Das Haus an der Uferstraße

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Das Haus an der Uferstraße, auch „Das Haus an der Moskwa“ (russisch Дом на набережной Dom na nabereschnoi), ist ein Roman des sowjetischen Schriftstellers Juri Trifonow, der 1976 im Januarheft in der Moskauer Literaturzeitschrift Druschba narodow[1][2] erschien.

Überblick

Der Moskauer habilitierte Literaturwissenschaftler Wadim Alexandrowitsch Glebow nimmt im April 1974 an einer internationalen Fachtagung der Essayisten in Paris teil und trifft dort einen Kollegen, den er bereits auf Komparatisten-Kongressen in Oslo und Zagreb kennengelernt hat. Auf der Fahrt nach Paris war er im Zug der Mutter seines Jugendfreundes Ljowka Schulepnikow (mitunter auch Schulepa genannt) begegnet und hatte sich insgeheim gefragt: Weshalb hatte ihn Ljowka bei einer zufälligen Begegnung im August 1972 in Moskau zunächst nicht erkennen wollen? Die Antwort ist Glebow schon klar, doch er will sie nicht wahrhaben. Ljowka sieht Glebow als Opportunisten, schlimmer noch – als verachtungswürdigen Feigling an. Glebow ist zwar im Frühjahr 1949[3] am Moskauer Institut nicht, wie ihm die Institutsleitung nachdrücklich nahegelegt hatte, gegen seinen Gönner und Diplomvater, den Altbolschewiken und ehemaligen Revolutionär Prof. Nikolai Wassiljewitsch Gantschuk auf der entscheidenden erweiterten Sitzung des Wissenschaftlichen Rates am Moskauer Institut öffentlich aufgetreten. Allerdings hat er zu den Anschuldigungen der Institutsleitung, die den Professor – immerhin ein Korrespondierendes Mitglied der Akademie – zu Fall brachten, geschwiegen. Dabei hatte Marina Krasnikowa, eine Aktivistin in der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Studenten und auch Kuno Iwanowitsch, ein Vertrauter Gantschuks, den Seminargruppensekretär Glebow eindringlich aufgefordert, in jener Sitzung die Stimme für den Professor zu erheben. Auch der Volkskundler Prof. Kruglow, der Sprachdozent Simonjan sowie einige Studenten und Aspiranten wollten sich für den Professor einsetzen. Doch Glebow war in letzter Minute ein Hinderungsgrund äußerst gelegen gekommen – der Tod seiner Großmutter. Glebow nimmt die Belohnung für sein Zaudern – das Gribojedow-Stipendium – mit. Gantschuk hatte seinem künftigen Schwiegersohn Glebow das Fernbleiben nicht übelgenommen; hatte ihn treuherzig über den Institutsdirektor Dorodnow ins Bild gesetzt. Der Intrigant Dorodnow habe ein nichtssagendes Buch über die Romantik verfasst. Alles sei irgendwo abgeschrieben. Als der Professor vom Direktor Dorodnow bereits aus seinem Institut entfernt worden war, hatte sich Glebow noch einmal ins Haus Gantschuks gewagt, um dessen einziger Tochter, der hochgewachsenen blassen Sonja, den Laufpass zu geben. Natürlich hatte Glebow auch bei der Gelegenheit bis zum allerletzten Moment – nach seine Maxime „die Dinge treiben lassen“ – mit der schlimmen Wahrheit hinterm Berge gehalten; hatte noch ein letztes Mal mit Sonja, der jungen Frau mit den gütigen, blaßblauen Augen und dem gefügigen Körper, geschlafen. Zuvor war Gantschuk, ehemals „Kämpfer der Roten Reiterarmee“[4], unvermittelt ins Zimmer getreten und hatte Glebow mit der Bemerkung gestört: „Wissen Sie, was der Fehler war? Daß wir Dorodnow 1928 verschont haben. Wir hätten ihn nicht davonkommen lassen dürfen.“[5] Später hatte Glebow – während des Steigens auf der Karriereleiter – sich eine andere Frau gesucht.

Form

Wenn Juri Trifonow im vorliegenden Text eine Wahrheit ausspricht – wie etwa „Sie machten Kesseltreiben gegen Gantschuk“[6] – so ist das eine Ausnahme. Häufiger dominieren nicht auf den ersten Blick erkennbare Indirektheiten. Wenn es zum Beispiel im Haus an der Uferstraße um den Großen Terror unter Stalin in den Jahren 1937 und 1938 geht, findet der aufmerksam Lesende dazu lediglich zwei Geschichten im Roman. Um 1936 waren die Glebows und die Schulepnikows „in das schreckliche Haus gezogen“[7]. Glebow ist 1938 zwölf Jahre alt und wird von seiner Familie zu Ljowkas Stiefvater Schulepnikow in Sachen Onkel Wladimir vorgeschickt. Besagter Onkel ist nämlich in den Norden der Sowjetunion zwangsverschickt worden. Der mächtige Stiefvater kann auch nicht weiterhelfen, denn er erfährt nichts.[8] Ein Mensch verschwindet eben einfach und fertig. Das Thema Verschwinden betrifft zu derselben Zeit am selben Ort noch eine ganze Familie. Die Bytschkows sind laut und überhaupt als Nachbarn schwierig. Der zwölfjährige Glebow ist froh, dass die Bytschkows auf Nimmerwiedersehn verschwunden sind. Wie war das gewesen? „Ein Mann in langem Ledermantel“ hatte geklopft und darauf offenbar auf den unterm Sofa immerzu kläffenden Hund der Bytschkows drei Schüsse abgefeuert. Seitdem hatten die benachbarten Mieter vor den Bytschkows ihre Ruhe gehabt.[9]

Mehrere Male schaut Juri Trifonow unvermittelt in die Zukunft. Als da vom ehemaligen Offizier Drusjajew die Rede ist, der Geheimdienstberichten über Prof. Gantschuk vertraut, noch nicht lange Mitglied der Institutsleitung ist und Glebow anno 1949 zur Denunziation des Professors nötigt, wird klargestellt, dieser Herr in Offiziersjacke wird 1951 „überall rausgeschmissen und vom Schlaganfall getroffen“[10] werden. Der „oberste Kesseltreiber“ Drusjajew, Sohn eines Müllers, habe sich hinter marxistischen Phrasen versteckt.

Vergeblich sucht der Leser die Aufdeckung gut gehüteter Geheimnisse am Romanschluss. Da tritt etwa in manchem Kapitel ein anonymer Ich-Erzähler auf. Dieser ist weder Glebow noch Ljowka. Er gehört – wie die beiden Jungen – dem „Geheimbund zur Willenskrafterprobung“ an. Auch Sonja Gantschuk ist Mitglied.

Juri Trifonow wählt Romananfang und -schluss so, dass der Leser erkennt: Erzählt wird vom Aufstieg und Fall zweier Freunde. Während Glebow steigt, fällt Ljowka von Studenten zum Hilfsarbeiter in allen möglichen Professionen. Zu Romananfang arbeitet Ljowka als Mitarbeiter in einem Unternehmen, das Möbel verkauft. Bei dieser oben erwähnten zufälligen Begegnung im Jahr 1972 ist Glebow bereits habilitiert. Zuletzt suchen der inzwischen 86-jährige Gantschuk und Glebow zum Todestag Sonjas deren Grab in der Nähe des Donskoi-Klosters auf. Ljowka ist Friedhofspförtner geworden.

Rezeption

  • Ralf Schröder weist 1983 auf die historische Entwicklung über ein knappes halbes Jahrhundert in der Sowjetunion hin, die Juri Trifonow im Roman einfangen wollte. Schröder schreibt dazu: „In den dreißiger Jahren erschreckte Glebow der allmächtige Stiefvater seines Schulfreundes Schulepa, in den vierziger Jahren die Kosmopolitismuskampagne, aber in den siebziger Jahren vertritt Glebow sein Institut auf internationalen Komparatistenkonferenzen, also in jenem Zweig der Literaturwissenschaft, der einst als kosmopolitisch verdammt worden war.“[11]
  • Simone Schlindwein vermerkt am 18. Dezember 2007 im Spiegel: „Ende des Jahres 1938 steht jede fünfte Wohnung leer. Von einstmals 2745 Bewohnern verhaftet der Geheimdienst zwischen 1934 und 1953 insgesamt 887. Die Hälfte wird erschossen.“[12]
  • Uli Hufen nennt am 10. März 2011 im Deutschlandfunk allgemeingültige Themen, die dieser große Roman der Weltliteratur behandelt – zum Beispiel den mehrfachen Verrat Glebows aus Angst um die eigene Karriere. Hufen merkt dazu an: „Mit Stalinismus hat das, abgesehen von einigen Details in der Ausführung, wenig zu tun.“[13]
  • Tanja Stern schreibt 2018 über dieses „Domizil für Parteifunktionäre, berühmte Künstler und verdiente Armeeoffiziere“: „250 Bewohner des Hauses fielen dem stalinistischen Terror zum Opfer; und in einige der leeren Wohnungen zogen ausländische Emigranten ein, wie etwa der deutsche Dichter Erich Weinert, den der luxuriöse Blick auf den Kreml zu seinem berühmten Gedicht ‚Im Kreml ist noch Licht‘[14] inspirierte, einem Hymnus auf Stalins gottgleiche Herrlichkeit.“[15]

Adaptionen

Theater

Fernsehen

Literatur

Deutschsprachige Ausgaben

  • Jurij Trifonow: Das Haus an der Moskwa. Roman. Aus dem Russischen von Alexander Kaempfe. C. Bertelsmann Verlag, München 1977, ISBN 978-3-570-02897-1
  • Juri Trifonow: Das Haus an der Uferstraße. Aus dem Russischen von Eckhard Thiele. S. 165–314 in Juri Trifonow: Ausgewählte Werke. Band 3. Verlag Volk und Welt, Berlin 1983 (1. Aufl., verwendete Ausgabe)
  • Juri Trifonow: Das Haus an der Uferstraße. Roman. Aus dem Russischen von Eckhard Thiele. Roman-Zeitung Nr. 481 (Aprilheft 1990), Verlag Volk und Welt, Berlin 1990

Sekundärliteratur

  • Ralf Schröder (Hrsg.): Juri Trifonow: Ausgewählte Werke. Band 4. Verlag Volk und Welt, Berlin 1983 (1. Aufl.)
  • Gennady Gorelik: Andrej Sacharow. Ein Leben für Wissenschaft und Freiheit. Aus dem Russischen von Helmut Rotter. Birkhäuser, Basel 2013, ISBN 978-3-0348-0473-8

Weblinks

  • Der Text
    • online bei e-reading.club (russisch)
    • online bei knijky.ru (russisch)
    • online bei litmir.me (russisch)
  • Eintrag bei juriy-trifonov.ru (russisch)
  • Eintrag bei fantlab.ru (russisch)

Einzelnachweise

  1. russ. Дружба народов (журнал), auf Deutsch: Völkerfreundschaft
  2. Schröder, Juri Trifonow: Ausgewählte Werke. Band 4, S. 402, vierter Eintrag
  3. siehe verwendete Ausgabe, Anmerkungen, S. 556, 21. Z.v.o. zur Kampagne in der Sowjetunion „gegen die sogenannten Kosmopoliten und Kriecher vor dem Westen“ sowie zum Beispiel auch Gennady Gorelik, S. 129, 1. Z.v.u.
  4. Verwendete Ausgabe, S. 215, 16. Z.v.u.
  5. Verwendete Ausgabe, S. 309, 16. Z.v.u.
  6. Verwendete Ausgabe, ab S. 267, 11. Z.v.u.
  7. Verwendete Ausgabe, S. 212, 11. Z.v.o.
  8. Verwendete Ausgabe, S. 205, 13. Z.v.u. bis S. 207
  9. Verwendete Ausgabe, ab S. 198 Mitte
  10. Verwendete Ausgabe, ab S. 260, 11. Z.v.o.
  11. Ralf Schröder in den Anmerkungen der verwendeten Ausgabe, S. 557,11. Z.v.u.
  12. Simone Schlindwein: Das Haus des Schreckens
  13. Uli Hufen: Verräter aus Angst
  14. Erich Weinert: Im Kreml ist noch Licht
  15. Tanja Stern: Die Trifonows und das Haus an der Moskwa
  16. Andreas Knaup: Das Haus des Erinnerns
  17. Das Haus an der Uferstraße bei kinopoisk.ru
  18. russ. Кордон, Аркадий Самойлович
  19. russ. Ивченко, Валерий Михайлович
  20. russ. Стебунов, Иван Сергеевич
  21. russ. Петренко, Алексей Васильевич
  22. russ. Купченко, Ирина Петровна