit – lateinisch ius aequum – steht seit alters her ergänzend neben der Strenge der Gerechtigkeit, lateinisch ius strictum. Zurück geht der Begriff wohl auf Aristoteles (dort Epikie) in dessen Nikomachischer Ethik.[10] In dieser entfernte er sich von den Lehren des Platon, was sich auch in der Weiterentwicklung des Begriffes der Billigkeit zeigt. Aristoteles unterschied diese als Sonderrechtsform von seinem Gerechtigkeitskonzept. Insbesondere führte er beide als grundsätzlich unterschiedliche Tugenden ein, will sie aber nicht als verschiedene Haltungen verstanden wissen. Nach Aristoteles ist billig, was außer dem geschriebenen Gesetz gerecht ist.[11] Bereits 1837 galt: „Wer nicht zum Nachteile Anderer seinen Vorteil sucht und wer überhaupt nichts will, wodurch andere in ihren Rechten verletzt oder auf andere Weise eingeschränkt werden könnten, handelt billig oder gerecht“.[12]

Die lateinischen Ausdrücke dafür, Bonum et aequum bzw. bono et aequo (englisch good and equitable), deutsch Gutes und Gleiches (Angemessenes), stammt aus dem römischen Zivilrecht. Das Begriffspaar ist Teil der zivilrechtlichen Naturrechtslehre.

Billiges Ermessen

Bei den meisten Kaufverträgen wird die gegenseitige Leistung (Preis und Ware) vertraglich genau festgelegt, so dass hier für Billigkeitsfragen kein Raum ist. Bei einigen Dauerschuldverhältnissen (Arbeitsverträge, Strom- und Gaslieferverträge, Bankkredite oder Geldanlagen mit variablem Zins) hingegen kann sich während der Vertragsdauer marktbedingt der Preis ändern, so dass der preisbestimmende Anbieter sich einseitig das Recht der jederzeitigen Preisänderung vorbehält (Preisanpassungen, Preisgleitklauseln). Nach dem Leistungsbestimmungsrecht des § 315 Abs. 1 BGB muss dann der Preis von einer Vertragspartei nach billigem Ermessen festgelegt werden, wenn keine Einigung über den Rahmen, in dem sich die Leistungsbestimmung zu halten hat, erzielt wurde. Rechtsverbindlich wird diese Festlegung nur dann, wenn sie den Billigkeitsanforderungen genügt (§ 315 Abs. 3 BGB), sonst wird das ausgeübte Ermessen des Anbieters durch Gerichte überprüft. „Billiges Ermessen“ bedeutet, dass der Vertragspartner bei seiner Preisfestlegung seinen Ermessensspielraum nur im Rahmen eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung ausüben darf. Die Ausübung des Ermessens hat Vorrang vor der Billigkeit, also einer angemessenen und gerechten Preisfindung.[13] Es handelt sich um einen Gestaltungsspielraum in den Grenzen der angemessenen und gerechten Preisfindung.[14] Das Ziel dieser Prüfung sei nicht die Ermittlung eines gerechten Preises von Amts wegen, sondern vielmehr die Feststellung, inwieweit die getroffene Bestimmung sich noch in den Grenzen der Billigkeit halte.[15] „Billiges Ermessen“ gestattet sprachlich eine weite Auslegung (unter besonderer Betonung des Ermessens) und auch Ansätze für eine restriktive Interpretation (im Hinblick auf das Erfordernis des „billigen Ermessens“).[16]

Strompreise

Dem BGH zufolge ist die Regelung des § 315 BGB nicht auf Stromlieferungsverträge anzuwenden, weil dem Energieversorger kein Bestimmungsrecht zusteht.[17] Schließt demnach der Tarifkunde mit dem Energieversorger einen Stromlieferungsvertrag, kommt dieser zu dem jeweils gültigen und gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 EnWG veröffentlichten Tarif zustande. Aus diesem Grund scheide dem BGH zufolge die unmittelbare Anwendung eines „billigen Ermessens“ aus. Nach der Rechtsprechung des BGH ist die Vorschrift des § 315 BGB jedoch entsprechend anzuwenden, wenn der Energieversorger eine Monopolstellung innehat oder der Kunde einem Anschluss- und Benutzungszwang unterliegt.[18] Kann der Tarifkunde wegen einer Monopolstellung seines Energieversorgers oder wegen eines Anschluss- oder Benutzungszwangs den Stromversorger nicht wechseln, unterliegen Strompreisveränderungen der gerichtlichen Überprüfung.

Gaspreise

Demgegenüber scheidet eine entsprechende Anwendung aus, wenn der Gaskunde die Möglichkeit hat, zu einem anderen Anbieter zu wechseln. Allgemeine Gastarife unterliegen nicht einer umfassenden Billigkeitskontrolle, weil die Anwendung des § 315 BGB der Entscheidung des Gesetzgebers widerlaufen würde, von einer staatlichen Regulierung der allgemeinen Gaspreise abzusehen. Bei einseitigen Tariferhöhungen ist das anders, denn diese dürfen durch den Versorger nur nach – gerichtlich überprüfbaren – billigem Ermessen vorgenommen werden.[19] Es entspricht grundsätzlich der Billigkeit, wenn gestiegene Bezugskosten des Gasversorgers an die Tarifkunden weitergegeben werden. Unbilligkeit kann vorliegen, wenn und soweit der Anstieg der Bezugskosten durch rückläufige Kosten in anderen Bereichen ausgeglichen wird.[20]

Bankwesen

Werden bei Darlehen oder Geldanlagen variable Zinsen berechnet, dürfen Kreditinstitute das „billige Ermessen“ nach § 315 BGB anwenden; der Bundesgerichtshof verlangt jedoch, dass Zinsanpassungsklauseln im Kreditgeschäft der Angabe der notwendigen Berechnungsparameter bedürfen. Dabei sind als Referenzzinssätze der EURIBOR oder der LIBOR geeignet.

Wenn sich eine Bank in einem formularmäßigen Kreditvertrag einseitig eine Änderung des Sollzinses vorbehält, so ist eine derartige Klausel grundsätzlich dahingehend auszulegen, dass sie lediglich eine Anpassung (Erhöhung oder Senkung) des Vertragszinses an kapitalmarktbedingte Änderungen der Refinanzierungskonditionen der Bank gemäß § 315 BGB ermöglicht (vgl. Sollzins#Refinanzierungsbedingte Zinsänderungsklauseln). Eine solche Klausel hält der gerichtlichen Inhaltskontrolle stand.[21]

Die Aufrechterhaltung eines Zinssatzes trotz deutlich gesunkenen Zinsniveaus stellt ebenfalls eine Leistungsbestimmung nach § 315 Abs. 2 BGB (durch Unterlassen) dar.[22] Eine Zinserhöhung kann unbillig sein, wenn eine Bank frühere Senkungen des Zinsniveaus nicht weitergegeben hat.[21]

Bei Geldanlagen mit variabler Verzinsung ist der marktübliche Zins zugrunde zu legen;[23] bei variabler Zinsvereinbarung muss dann der relative Abstand zwischen dem anfänglichen Vertragszins und dem Referenzzins während der gesamten Laufzeit eines Sparplans gewahrt bleiben.[24]

Sonstige Anwendungsgebiete

Ausformungen von Billigkeit sind zudem Verbraucherschutzregelungen wie die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) nach §§ 305 ff. BGB. In ihnen wird nämlich durch Wertung im Einzelfall bestimmt, dass Regelungen, die für den schwächeren Vertragspartner (Verbraucher) so ungewöhnlich sind, dass er mit ihnen nicht rechnen musste, ungültig sind. Wurde der Partner sonst unangemessen benachteiligt oder wurde in anderer Weise gegen Treu und Glauben verstoßen, kann ebenfalls eine AGB-Klausel vom Richter für ungültig erklärt werden. Im Schadensrecht gilt, dass der zu leistende Schadensersatz aus Billigkeitsgesichtspunkten unter dem nach §§ 249 ff. BGB erforderlichen Schadensersatz bleiben kann. Im Bereicherungsrecht und im Deliktsrecht (z. B. § 829 BGB) finden sich weitere konkrete Normen, die Billigkeit kodifizieren. Auf dem Sektor des öffentlichen Rechts wären die § 51 bzw. § 75 der Betriebsverfassungsgesetze von 1952 und 1972 zu nennen. Im Steuerrecht sind die abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen (§ 163 AO) und der Billigkeitserlass (§ 227 AO) Beispiele für die konkrete Ausformung von Billigkeit. Im Arbeitsrecht unterliegt das Weisungsrecht des Arbeitgebers ebenfalls den Billigkeitsanforderungen.

Billigkeit als Auslegungsgrundsatz

Überhaupt ist allgemein bei der Auslegung von Gesetzen der diesen zugrunde liegende Billigkeitsgedanke zu ermitteln und – auch über den Gesetzeswortlaut hinaus – zu beachten. Schließlich dient der Grundsatz, dass Recht „billig“ zu sein habe, der Rechtsfortbildung. So wurden nicht zuletzt wegen dieses allgemeinen Ansatzes die Verhältnismäßigkeit als wichtiges Prinzip sowie der Genugtuungsanspruch geschaffen.

Sprachliches

Billigkeit kommt vom altdeutschen „biliden“ oder „bilethen“ für gleichmachen. Der Duden[25] versteht hierunter im Bereich der Rechtssprache „Gerechtigkeit, Richtigkeit, Rechtmäßigkeit“. „Billig“ ist ein typisches Adjektiv, bei dem die Alltagssprache inhaltlich von der Juristensprache abweicht. Der Normalbürger verstand hierunter zunächst „preiswert“ oder „günstig“ und heute (nach 1935) minderwertig oder schlecht, nicht aber „gerecht“. Billig hat erst im 18. Jahrhundert die Bedeutung von „preiswert“ angenommen. Das Sprichwort „Was dem Einen recht ist, ist dem Anderen billig“ bedeutet sinngemäß, dass etwas beiden genehm ist oder beide einverstanden sind. Im Ausdruck „etwas billigen“ ist diese Bedeutung auch noch sichtbar.

Siehe auch

Literatur

Einzelnachweise

  1. Anil-Martin Sinha, Franz Wiedmann: Die Bedeutung der Epikie bei Aristoteles für das ärztliche Handeln, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen, Band 22, 2003, S. 105–112.
  2. Das Wort billig bedeutete bis ins 19. Jahrhundert noch ‚angemessen‘.
  3. Fabian Bross: Grundkurs Germanistische Linguistik für das bayerische Staatsexamen. Tübingen: Gunter Narr, 2014, S. 173.
  4. Thomas Henkel: Begriffsjurisprudenz und Billigkeit. 2004, S. 124 (books.google.de).
  5. RG, Urteil vom 11. April 1901, Az. VI 443/00, RGZ 48, 114–129 (124).
  6. BGH, Urteil vom 2. April 1964, Az. KZR 10/62, Volltext = BGHZ 41, 271, 279.
  7. Michael Stümer: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Schuldrecht. 2010, S. 429 (books.google.de).
  8. Matthias Armgardt, Hubertus Busche: Einleitung. In: Matthias Armgardt, Hubertus Busche (Hrsg.): Recht und Billigkeit zur Geschichte der Beurteilung ihres Verhältnisses. Tübingen 2021, ISBN 978-3-16-159797-8, S. 1 ff.
  9. BGH, Urteil vom 14. Oktober 1958, Az. VIII ZR 118/57 = NJW 1958, 2067.
  10. Aristoteles: V. Buch, Abschnitt 14
  11. Heinrich Dieterich: Über die Billigkeit bei Entscheidung der Rechtsfälle. 1804, S. 26 (books.google.de).
  12. Johann B. Mayer: Synonymisches Handwörterbuch der deutschen Sprache. 1837, S. 448 (books.google.de)
  13. Barbara Stickelbrock: Inhalt und Grenzen richterlichen Ermessens im Zivilprozess. 2002, S. 300 ff. (books.google.de).
  14. Barbara Stickelbrock: Inhalt und Grenzen richterlichen Ermessens im Zivilprozess. 2002, S. 304 (books.google.de).
  15. BGH, Urteil vom 2. April 1964, Az. KZR 10/62, Volltext = BGHZ 41, 271.
  16. Staudinger-Rieble, BGB, § 315, Rn. 117.
  17. BGH, Urteil vom 28. März 2007, Az. VIII ZR 144/06, Volltext.
  18. BGH, Urteil vom 10. Oktober 1991, Az. III ZR 100/90, Volltext wegen tariflicher Abwasserentgelte.
  19. BGH, Urteil vom 19. November 2008, Az. VIII ZR 138/07, Volltext.
  20. BGH, Urteil vom 13. Juni 2007, Az. VIII ZR 36/06, Volltext.
  21. a b BGH, Urteil vom 6. März 1986, Az. III ZR 195/84, Volltext = BGHZ 97, 212.
  22. Walter Hadding, Klaus Hopt, Herbert Schmimansky: Entgeltklauseln in der Kreditwirtschaft. 2002, S. 129 (books.google.de).
  23. BGH, Urteil vom 10. Juni 2008, Az. XI ZR 211/07, Volltext.
  24. BGH, Urteil vom 13. April 2010, Az. XI ZR 197/09, Volltext.
  25. Duden: Billigkeit