Charcot-Fuß

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Charcot-Fuß bei Diabetes im Verlauf von 2 Jahren.
Klassifikation nach ICD-10
M14.6*[1] Neuropathische Arthropathie
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Der Charcot-Fuß ist eine Erkrankung schmerzunempfindlicher Füße, bei der Knochen unbemerkt brechen, ohne dass die Betroffenen Frakturschmerzen empfinden. 95 % Prozent aller Patienten sind Diabetiker und über 60 Jahre alt. Der Charcot-Fuß ist eine von mehreren Krankheiten, die unter dem Oberbegriff Diabetisches Fußsyndrom zusammengefasst sind. Benannt ist die Krankheit nach dem Neurologen Jean-Martin Charcot. Ein anderer Begriff, der auf die Ursache der Erkrankung hinweist, ist Neuroarthropathie. Zuerst beschrieben wurde die Neuroarthropathie des Fußes vom englischen Arzt Herbert William Page 1881.[2] Erstmals verwendet wurde der Begriff Charcot-Fuß (Charcot's foot) von Ralph H. Major in der amerikanischen Fachzeitschrift JAMA am 17. Mai 1928 auf S. 846.

Ursachen für eine Neuroarthropathie

Häufigkeit des Charcot-Fußes bei Diabetes mellitus

Der Charcot-Fuß ist eine sehr seltene Erkrankung, wie eine Untersuchung in Dänemark gezeigt hat. Von allen Menschen mit Diabetes haben demnach 0,56 % einen Charcot-Fuß (Prävalenz), und erkranken 0.074% pro Jahr neu an Charcot-Fuß (Inzidenz).[3] Statistisch gesehen hätte demnach eine Hausarztpraxis mit 2000 Patienten (darunter 100 Diabetes-Patienten) nur 0–1 Patienten mit Charcot-Fuß, und würde alle 13 Jahre mit einem neuen Fall konfrontiert. Eine große Diabetes-Ambulanz mit 10.000 Diabetespatienten dagegen hätte unter ihnen 56 Patienten mit Charcot-Fuß und würde pro Jahr 7 neue Fälle sehen. Bei denjenigen Menschen mit Diabetes mellitus, bei denen eine diabetische Neuropathie mit Verlust der Schmerzsensibilität der Füße besteht, ist die Inzidenz schätzungsweise um den Faktor 10 erhöht.[4]

Entstehung der Erkrankung

Bis heute ist die Entstehung nicht genau geklärt. Voraussetzung ist der Verlust der Schmerzsensibilität der Füße. Ausgelöst wird das Krankheitsbild durch eine Skelettverletzung (Trauma). Die neurovaskuläre Theorie beschreibt eine durch eine nervliche Fehlsteuerung hervorgerufene verstärkte Durchblutung und einen verstärkten Knochenabbau. Die neurotraumatische Theorie besagt, dass es bei fehlender Schmerzwahrnehmung durch Überlastung zu wiederholten minimalen Verletzungen der Gelenkflächen kommt, die dann in eine zunehmende Zerstörung des Knochens übergehen, da auch diese zunehmenden Schäden als kaum bis nicht schmerzhaft wahrgenommen werden. Da kein gewöhnliches Schmerzempfinden vorhanden ist, belasten die Betroffenen den gebrochenen Fuß weiter und konsultieren erst einen Arzt, wenn Schwellung, Rötung und Fehlstellung sehr ausgeprägt sind, doch Schmerzen auftreten oder es im Verlauf zu ebenfalls schmerzlosen Durchspießungen der Haut durch Knochenfragmente kommt.

Das aktive Krankheitsstadium repräsentiert somit ein chronisch-repetitives „low-energy“ Frakturgeschehen durch fortgesetzte submaximale Belastung (Gehen); als Begleiterscheinung sind entzündliche Zytokine (u. a. verschiedene Interleukine, TNF-alpha) erhöht.[5] Durch Immobilisation und Entlastung wird es in das inaktive Stadium überführt (Defektheilung), d. h. es kommt zur sekundären (Gelenk-)Fraktur-Heilung mit Gelenkversteifung(en) und Deformierung(en). Die Zytokin-Erhöhungen klingen ab.[6]

Diagnostik

Geschwollener, schmerzunempfindlicher rechter Fuß ohne Hautverletzung bzw. Infektion bei Diabetes mellitus (Röntgenbild unauffällig)
Geschwollener, schmerzunempfindlicher rechter Fuß ohne Hautverletzung bzw. Infektion bei Diabetes mellitus, zugehörige Magnetresonanztomographie (hell: Knochenmarködem im Bereich der Fußwurzelknochen)
  • Anamnese: Als auslösendes Trauma wird -soweit erinnerlich- oft eine banale Verletzungen angegeben, z. B. eine Verstauchung (Distorsion). Werden Schmerzen angegeben, widersprechen sie dem eigenen Schmerzverständnis des Untersuchers.
  • Inspektion: Im frühen aktiven Stadium ist der Fuß teilweise oder ganz entzündlich geschwollen und gerötet, ohne dass eine Infektion (z. B. eine Wundrose oder eine Phlegmone) besteht. Selten sind beide Füße gleichzeitig betroffen. Im fortgeschrittenen aktiven Stadium ist der Fuß heiß, gerötet, geschwollen und deformiert, teils auch mit offenen Wunden an Knochenvorsprüngen. Im inaktiven, d. h. ausgeheilten Stadium sind keine klinischen Entzündungszeichen wie Rötung, Schwellung und Überwärmung mehr vorhanden- etwaige Skelett-Deformierungen bestehen fort.[7]
  • Untersuchung: Haut trocken, fehlende Schweißsekretion (und fehlender Schweißgeruch), Hyperkeratosen, überwärmt (Temperaturdifferenz zur Gegenseite > 1 °C), die Bewegung des Fußes ist in allen Gelenken trotz der teils drastischen Fehlstellungen schmerzlos, offene Wunden, auch wenn vereitert, können schmerzlos mit chirurgischen Instrumenten untersucht werden. Der andere Fuß erscheint oft vollständig unauffällig, zeigt aber ebenfalls eine völlige Gefühllosigkeit. In seltenen Fällen können jedoch auch beide Füße erkrankt sein.
  • Quantitative sensorische Testung (QST): die Wahrnehmungsschwellen für thermische und mechanische Schmerzreize (Schmerzschwellen) sind erhöht[8]
  • Bildgebung: Röntgendiagnostik, Computertomographie, Kernspintomographie/Magnetresonanztomografie[9] eventuell eine Leukozytenszintigraphie, um den Verdacht auf eine Osteomyelitis auszuschließen. Eine allein auf konventionellen Röntgenbildern basierende Diagnostik wird heutzutage vom Oberlandesgericht Köln als unzureichend angesehen.[10] Das konventionelle Röntgenbild diagnostiziert geschlossene Fußfrakturen nur ungenau: übersehen werden 43 % der Metatarsalfrakturen bzw. 76 % der Tarsalfrakturen (Goldstandard: Magnetresonanztomografie, CT).[11]

Einteilung

Die Beurteilung des Charcot-Fußes erfolgt zum einen nach dem klinischen Befund und dem radiologisch darstellbaren Verlauf (Einteilung nach Eichenholtz und Levin), zum anderen nach Befall der knöchernen Strukturen (Einteilung nach Sanders und Frykberg).[12]

Stadieneinteilung der diabetischen, neuropathischen Osteoarthropathie (DNOAP) nach Eichenholtz und Levin
Verlaufsstadium Radiologische Zeichen Klinische Zeichen
0 Initialstadium Röntgen-nativ: unauffällig
MRT: Knochenmarködem
schmerzlose Weichteilschwellung und -Rötung ohne Anhalt für Infektion. Akutes, aktives Stadium
I Destruktionsstadium

Ia Fragmentationsphase

Ib Luxationsphase
Röntgen/MRT:
Demineralisation
Osteolyse
ossäre Fragmentation
Gelenkdestruktion
Zeichen der Entzündung (Schwellung, Rötung, Überwärmung)
Gelenkdeformation durch Gelenkerguss
Gelenkinstabilität
zunehmende Ausbildung der Fußdeformität
Aktives Stadium
II Reparationsstadium Remineralisierung
Fragmentresorption
Knochenneubildung
(Bildung von Osteophyten, Kallus, Sklerosierung)
Schwellung, Rötung, Überwärmung bilden sich zurück
III Konsolidierungsstadium knöcherne Fusion mit Gelenkeinsteifung (Ankylose) bleibende Fußdeformität. Inaktives Stadium
IV Ulkusstadium deformiertes Fußskelett deformierter Fuß mit hohem Risiko der Ulkusbildung und Gefahr der Wundinfektion, Fuß ist schmerzlos
Lokalisation der DNOAP nach Sanders und Frykberg
Typ Befallene Struktur Häufigkeit
I Interphalangealgelenke, Metatarso-Phalangealgelenke, Metatarsalia 10–30 %
II Tarso-Metatarsalgelenke 15–48 %
III Navikulo-Kuneiforme-Gelenke, Talo-Navikulargelenk, Kalkaneo-Kuboid-Gelenk 32 %
IV Sprunggelenke 10 %
V Kalkaneus 2 %

Therapie

  • Ein akuter Charcot-Fuß ist ein dringender Notfall, der sofortiger kompletter Druckentlastung und Behandlung in einer spezialisierten Einrichtung bedarf.[13]
  • Zunächst vollständige Ruhigstellung (das bedeutet zu Beginn der Diagnostik und Therapie eine stationäre Behandlung)
  • Nach Abklingen der Akutphase Anpassen eines Gipsverbandes, einer Zwei-Schalen-Orthese oder eines speziellen starren Kunststoffverbandes (Total Contact Cast)[14] bis zur kompletten Abheilung der Knochenzerstörungen, teils notwendigerweise auch in funktioneller Fehlstellung.
  • Danach Tragen eines speziellen orthopädischen Schuhes mit steifer Laufsohle und sogenannter Vorfußrolle.[15]
  • In einigen Fällen kann eine Amputation des Fußes notwendig sein.[16] In diesem Fall wird eine Unterschenkelorthese angefertigt, mit der der Ortheseschuh getragen werden kann.
  • Normalisierung des Zuckerstoffwechsels durch adäquate Therapie des Diabetes mellitus hat kaum Einfluss auf die Abheilung
  • Schulung des Patienten

Kontrolle des Behandlungserfolgs mit Magnetresonanztomografie (MRT)

Die Kontrolle des Heilungsverlaufs mittels MRT hat zu beachten, dass der frische Frakturkallus in der ersten Phase der sogenannten sekundären Frakturheilung unter dem MRT-Bild des „Knochenmarködems“ verläuft und daher kaum von dem „Knochenmarködem“ der akuten Knochenverletzung zu unterscheiden ist (allenfalls durch geringere entzündliche Schwellung der umgebenden Weichteile). Es muss also bei „Knochenmarködem“ immer differenziert werden, ob es sich um eine heilungsbedingte oder verletzungsbedingte Erscheinung handelt.[17] Bei Knochenverletzungen, die auf Mikrotrabekeln der Spongiosa beschränkt sind (ohne Verletzung der Kortikalis), ist eher mit primärer Heilung zu rechnen (ohne Kallusbildung) und kontinuierlichem Rückgang des „Knochenmarködems“. Bei Verletzungen der Kortikalis ist sekundäre Heilung mit Bildung von Frakturkallus zu erwarten und diskontinuierlicher Rückgang (d. h. mit vorübergehender Zunahme) des „Knochenmarködems“. Zunahme des „Knochenmarködems“ kann auch die Folge von neuerlicher akuter Knochenverletzung sein, als Folge zu früher Beendigung der Immobilisationsbehandlung.

Prominente Patienten

Ein prominenter Kranker war der französische Maler Édouard Manet (1832–1883). Er litt an unheilbarer Neurolues mit Ataxie seit Ende der 1870er Jahre. Nachdem er Ende 1878 oder Anfang 1879 mit dem linken Fuß umgeknickt war und er nicht mehr viel gehen konnte, untersagte ihm sein Arzt Dr. Siredey 1880 das Treppensteigen. Er humpelte nur noch, er musste sich auf einen Stock stützen, fühlte sich als „Krüppel“ wahrgenommen. Im Herbst 1882 setzte Manet sein Testament auf, denn offenbar hatten sich Geschwüre und Knochenfraß gebildet und seinen Allgemeinzustand verschlechtert. Als der Fuß ‚brandig‘ wurde und Sepsis drohte, wurde am 20. April 1883 das linke Bein amputiert. Am 30. April starb der Maler an den Folgen des Eingriffs.[18][19]

Literatur

  • Franz X. Köck, Bernhard Koester: Diabetisches Fußsyndrom. Thieme, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-13-140821-1. (Medizinisches Lehrbuch)
  • H. Reike: Diabetisches Fuß-Syndrom: Diagnostik und Therapie der Grunderkrankungen und Komplikationen. de Gruyter, Berlin 1998, ISBN 3-11-016215-6.
  • Ludger Poll, Ernst Chantelau: Charcot-Fuß: Auf die frühe Diagnose kommt es an. In: Deutsches Ärzteblatt. Band 107, Nr. 7, 2010, S. A-272 (aerzteblatt.de [abgerufen am 13. Oktober 2016]).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Alphabetisches Verzeichnis zur ICD-10-WHO Version 2019, Band 3. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), Köln, 2019, S. 149.
  2. Lee J. Sanders, Michael E. Edmonds, William J. Jeffcoate: Who was first to diagnose and report neuropathic arthropathy of the foot and ankle: Jean-Martin Charcot or Herbert William Page? In: Diabetologia. Band 56, Nr. 9, 1. September 2013, S. 1873–1877, doi:10.1007/s00125-013-2961-6.
  3. Ole Lander Svendsen, Oliver Christian Rabe, Matilde Winter-Jensen and Kristine Højgaard-Allin: How Common is the Rare Charcot Foot in Patients With Diabetes ? (pdf) In: Diabetes Care Volume 44,April 2021, e62. 2021, S. 2, abgerufen am 16. August 2021.
  4. nach AOK Disease-Management-Programm Typ2 Diabetes Abschlussbericht 2007
  5. That Minh Pham, Lars Henrik Frich, Kate Lykke Lambertsen, Søren Overgaard, Hagen Schmal: Elevation of Inflammatory Cytokines and Proteins after Intra-Articular Ankle Fracture: A Cross-Sectional Study of 47 Ankle Fracture Patients. In: Mediators of Inflammation. 2021, 8897440, doi:10.1155/2021/8897440.
  6. N.L.Petrova, T.Dew , R.Musto, S.Thompson, R.Sherwood, C.Moniz, M.Edmonds: The proinflammatory cytokines IL-6 and TNF-alpha fall significantly after 3 months of casting in patients with Charcot osteoarthropathy and severe bone and joint destruction. Abstract 01. In: Volume of Abstracts, Diabetic Foot Study Group. 2010.
  7. Ernst A. Chantelau, Gotthard Grützner: Is the Eichenholtz classification still valid for the diabetic Charcot foot? Swiss Medical Weekly, smw.ch, 24. April 2014, abgerufen am 29. März 2016.
  8. Ernst A.Chantelau: Nociception at the diabetic foot, an uncharted territory. In: World Journal of Diabetes. Band 6, 2015, S. 391–402 (wjgnet.com [abgerufen am 23. November 2016]).
  9. R. Ramnarine, A. Isaac, L. M. Meacock, N. Petrova, M. Edmonds, D. A. Elias: A novel semi-quantitative scoring proforma in the assessment of radiological resolution of the acute diabetic Charcot foot. (posterng.netkey.at)
  10. Barbara Berner: Rechtsreport. Haftung eines Durchgangsarztes. In: Deutsches Ärzteblatt. Jg. 116, Heft 15, 12. April 2019, S. C 606 (aerzteblatt.de [abgerufen am 15. Mai 2019]).
  11. G. Peicha, K. W. Preidler, G. Lajtai, F. J. Seibert, W. Grechenig: Diagnostische Wertigkeit von Nativröntgen, Computer- und Magnetresonanztomographie beim akuten Hyperflexionstrauma des Fußes. In: Unfallchirurg. Band 104, 2001, S. 1134–1139.
  12. Joachim Grifka (Hrsg.): Diabetisches Fußsyndrom. Verlag Georg Thieme, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-13-140821-1.
  13. nice.org.uk
  14. Wolf-Rüdiger Klare u. a.:Total Contact Cast: Effektiv in der Behandlung Diabetischer Fußulzera. (PDF; 2,2 MB)
  15. Ernst Chantelau, Uwe Rhefus: Praktische Anleitung zur Behandlung und Schuhversorgung des Charcot-Fußes. In: E.Chantelau (Hrsg.): Diabetische Füße und ihre Schuhversorgung. 2. Auflage. De Gruyter, Berlin 2010, ISBN 978-3-11-021943-2, S. 73–83.
  16. deutsche-diabetes-gesellschaft.de (Memento vom 23. September 2015 im Internet Archive) (PDF; 1,9 MB) DDG Praxis-Leitlinie Diabetisches Fußsyndrom 2010.
  17. Ernst-Adolf Chantelau, Sofia Antoniou, Brigitte Zweck, Patrick Haage: Follow up of MRI bone marrow edema in the treated diabetic Charcot foot – a review of patient charts. In: . Diabetic Foot & Ankle. 2018, abgerufen am 15. Mai 2019.
  18. Réunion des Musées Nationaux Paris, Metropolitan Museum of Art New York (Hrsg.): Manet. Ausstellungskatalog. deutsche Ausgabe: Frölich und Kaufmann, Berlin 1984, ISBN 3-88725-092-3.
  19. Antonin Proust: Édouard Manet, Erinnerungen. Berlin 1917.