Boris Andrejewitsch Pilnjak
Boris Andrejewitsch Pilnjak (russisch:
, eigentlich Boris Andrejewitsch Wogau; * 29. Septemberjul. / 11. Oktober 1894greg. in Moschaisk; † 21. April 1938 in Moskau) war ein sowjetischer russischsprachiger Schriftsteller.
Leben
Pilnjak wurde als Sohn eines Tierarztes geboren. Sein Vater war wolgadeutscher Abstammung, jedoch in seiner russischen Umgebung assimiliert; die Mutter stammte aus einer Saratower Kaufmannsfamilie.
Kindheit und Jugend verbrachte er in den russischen Städten Saratow, Bogorodsk, Nischni Nowgorod und Kolomna. Die ersten Schreibversuche unternahm er schon mit neun Jahren, im März 1909 veröffentlichte eine Zeitschrift ein frühes Werk. 1913 schloss er das Realgymnasium in Nischni Nowgorod ab, 1920 machte er seinen Abschluss an der Moskauer Handelsakademie.
Seine Karriere als Schriftsteller begann er 1915, als eine Reihe von Zeitschriften Erzählungen veröffentlichten. Seit diesem Zeitpunkt benutzte er das Pseudonym Pilnjak – ein regionaler Ausdruck für Waldarbeiter. Im Jahr 1918 erschien seine erste Sammlung von Erzählungen unter dem Titel Mit dem letzten Dampfer (
). Er selbst hielt von diesem Erstling nicht viel, nur die Erzählungen Über der Schlucht (
) und Tode (
) schloss er später regelmäßig in Gesamtausgaben seiner Werke ein. Den aus dem Jahr 1920 stammenden Sammelband Gewesenes (
) bezeichnete Pilnjak als den „ersten Erzählband über die Sowjetrevolution in der RSFSR“. Etliche Erzählungen aus diesem Werk gingen als selbständige Kapitel in den 1922 veröffentlichten Roman Nacktes Jahr (
) ein. 1922 fuhr er mit Billigung der bolschewistischen Kulturpolitiker nach Berlin, um dorthin emigrierte Schriftsteller zur Rückkehr nach Sowjetrussland zu überreden. Er wohnte bei Alexei Remisow, einem der prominenteren Emigranten, der allerdings das Rückkehrangebot ignorierte.[1] 1926 erregte Pilnjak erstmals das Missfallen der Parteiführung um Stalin, da er in seiner Erzählung Die Geschichte vom nichtausgelöschten Mond (
) das Gerücht aufgriff, der Tod des Armeeführers Michail Frunse bei einer Magenoperation sei gezielt aufgrund einer Geheimanweisung Stalins herbeigeführt worden.[2] 1929 fiel seine Erzählung Mahagoni (Krasnoje Derewo), die das Leben in der russischen Provinz schildert, in der Sowjetunion der Zensur zum Opfer. Der Fall wurde international diskutiert; Maxim Gorki und Henri Guilbeaux mischten sich ein.[3]
1934 gehörte Pilnjak zu den Autoren einer Gemeinschaftspublikation unter Maxim Gorki als Herausgeber, die die Zwangsarbeit beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals verherrlichte und die an die Teilnehmer des 17. Parteitags der KPdSU verteilt wurde. 1937 wurde das Buch in der Sowjetunion verboten und aus dem Verkehr gezogen.
Pilnjak wurde am 28. Oktober 1937 verhaftet und am 21. April 1938 von der Militärkammer des Obersten Gerichts der UdSSR unter fingierter Anklage (Spionage für Japan) wegen Verbrechen gegen den Sowjetstaat zum Tode verurteilt. Ihm wurde auch vorgeworfen, Trotzkist zu sein; in der Tat hatte er freundschaftliche Kontakte zu Lew Trotzki gepflegt.[4] Das Urteil wurde am gleichen Tag in Moskau durch Erschießen vollstreckt. Nach Recherchen der russischen Gesellschaft Memorial befinden sich Pilnjaks sterbliche Überreste in einem vom Zentralapparat des NKWD bei Kilometer 24 der Kalugaer Chaussee (
) in der Nähe der ehemaligen Moskauer Sowchose Kommunarka (
) eingerichteten Massengrab zusammen mit denen von rund 6.500 anderen Opfern des Stalinschen Terrors.[5] An diesem Platz wurden hingerichtete Mitglieder der sowjetischen Elite begraben.
Rezeption in Russland
Die Geschichte vom nichtausgelöschten Mond gehörte zu den ersten Texten, die seit Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts im sowjetischen Samisdat kursierten. Pilnjak wurde zwar als Opfer der Stalinzeit 1956 rehabilitiert. Doch die erste Auswahl seiner Werke nach seinem Tod in der Sowjetunion gab es erst 1976 – das ZK der KPdSU hatte 1956 beschlossen, Pilnjaks Werke seien nicht zeitgemäß und eine Publikation komme erst nach zwanzig Jahren in Frage.
Das Manuskript zu seinem letzten Roman Der Salzspeicher, in dem er eine gelingende kommunistische Revolution aus Sicht der einfachen Bevölkerung skizziert, wurde durch seine erste Frau Maria Sokolowa gerettet und erst 1964 im Zuge der kurzen Liberalisierung in der UdSSR der Öffentlichkeit auszugsweise zugänglich. Die erste vollständige Veröffentlichung erfolgte in Russland erst 1990.
Eine umfassende Edition von Pilnjaks Briefen erschien 2010 (siehe unten Pis'ma v 2 tomach, 758 Briefe, ca. 430 davon erstveröffentlicht).
Pilnjak wird sowohl in den Erinnerungen Ilja Ehrenburgs (Menschen – Jahre – Leben) wie Victor Serges (Erinnerungen eines Revolutionärs) wiederholt erwähnt. Mit Serge war er befreundet.
Werke
Schon früh im Visier der sowjetischen Zensurbehörden nutzte Pilnjak als einer der ersten sowjetischen Schriftsteller die Möglichkeit des Tamisdat: obwohl der Autor seinen Wohnsitz in Sowjetrussland hatte, erschien ein Teil seiner Werke in den zwanziger Jahren in russischen Berliner Exilverlagen.
In der Sowjetunion publiziert
- Todbringendes lockt (Смертельное манит) (1921, bereits 1922 durch die Politkontrolle der OGPU konfisziert)[6]
- Maschinen und Wölfe (Машины и волки) (1925)
- Die Geschichte vom nichtausgelöschten Mond (Повесть непогашенной луны) (1926 in «Новый мир», 1926, № 5)
- Die Wolga fällt ins Kaspische Meer (Волга впадает в Каспийское море) (1930)
- Die Wolga fällt ins Kaspische Meer. Übersetzung Erwin Honig. Darin: Karl Radek: Boris Pilnjaks Stellung in der sowjetrussischen Literatur, S. V–XXIII. Berlin : Neuer Deutscher Verlag, 1930
- OKAY (Amerikanischer Roman) (О’КЭЙ (Американский роман)) (1933)
Im Tamisdat veröffentlicht
- Gewesenes (Быльё); Reval 1922
- Stiefmütterchen (Иван-да-Марья); Berlin, S. J. Grschebin, 1922
- Nacktes Jahr (Голый год); Berlin, S. J. Grschebin, 1922
- Die Schneeflocke (Метелинка); Berlin, Ogonki, 1923
- Mahagoni (Красное дерево); Berlin, Petropolis, 1929
- Stoss ins Leben (Штосс в жизнь); Berlin, Petropolis 1929
Postum veröffentlicht
- Der Salzspeicher (Соляной амбар), 1990. Deutsch: Leipzig, 1993; ISBN 3-378-00543-2.
- Dagmar Kassek (Hrsg.): Boris Pilnjak. „… ehrlich sein mit mir und Rußland“. Briefe und Dokumente; Frankfurt a. M. 1994; ISBN 3-518-40649-3.
- Elf Kapitel eines klassischen Berichts (Одиннадцать глав классического повествования), 1989. Deutsch: Die Doppelgänger; 1998, ISBN 3-518-41004-0.
- B.A. Pil'njak. Pis'ma v 2 tomach. T. I: 1906-1922. T. II: 1923-1937. Sostavlenie, podgotovka teksta, predislovie i primečanija K.B. Andronikasvili i D. Kassek. Moskva: IMLI RAN, 2010.
- Mahagoni : Erzählungen, Nördlingen : Greno 1988, ISBN 978-3-89190-241-7, Reihe Die Andere Bibliothek.
Literatur
- Reinhard Damerau: Boris Pil’njaks Geschichts- und Menschenbild: biographische und thematische Untersuchungen; Osteuropa-Studien der Hochschulen des Landes Hessen 2/11; Gießen: W.Schmitz, 1976
- Adelheid Schramm: Die frühen Romane B. A. Pil’njaks: eine Untersuchung zur „ornamentalen Prosa“ der zwanziger Jahre; Forum Slavicum 44; München: Fink, 1976
- Peter A. Jensen: Nature as code: the achievement of Boris Pilnjak, 1915–1924; Studier/Københavns Universitets Slaviske Institut 6; Kopenhagen; Rosenkilde und Bagger, 1979
- Gary Browning: Boris Pilniak: scythian at a typewriter; Ann Arbor: Ardis, 1985; ISBN 0-88233-888-9
- Mary Ann Nicholas: Boris Pilniak’s modernist prose: reader, writer and image; Philadelphia: Pennsylvania University (Diss.), 1988
- Hee-Sok Kim: Verfahren und Intention des Kombinatorischen in B. A. Pilnjaks Erzählung „Ivan da Marja“; München: Sagner, 1989; ISBN 3-87690-453-6
- Woo-Seob Yun: Studien zu Boris Pilnjaks Krasnoe derevo und Volga vpadaet v Kaspijskoe more; München: Sagner, 1993; ISBN 3-87690-465-X
- Institut Mirovoj Literatury Imeni A. M. Gor’kogo (Hrsg.): Boris Pil’njak: opyt segodnjasnego proctenija; (po materialam naucnoj konferencii, posvjascennoj 100-letiju so dnja rozdenija pisatelja); Moskau: Nasledie, 1995
- Witali Schentalinski: Das auferstandene Wort. Verfolgte russische Schriftsteller in ihren letzten Briefen, Gedichten und Aufzeichnungen. Aus dem Russischen von Bernd Rullkötter. Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe 1996, S. 269–316; ISBN 3-7857-0848-3
- Natalie Kromm: Boris Pil’njaks Poetik des Selbstzitats in den 30er Jahren; Slavische Literaturen 34; Frankfurt am Main: Lang, 2005; ISBN 3-631-54071-X
- Andrey Bogen: "Erzählformen bei Boris Pilnjak im Kontext der russischen klassischen Tradition"; Hamburg 2012.
Weblinks
- Literatur von und über Boris Andrejewitsch Pilnjak im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Lebenslauf auf der Webseite Antologie des Samisdat (russisch)
- Leben und Werk aus sozialistischer Sicht aus der russischen Literaturenzyklopädie (Литературная энциклопедия) in elf Bänden Moskau 1929-1939
- Biographie auf peoples.ru (russisch)
- Biographie auf gulag.memorial.de (deutsch) mit Foto gemeinsam mit seiner Schwester
- Erzählungen von Pilnjak online (russisch)
- Pilnjaks Biographie auf der russischen Online-Enzyklopädie krugosvet.ru
- Artikel Boris Andrejewitsch Pilnjak in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie (BSE), 3. Auflage 1969–1978 (russisch)
Einzelnachweise
- ↑ Vstreči s prošlym. Vypusk 7. Moskau 1990, S. 176, 189.
- ↑ Wolfgang Kasack: Lexikon der russischen Literatur ab 1917 (= Kröners Taschenausgabe. Band 451). Kröner, Stuttgart 1976, ISBN 3-520-45101-8, S. 223.
- ↑ Henri Guilbeaux: Der Fall Boris Pilniak. Die Weltbühne 1929, II. Hj., S. 588–592
- ↑ Boris Frezinskij: Pisateli i sovetskie voždi. Moskau 2008, S. 72.
- ↑ Пильняк-Вогау Борис Андреевич (1894). In: Liste der Opfer politischer Repression 1917–1991. Abgerufen am 28. Oktober 2020 (russisch).
- ↑ Alexander Nikolajewitsch Jakowlew (Hrsg.): Власть и художественная интеллигенция. Документы ЦК РКП(б) – ВКП(б), ВЧК – ОГПУ – НКВД о культурной политике. 1917–1953; Verlag Материк Moskau 2002; ISBN 5-85646-040-5
Personendaten | |
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NAME | Pilnjak, Boris Andrejewitsch |
ALTERNATIVNAMEN | Борис Андреевич Пильняк; Wogau, Boris Andrejewitsch (wirklicher Name) |
KURZBESCHREIBUNG | russischer Autor und Dichter |
GEBURTSDATUM | 11. Oktober 1894 |
GEBURTSORT | Moschaisk bei Moskau |
STERBEDATUM | 21. April 1938 |
STERBEORT | Moskau |