Boltzmann-Gehirn

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Ludwig Boltzmann, Namensgeber des Boltzmann-Gehirns (1902)

Das Boltzmann-Gehirn (auch Freak-Beobachter[1]) ist ein reductio ad absurdum eines Vorschlags des österreichischen Physikers Ludwig Boltzmann, der erklären sollte, wie mittels der zeit-symmetrischen Gesetze der Physik der asymmetrische Zeitpfeil erklärt werden kann. Das Phänomen der Boltzmann-Gehirne wurde erstmals von Bronstein und Landau im Jahre 1933 formuliert,[2] es gewann jedoch im 21. Jahrhundert aufgrund neuer kosmologischer Modelle und der beschleunigten Expansion des Universums wieder an Bedeutung.

Das Problem des Zeitpfeils und Boltzmanns Lösung

Wir beobachten tagtäglich irreversible physikalische Prozesse. Die Gesetze der Physik sind jedoch (bis auf gewisse Ausnahmen wie beispielsweise der Kollaps der Wellenfunktion) allesamt zeit-symmetrisch, verhalten sich also in die Zukunft gerichtet identisch wie in die Vergangenheit gerichtet. Boltzmann ging davon aus, dieses Problem durch das zweite Gesetz der Thermodynamik gelöst zu haben. Dieses besagt nämlich, dass die Entropie eines geschlossenen physikalischen Systems mit „geringer Entropie“ mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ (eine genaue Definition dieses Begriffs ist für diesen Abschnitt zu lang) in der Zukunft in einen Zustand hoher Entropie übergeht.[3] Doch dieses Gesetz ist auch zeit-symmetrisch, denn dasselbe Phänomen tritt auch in der Vergangenheit auf. Es ist also als solches nicht in der Lage, irreversible Prozesse zu erklären. Boltzmann selbst lieferte zu diesem zusätzlichen Problem mehrere Lösungsvorschläge, darunter:[4]

  1. Das Universum befand sich vor einiger Zeit wegen einer zufälligen Fluktuation in einem Zustand sehr tiefer Entropie. Unsere Beobachtungen irreversibler Prozesse sind Manifestationen der Rückkehr dieses Zustands tiefer Entropie zum thermodynamischen Gleichgewicht. Zu Zeiten von Boltzmann gab es keine Relativitätstheorie und man ging von einem statischen Universum aus. In einem solchen scheint dieser Vorschlag aufgrund des Fluktuationstheorems äußerst sinnvoll.
  2. Das Universum befand sich kurz nach dem Urknall (die ursprüngliche Formulierung von Boltzmann war anders, da er nichts von einem Urknall wusste) in einem Zustand sehr tiefer Entropie. Seitdem finden irreversible Prozesse statt, da sich diese Entropie fortwährend erhöht.

Das Problem des ersten Lösungsvorschlages

Der erste Vorschlag leidet nun unter dem Problem der Boltzmann-Gehirne. Wie Richard Feynman beispielsweise 1965 beschrieb,[5] ist eine Fluktuation, die einen intelligenten Beobachter (also beispielsweise einen Menschen) hervorruft, mit hoher Wahrscheinlichkeit so, dass sich die Umgebung dieses Beobachters in vollständigem Chaos befindet. Der erste Vorschlag von Boltzmann unterstützt also nicht nur ungewollt den Solipsismus (da beispielsweise gemäß diesem Vorschlag alle Erinnerungen dieses Beobachters höchstwahrscheinlich nur das Ergebnis einer zufälligen Fluktuation sind), er macht auch die falsche Vorhersage, dass die von uns beobachtete Entropie sehr hoch ist. Somit ist der erste Vorschlag falsifiziert.

(Es sei noch bemerkt, dass, je nachdem, welche a-priori-Wahrscheinlichkeiten postuliert werden, sich der erste Vorschlag möglicherweise nicht so leicht falsifizieren lässt.[6] Doch in jedem Fall steht fest, dass das erste Postulat epistemologisch unvereinbar ist mit anderen Postulaten (wie beispielsweise den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie, der Atomistik und der Thermodynamik), welche benötigt werden, um diesen Lösungsvorschlag überhaupt zu formulieren. Also kann dieser Lösungsvorschlag nicht als richtig angenommen werden.)

Probleme des zweiten Lösungsvorschlages

Der englische Mathematiker Roger Penrose hat die Wahrscheinlichkeit dafür abgeschätzt, dass die Anfangsbedingungen des Universums genau so sind, wie sie sind, falls sie zufällig ausgewählt wurden:[7] Sie beträgt 1 zu .[7] Dies scheint auf den ersten Blick ein großes Problem des zweiten Lösungsvorschlages zu sein, da er unglaublich unwahrscheinlich zu sein scheint. Doch bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass man nicht schlussfolgern kann, dass der zweite Lösungsvorschlag unwahrscheinlich ist, ohne einen Kategorienfehler zu begehen. Denn die Anfangsbedingungen des Universums unterliegen keineswegs den statistischen Postulaten der mikroskopischen statistischen Mechanik.[8] Es gibt keinen physikalischen, philosophischen (oder sonstigen) Grund anzunehmen, dass die Anfangsbedingungen zufällig gewählt wurden.[9]

Es gibt heutzutage allerdings keinen Konsens, ob und wie sich das zweite Gesetz der Thermodynamik auf das gesamte Universum anwenden lässt, ob und wie es sich mit der Gravitation vereinigen lässt, und ob der zweite Vorschlag von Boltzmann unter Einbezug der Gravitation überhaupt wohl-definiert ist.[3] Zudem gibt es keinen vollständigen Konsens, ob und wie sich der zweite Vorschlag sinnvoll durch Argumente aus der Kosmologie ableiten lassen kann.[3] Ein kontroverser Mechanismus, der eine solche Ableitung ermöglichen könnte, ist die Inflation.[10]

Rückkehr der Boltzmann-Gehirne

Das Problem der Boltzmann-Gehirne gewann in den letzten 20 Jahren wieder an Bedeutung, da sich, unter gewissen, spekulativen,[11] (und umstrittenen[12]) Annahmen in der Quantenfeldtheorie und einer gewissen Interpretation des holografischen Prinzips ableiten lässt, dass sich in der fernen Zukunft des Universums zahlreiche Boltzmann-Gehirne formen werden.[13] Der Physiker Sean M. Carroll argumentierte beispielsweise, dass sich physikalische Modelle falsifizieren lassen, falls sie die Formierung von Boltzmann-Gehirnen vorhersagen.[14]

Siehe auch

Literatur

  • Dennis Overbye: Big Brain Theory: Have Cosmologists Lost Theirs? In: The New York Times. 15. Januar 2008 (nytimes.com [abgerufen am 16. Oktober 2019]).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Boltzmann-Hirne, Teil 1: Warum es Dich höchstwahrscheinlich gar nicht gibt. In: scienceblogs.de. 6. August 2019, abgerufen am 16. Oktober 2019 (deutsch).
  2. On The Second Law Of Thermodynamics And The Universe. In: Collected Papers of L.D. Landau. 1965, S. 69–72, doi:10.1016/B978-0-08-010586-4.50016-X (sciencedirect.com [abgerufen am 23. Mai 2021]).
  3. a b c The “Past Hypothesis”: Not even false. In: Studies in History and Philosophy of Science Part B: Studies in History and Philosophy of Modern Physics. Band 37, Nr. 3, 1. September 2006, ISSN 1355-2198, S. 399–430, doi:10.1016/j.shpsb.2006.03.002 (sciencedirect.com [abgerufen am 23. Mai 2021]).
  4. Ludwig Boltzmann: Zu Hrn. Zermelo’s Abhandlung „Ueber die mechanische Erklärung irreversibler Vorgänge”. In: Annalen der Physik. Band 296, Nr. 2, 1897, ISSN 1521-3889, S. 392–398, doi:10.1002/andp.18972960216 (wiley.com).
  5. Richard P. Feynman: The character of physical law. M.I.T. Press, Cambridge, Mass. 1965, ISBN 0-262-06016-7.
  6. Eric Winsberg: Bumps on the Road to Here (from Eternity). In: Entropy. Band 14, Nr. 3, März 2012, S. 390–406, doi:10.3390/e14030390 (mdpi.com [abgerufen am 24. Mai 2021]).
  7. a b Riedochse: Boltzmann-Gehirne – Das Introversum. In: introversum.de. 3. April 2016, abgerufen am 16. Oktober 2019 (deutsch).
  8. Miles Alexander Dawborne: Explaining Low Entropy: An Examination of the Efficacy of Cosmological Explanations for the Second Law of Thermodynamics. 2014, doi:10.7916/d8057fwf (Columbia University).
  9. S. Hossenfelder: Screams for Explanation: Finetuning and Naturalness in the Foundations of Physics. 7. Januar 2018, doi:10.1007/s11229-019-02377-5.
  10. Sabine Hossenfelder: Sabine Hossenfelder: Backreaction: Inflation: Status Update. In: Sabine Hossenfelder. 8. März 2019, abgerufen am 23. Mai 2021.
  11. Krauss on Boltzmann Brains | Not Even Wrong. Abgerufen am 23. Mai 2021 (amerikanisches Englisch).
  12. Urban Myths in Contemporary Cosmology. In: The n-Category Café. Abgerufen am 24. Mai 2021 (englisch).
  13. Lisa Dyson, Matthew Kleban, Leonard Susskind: Disturbing Implications of a Cosmological Constant. 1. August 2002, doi:10.1088/1126-6708/2002/10/011.
  14. S. M. Carroll: Why Boltzmann brains are bad. Ithaca NY 2017; arxiv:1702.00850.