Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen

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Die Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen (SbE) (in Österreich Stressverarbeitung nach belastenden Ereignissen oder SvE)[1] ist eine Reihe von Einzel- und Gruppengesprächstechniken, die sich an Einsatzkräfte, unter anderem aus Rettungsdiensten, Feuerwehren, Katastrophenschutz und Polizei wendet, aber auch auf andere homogene Gruppen übertragen werden kann, die beruflich bedingt gemeinsam einer potenziell traumatisierenden Situation ausgesetzt waren.

Neben der SbE existiert die ganz ähnliche Methode des Critical Incident Stress Management (CISM), nach Jeffrey T. Mitchell. Hier werden beide Methoden dargestellt.

Daneben existieren ähnliche Begriffe wie etwa Organisierte Personalbetreuung bei Extremeinsätzen und Nachsorge (OPEN) (siehe Notfallseelsorge) und die Psychosoziale Unterstützung für Einsatzkräfte (PSU).

Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen

Die SbE soll den Teilnehmern die Möglichkeit geben, das Erlebte zu verarbeiten und die Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu verhindern. SbE leistet damit für Einsatzkräfte in etwa das Gleiche wie die Krisenintervention im Rettungsdienst für Angehörige.

Häufig werden daher die beiden Begriffe synonym verwendet, obwohl das nicht zutrifft: Einsatzkräfte bleiben im Gegensatz zu Angehörigen in aller Regel für die Dauer des Einsatzes voll handlungsfähig und arbeiten ihr lange trainiertes Programm ab. Sie erleben die Traumatisierung durch einen Einsatz erst in der ersten Ruhephase nach dem Einsatzgeschehen.

Daher läuft die Nachbearbeitung des Einsatzes in mehreren Phasen ab: Noch am oder in der Nähe des Einsatzortes kann ein Einsatzabschluss (Demobilization) durchgeführt werden, bei dem vor allem Informationen über das Einsatzgeschehen und über mögliche Stressreaktionen im Vordergrund stehen. Diese Veranstaltung, die hauptsächlich psychoedukativen Charakter hat, richtet sich an größere Gruppen von Einsatzkräften (maximal 50), die nach ihrem Einsatz aus dem Dienst ausgelöst werden. Alternativ hierzu gibt es die Kurzbesprechung, die einige Stunden nach Ende des Einsatzes, zum Beispiel am Ende einer Dienstschicht, mit einer kleineren Zahl von Teilnehmern durchgeführt werden kann und in der mehr Raum für individuelle Interaktion ist. Nach einigen Tagen sollte bei gegebener Indikation eine Nachbesprechung (Debriefing) in einem geordneten Setting (Umgebung) erfolgen, in der die subjektiven Eindrücke und Erlebnisse der Teilnehmer thematisiert werden können. Diese Besprechungen werden von Teams aus psychosozialen Fachkräften und aus speziell geschulten Einsatzkräften (Peers) geführt.

Jeffrey Mitchell, der diese Nachsorgetechniken entwickelt hat, empfiehlt dabei, dass diese Person keiner der am Einsatz beteiligten Organisationen angehört, um höhere Vertraulichkeit zu wahren und zudem Eigeninteressen der Organisationen in der Nachbesprechung auszublenden.

Die Leistung SbE wird dabei teilweise von eigenen Organisationseinheiten angeboten, teilweise aber auch im Rahmen einer Notfallseelsorge angeboten. Einige Diözesen (katholische Verwaltungseinheiten) haben eigene Mitarbeiter, die ausschließlich für eine Seelsorge in Feuerwehr- und Rettungsdienst zuständig sind. Bei der Polizei wird diese Aufgabe häufig vom polizeipsychologischen Dienst übernommen.

Die Feuerwehr München zum Beispiel hat einen eigenen Peer-Berater-Dienst etabliert, der in kleinerem Rahmen ähnliche Aufgaben wahrnimmt.

In der Anfangszeit wurde SbE vor allem von Einsatzkräften aus Angst um das Image des "harten Kerls und Retters" kritisch betrachtet. Mittlerweile ist SbE nicht mehr wegzudenken, obwohl im Markt einige zweifelhafte Anbieter operieren.

SBE in der Luftfahrt

Zwischenzeitlich wurden auch bei mehreren Airlines, so zum Beispiel bei Lufthansa, Kriseninterventionsteams gebildet und eingesetzt. Das letzte Mal betreuten diese Teams von der Tsunamikatastrophe in Asien zurückgeholte Touristen, sowie eigene Kollegen, welche auf diesen Flügen als Crew eingesetzt waren. Auch bei dem Concorde-Absturz der Air France unterstützten Lufthansa-Reliefteams die französischen Kollegen bei der Betreuung der überwiegend deutschen Angehörigen.

Federführend in der deutschen Luftfahrt ist die Stiftung Mayday, welche in Not geratenen Piloten und deren Angehörigen unbürokratisch weiterhilft. Die Stiftung organisiert unter anderem auch CISM-Kurse. Gemeinsam mit Psychologen und Betroffenen unterhält die Stiftung Mayday ein Betreuungsnetz, das Flugbesatzungen nach kritischen und stark belastenden Vor- oder Unfällen zur Seite steht.

Critical Incident Stress Management

CISM steht im Englischen für Critical Incident Stress Management. Im deutschen Sprachgebrauch wird überwiegend der Begriff SbE (Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen) verwendet.

Definition eines Critical Incident beziehungsweise eines belastenden Ereignisses: „Jede Situation, die so ungewöhnlich starke emotionale Reaktionen hervorruft, dass die Funktionsfähigkeit der mit ihr konfrontierten Person beeinträchtigt wird“. Solche Situationen sind gekennzeichnet durch „Gefühle der Ohnmacht“, „Hilflosigkeit“ oder „Schuld“, eine „Identifikation mit dem Opfer“, „massive persönliche Betroffenheit“, „hohe Ereignisintensität“ oder eine „Bedrohung von eigenem Leib und Leben“.

Gemeint ist damit, dass diese Person unter Umständen nicht ohne weiteres „zurück zur Tagesordnung“ kehren kann, da sie ein psychisches Trauma erlitten hat. Dieses Trauma ist eine Reaktion auf eine massive Stresssituation, welche die individuellen Bewältigungsstrategien der betroffenen Person deutlich überfordert hat. Wenn die Traumatisierung über längere Zeit persistiert, spricht man von der Posttraumatische Belastungsstörung (kurz: PTBS oder im englischen Posttraumatic Stress Disorder, kurz: PTSD), klingt sie nach bis zu vier Wochen ab, lautet die Diagnose akute Belastungsstörung.

Als CISM werden dabei alle vorbeugenden und begleitenden Maßnahmen bezeichnet, die Menschen bei der Verarbeitung der Stresssymptome nach solchen besonders belastenden Ereignissen unterstützen. Es umfasst spezielle Schulungsmaßnahmen und sorgt für die Durchführung verschiedener, auf die Belastungsreaktion abgestimmte Maßnahmen, zum Beispiel CIS-Debriefings (Critical-Incident-Stress-Nachbesprechungen) und stellt eine Nachsorge sicher. Eine wissenschaftliche Überprüfung der Wirksamkeit durch die Harvard University ergab, dass CISD nicht nur nicht präventiv gegen die Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung wirkt, sondern sogar schädlich sein kann.[2] Andere Studien belegen die Wirksamkeit des CISD hinsichtlich der Reduktion der akuten und Langzeitbelastung der Betroffenen und zeigen ein Schädigungsrisiko nur für bestimmte Risikogruppen auf.[3]

Bei mangelhafter Verarbeitung eines kritischen Ereignisses können chronische Beschwerden auftreten, die sich in einer starken Einschränkung der Lebensqualität, Abbrechen der sozialen Kontakte, in extremen Einzelfällen sogar in Form der schwer zu heilenden und in die Arbeitsunfähigkeit führenden Krankheit Post Traumatic Stress Disorder (PTSD) (Posttraumatisches Belastungssyndrom, PTBS) äußern.

Alle CISM-Maßnahmen stellen keine Therapie dar, sondern dienen ausschließlich der Gesunderhaltung normal reagierender gesunder Menschen auf unnormale Ereignisse (Critical Incidents).

CISM steht zur Psychotherapie in einer ähnlichen Relation wie „Erste Hilfe“ zu einem chirurgischen Eingriff.

Interventionen

Sieht man eine Krise (also PTSD/PTBS) als Gift an, so ist eine CISM-Intervention ein mögliches Gegenmittel. Ein wesentliches Teil ist ein von den amerikanischen Psychologen Jeffrey Mitchell und George Everly entwickeltes, stark strukturiertes Gesprächsmodell für die Aufarbeitung kritischer Ereignisse (umgangssprachlich CIS-Debriefing genannt), das von besonders geschulten Personen (Peers) und psychosozialen Fachkräften, sogenannten MHPs (Mental Health Professionals) durchgeführt wird. Der MHP tritt dabei als Leader auf, meist gibt es auch noch einen Co-Leader, welcher den MHP unterstützt und assistiert. Es gibt neben dem Debriefing auch noch die sogenannten Defusings, Demobilizations und One-on-Ones. Ein CIS-Debriefing ist keine (Psycho-)Therapie, Einzelberatung oder psychologische Behandlung.

Kernpunkte der Krisenintervention:

  • schnelle Hilfe
  • meist vor Ort
  • normalisierend
  • echte Unterstützung
  • Aussprache von persönlich Erlebtem
  • Besprechen und Anerkennen der Gefühle
  • Gefühle werden kognitiv bearbeitet statt verdrängt/verneint
  • Reaktionen innerhalb der Gruppe werden ausgetauscht und kommuniziert
  • Reaktionen werden als normal besprochen und erlebt
  • Stressbewältigungstechniken werden erklärt

Debriefing, Defusing, Demobilization, One-on-One

Debriefing

Ein Debriefing stellt ein meist siebenstufiges Gesprächsmodell dar (nach Mitchell und Everly). Es ist die intensivste und längste Form der CISM-Intervention (bis zu vier Stunden). Ein Debriefing wird erst einige Tage nach dem potenziell traumatisierenden Ereignis durchgeführt, wenn kognitive Bewältigungsmechanismen erkennbar greifen. Ein Debriefing kann nur von einem Arzt oder Psychologen mit entsprechender Zusatzausbildung geleitet werden.

Defusing

Ein Defusing ist ein wesentlich kürzeres (nicht länger als 45 Minuten) und nur dreistufiges „kleines“ Debriefing. Es wird oft direkt im Anschluss an das belastende Ereignis (spätestens jedoch am gleichen Tag) durchgeführt und soll den Teilnehmern ermöglichen, über das Ereignis zu sprechen, bevor sie Gelegenheit haben, zu sehr nachzudenken und falsche Interpretationen anzustellen.

Demobilization

Eine Demobilization dauert in der Regel nicht länger als zehn Minuten und informiert die Teilnehmer über eventuell auftretende physische, kognitive, emotionale und verhaltensspezifische Symptome, sowie Stress Management.

One-on-One

Ein One-on-One ist ein Gespräch zwischen einem MHP/Peer und einem Betroffenen. Dies ist die direkteste Form der Intervention und folgt dem CIS-Debriefing-Modell.

Jede Intervention ist vertraulich und anonym. Die Vorgesetzten bekommen nichts von den Inhalten der Gespräche mit. Die MHPs/Peers haben im Rahmen ihrer Tätigkeit im Kriseninterventionsteam eine Schweigepflicht nach §203 StGB. Nach jeder Form der Intervention gibt es die Möglichkeit zu einem direkten, unverbindlichen Gespräch zwischen den MHPs/Peers und den Betroffenen mit einem kleinen Imbiss und Getränken.

CISM in der Luftfahrt

Bei mehreren Fluggesellschaften, beispielsweise der Lufthansa, wurden Kriseninterventionsteams gebildet. Diese Care- oder Special-Assistance-Teams betreuten unter anderem von dem Seebeben im Indischen Ozean 2004 betroffene Passagiere. Crewmitglieder, welche auf diesen Evakuierungsflügen eingesetzt worden waren, wurden von CISM-Teams betreut.

Federführend für die Ausbildung und Bereitstellung dieser CISM-Teams ist in der deutschen Luftfahrt die Stiftung Mayday. Diese hilft in Not geratenen Piloten und deren Angehörigen unbürokratisch weiter, und zwar Berufs- und Privatpiloten aller Sparten der Luftfahrt.

Flugbesatzungen sind daraufhin ausgesucht und durch Schulungen darauf vorbereitet, mit belastenden und stressreichen Situationen umzugehen. Trotzdem geraten Piloten, Flugbegleiter und andere Besatzungsmitglieder gelegentlich in Situationen, die sie als kritisch oder gar lebensbedrohend empfinden. Gemeinsam mit Psychologen und Betroffenen unterhält die Stiftung Mayday ein Betreuungsnetz, das Flugbesatzungen nach stark belastenden Vor- oder Unfällen zur Seite steht.

Um einer Posttraumatischen Belastungsstörung und einer daraus eventuell entstehenden Fluguntauglichkeit vorzubeugen, werden durch das CISM-Team – abgestimmt auf den Vorfall – unterschiedliche Interventionen durchgeführt. Dabei machen die sehr zeitaufwändigen Debriefings mit kompletten Besatzungen etwa 10 Prozent der Einsätze aus. Demobilizations- und Einzelgespräche (sogenannte One-on-Ones) mit Crewmitgliedern sind die häufigste Interventionsform, auch innerhalb der Airlines. Den CISM-Teams gehören immer Peers (= Gleichgestellte) an, die den gleichen Erfahrungshorizont haben wie die Betroffenen selbst.

Die Einsatzhäufigkeit der CISM-Teams der Stiftung Mayday beträgt durchschnittlich drei Einsätze pro Woche.

Die gemeinnützige Stiftung Mayday schult und interveniert nach den Regeln der International Critical Incident Stress Foundation, Inc. (ICISF), ist in deren Qualitätsmonitoring eingebunden und vertritt die ICISF als CISM-Hotline für die Luftfahrt in Europa mit Schwerpunkt im deutschen Sprachraum.

In Österreich ist seit 2010 Mayday Austria, insbesondere für Unternehmen der General Aviation Ansprechpartner für CISM.

Das SAFER-R Modell

Das SAFER-R-Modell - Psychologische Krisenintervention soll einfache Richtlinien für die Bereitstellung psychologischer Erster Hilfe (psychological first aid, PFA) liefern. Das vorgestellte Modell der psychologischen Ersten Hilfe (PFA) ist das von den Autoren entwickelte SAFER-R-Modell. Es ist wohl das weltweit am weitesten verbreitete taktische Modell für Kriseninterventionen mit rund 1 Million Personen, die in den operativen und abgeleiteten Richtlinien geschult sind. Dieses PFA-Modell ist weder ein Therapiemodell noch ein Ersatz für eine Therapie. Vielmehr soll es in der Krisenintervention helfen, akute Krisenreaktionen bei Einzelpersonen, im Gegensatz zu Gruppensettings im Debriefing und Defusing, zu stabilisieren und zu mildern. Anders als beim sogenannten One-on-One Ansatz werden zudem Richtlinien für Triage und Überweisungen bereitgestellt und abschließend Empfehlungen zur Bewältigung spezifischer psychologischer Herausforderungen (Suizidgedanken, Widerstand gegen die Suche nach professioneller psychologischer Unterstützung und Depression) gegeben[4].

Literatur

  • Richard J. McNally: Remembering Trauma. Harvard University Press, Cambridge. ISBN 0674018028.
  • Jeffrey T. Mitchell, George S. Everly und Andreas Igl, Joachim Müller-Lange (Hrsg. d. dt. Ausgabe): Streßbearbeitung nach belastenden Ereignissen. Zur Prävention psychischer Traumatisierung. Stumpf & Kossendey, Edewecht 1998, ISBN 3-923124-72-4.
  • George S. Everly, Jeffrey T. Mitchell: CISM - Stressmanagement nach kritischen Ereignissen - ein neuer Versorgungsstandard bei Notfällen, Krisen und Katastrophen. Facultas-Univ.-Verl., Wien 2002, ISBN 3-85076-560-1.
  • Jeffrey T. Mitchell, George S. Everly, Joachim Müller-Lange: Handbuch Einsatznachsorge. Stumpf & Kossendey, Edewecht 2005, ISBN 3-932750-91-8.
  • Gisela Perren-Klingler: Debriefing - Erste Hilfe durch das Wort. Verlag Paul Haupt, Bern 2001, ISBN 3-258-05994-2.
  • Gisela Perren-Klingler: Trauma - Vom Schrecken des Einzelnen zu den Ressourcen der Gruppe. Verlag Paul Haupt, Bern 2000, ISBN 3-258-05164-X.
  • Jeffrey T. Mitchell, George S. Everly: Critical Incident Stress Management (CISM): A Practical Review, ICISF - International Critical Incident Stress Foundation, Inc., 2017, ISBN 978-1-943001-02-6.

Weblinks

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. SvE Peer Team des Wiener Roten Kreuzes@1@2Vorlage:Toter Link/www.sve-psd.at (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. als Beispiel österreichischer Peers. Abgerufen am 1. Dezember 2012
  2. McNally, Bryant, Ehlers: Does early psychological intervention promote recovery from post-traumatic stress? In: Psychological Science in the Public Interest. 4, 2003, S. 45–79.
  3. Beck, T.; Kratzer, D. Mitmansgruber, H. und Andreatta, M.P.: Die Debriefing Debatte – Fragen nach der Wirksamkeit. In: Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft und Psychologische Medizin ZPPM. Band 03, 2007, S. 9 – 20.
  4. George S. Everly, Jr., Phd, CCISM, Jeffrey T. Mitchell, PhD, CCISM: The SAFER-R Model - Psychological Crisis Intervention. In: International Critical Incident Stress Foundation (Hrsg.): Field Guide Series. Band 2, 2017, ISBN 978-1-943001-14-9, S. 92.