Die Brücke von San Luis Rey (Roman)

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Die Brücke von San Luis Rey[1] (The Bridge of San Luis Rey) war Thornton Wilders zweiter Roman. Das 1927 erstmals erschienene Werk gewann 1928 den Pulitzer-Preis; das Magazin Time zählt den Roman zu den besten 100 englischsprachigen Romanen, die zwischen 1923 und 2005 veröffentlicht wurden. Der Roman[2] wurde schon 1929, dann wieder 1944 und 2004 verfilmt.[Anm 1]

Der Roman folgt den Lebensläufen der fünf Hauptfiguren, die beim Einsturz einer Hängebrücke in den Anden auf dem Weg zwischen Lima und Cusco 1714 den Tod finden, und sucht nach einer Antwort auf die Frage, ob der Einsturz der Brücke und der Tod der Menschen im Zusammenhang mit ihrem Vorleben stehen, ob also Zufall oder Schicksal ihren Untergang verursacht hat.

Inhalt

Beispiel einer Hängebrücke der Inkas, hier die Q’iswachaka

Im kurzen ersten (und fünften) Teil des Romans wird der Rahmen des Ereignisses berichtet: Der einzige Augenzeuge des Unglücks, der franziskanische Ordensbruder Juniper, fragt nach möglichen Ursachen des Absturzes jenseits der Ermüdung der Konstruktion: war der Unfall „vielleicht ein Zufall“?[3] Über die Aufgaben eines Chronisten hinaus prüft er die Möglichkeit göttlicher Fügung und versucht sich damit an einem Gottesbeweis.[4] Seine sechs Jahre dauernde, rationale, detektivische Untersuchung[5] endet aber mit seinem Zweifel am göttlichen Plan: es war „vielleicht eine Fügung.“[6] Diese Ungewissheit führt zu einer Anklage wegen Ketzerei und seiner Verurteilung zum Feuertod als Häretiker. Mit ihm zusammen werden seine Unterlagen verbrannt – bis auf eine geheime Abschrift des Untersuchungsberichts, die in die Hände des Erzählers fällt.

Der zweite Teil[7] enthält die Untersuchungsergebnisse des Franziskaners über das Leben der Marquesa de Montemayor, die von ihrer Tochter Clara gehasst wird, und die an ihrer verschmähten, verbitternden, aber auch selbstsüchtigen Liebe fast zerbricht.[8] Kurz nach ihrer reuevollen Einsicht und ihrer Bitte an Gott: „Lass mich von neuem beginnen!“ stirbt die Marquesa bei dem Unfall zusammen mit ihrer Gesellschafterin, einem jungen, einsamen und traurigen Mädchen aus dem Waisenhaus von Lima.[9]

Im dritten Teil[10] wird das Leben der Zwillinge Manuel und Esteban von ihrer Kindheit im Waisenhaus an beschrieben. Ihre besondere Empathie für einander und ihre Fähigkeiten der Formulierung nutzt die Mätresse des Vizekönigs mit dem Künstlernamen Camila Pericholé für Briefe an ihre Liebhaber aus. Nach dem Tod seines Bruders an einer Infektion wird Esteban zwar durch den Kapitän Alvarado, der über den frühen Verlust seiner Tochter nicht hinwegkommt,[11] vor dem Selbstmord gerettet, aber Esteban stürzt gleich darauf mit der Brücke in den Tod.

Medaillon mit dem mutmaßlichen Bild der Perricholi, Peru 18. Jh.

Der vierte Teil[12] ist dem Abenteurer Pio gewidmet, der die spätere Mätresse Camila Pericholé als 12-Jährige freikaufte, sie zur Schauspielerin ausbildete, ihr dadurch den Kontakt zum Vizekönig ermöglicht, aber von Camila später verhöhnt und verleugnet wird.[13] Nach ihrer Erkrankung an Blattern und ihrem Rückzug aufs Land vertraut sie Onkel Pio dennoch die Erziehung ihres illegitimen Kindes Jaime an, aber beide stürzen mit der Brücke ab.

Erzählweise

Der kleine Kreis von Hauptfiguren wird in den mittleren Teilen des Romans schrittweise eingeführt, wobei der Akzent auf den seelischen und charakterlichen Merkmalen liegt, die wie z. B. beim Erzbischof sehr ironisch geschildert werden.[14] Die Lebensläufe der Hauptfiguren kreuzen sich in der Zeit vor dem Unglück auf unterschiedliche Weise,[15] sodass mit dieser Mosaiktechnik dieselben Situationen aus mehreren, sich ergänzenden Perspektiven nacheinander geschildert werden.[16]

Als Vorlage diente nach Aussage des Autors das einaktige Drama Le Carrosse du Saint-Sacrement von Prosper Mérimée. Als Vorbild der Brücke diente Merimée wie auch Wilder die um 1350 von den Inkas errichtete und bis um 1864 noch benutzte Brücke über die tiefe Schlucht des Río Apurímac. Zwei historische Persönlichkeiten sind in die Handlung integriert: Manuel de Amat y Juniet, der von 1761 bis 1776 Vizekönig von Peru war, und seine Maitresse, die Schauspielerin und Sängerin La Perricholi, mit bürgerlichem Namen Micaela Villegas (1748–1819) und Titelheldin der Offenbach-Operette La Périchole.

Textur der Liebe

Alle Opfer sind unglücklich Liebende, denen die Geliebten schon zu Lebzeiten genommen werden (Esteban), deren Liebe zurückgewiesen wird (Marquesa, Onkel Pio) oder die die Liebe noch nicht leben können (die junge Pepita, das Kind Jaime).[17] Die Überlebenden, die Mätresse Camila Pericholé, Clara, die Tochter der Marquesa, und die Äbtissin, werden sich erst nach dem Tod der Hauptfiguren ihrer Liebe bewußt: "Wir alle, wir alle haben gefehlt. (...) aber wisst ihr (...), wenn wir lieben, scheinen sogar unsre Verfehlungen nicht lange zu währen."[18] Das Leiden an der Liebe bringt letztlich tiefe Einsichten mit sich: Für Pio z. B. sind Menschen ohne Liebe nur mechanische Puppen, aber die von der „Krankheit der Liebe“ genesenden seien nun gegen zwei schwere Fehler immun: das Wichtignehmen von bloßen Liebenswürdigkeiten und das Übersehen der Verletzlichkeit und Würde jedes Einzelnen. Pio wird deutlich, dass das Schicksal auch eine selbstlose Liebe nicht belohnt,[19] aber diese Liebe sei eine für die Menschwerdung notwendige „grausame Krankheit“.[20]

Die titelgebende Brücke, bisher Symbol der Zufälligkeit von Ereignissen, wird von einer der Hauptfiguren am Ende des Romans neu interpretiert.[21] Den Roman beschließend resümiert die Äbtissin, die Liebe sei die einzige Möglichkeit, dem unausweichlichen menschlichen Scheitern und Tod durch die Erinnerung eine wenigstens vorübergehende Bedeutung zu geben:

„Bald aber werden wir alle sterben, und alles Angedenken jener fünf wird dann von der Erde geschwunden sein, und wir selbst werden für eine kleine Weile geliebt und dann vergessen werden. Doch die Liebe wird genug gewesen sein. (...) Nicht einmal eines Erinnerns bedarf die Liebe. Da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe - das einzig Bleibende, der einzige Sinn.“[22]

Rezeption

Schon in den ersten Rezensionen hieß es, Wilder sei mit seinem Werk nicht „nur ein Kunststück, sondern ein fast archaisch wirkendes Kunstwerk gelungen, eine Ausnahmeerscheinung in der amerikanischen Literatur jener Zeit. (...) Schon bald wird der Roman ein Bestseller, im zweiten Jahr seines Erscheinens klettert die Auflage auf 300.000 Exemplare.“[23]

Helmut Viebrock sieht in der Brücke von San Luis Rey zwar den Hinweis auf eine „transzendente Wahrheit“, auf einen „nicht eindeutig auszumachenden Sinn der Geschichte“ und auf die Beschreibung einer „metaphysischen Erfahrung.“[24] Aber die Rahmenhandlung des scheiternden Gottesbeweises erscheint ihm nur als "Ablenkungsmanöver" Wilders von einer mit der selbstlosen Liebe verbundenen existentiellen Erfahrung der plötzlichen Einsicht, des „Überraschtwerdens“, „dem jähen Eröffnen einer neuen, erschreckend-beglückenden Dimension des Empfindens“:[25] Da die Anwesenheit Gottes in der Welt unentscheidbar bleibt, ist der einzige Sinn des Lebens der Versuch der Liebe.

Verfilmungen

Vertonung

Hermann Reutter: Die Brücke von San Luis Rey, Szenen nach der Novelle von Thornton Wilder, 1954

Literatur

  • Helmut Viebrock: Nachwort, in: Thornton Wilder, Die Brücke von San Luis Rey. Aus dem Amerikanischen von Herbert E. Herlitschka. Mit einem Nachwort von Helmut Viebrock, 52. Aufl. Frankfurt a. M.: S. Fischer: 2001, S. 159–171

Weblinks

Anmerkungen

  1. Zur neuesten Verfilmung siehe den ausführlichen Beitrag Die Brücke von San Luis Rey (2004).

Einzelbelege

  1. Thornton Wilder: Die Brücke von San Luis Rey. Aus dem Amerikanischen von Herbert E. Herlitschka. Mit einem Nachwort von Helmut Viebrock. 52. Auflage. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2001, ISBN 3-596-20001-6, S. 171.
  2. Lueken, siehe Weblinks, meint, dass der Roman „eher eine Novelle ist“, was durch seine kurze Länge und den Bezug auf ein Schlüsselereignis gerechtfertigt wäre.
  3. „Vielleicht ein Zufall“ ist die Überschrift des 1. Teils, noch ausgehend von der göttlichen Planung aller menschlichen Schicksale und des Ereignisses. (Wilder, Die Brücke von San Luis Rey., S. 7.)
  4. „Wenn es überhaupt einen Plan im Weltall gab, (...) musste er sich (...) in diesen fünf so jäh abgeschnittenen Lebensläufen entdecken lassen.“ Der Fall „bot ihm ein ganz einwandfreies Laboratorium.“ (Wilder, Die Brücke von San Luis Rey, S. 10 f.)
  5. Bruder Juniper will nicht nur Bekanntes berichten, sondern die wirklichen Kräfte enthüllen, so z. B., dass die Briefkunst der Marquesa in Wirklichkeit Frucht ihrer Verzweiflung gewesen sei. Aber auch in den "Tausende(n) von kleinen Tatsachen" entdeckt Juniper nicht "das zu innerst Bewegende(n)" im Leben der Betroffenen, die Liebe. (Wilder, Die Brücke von San Luis Rey, S. 13.)
  6. „Vielleicht eine Fügung“ lautet die Überschrift des 5. Teils, jetzt mit dem Akzent auf der Zufälligkeit des Ereignisses. (Wilder, Die Brücke von San Luis Rey, S. 141.)
  7. Wilder, Die Brücke von San Luis Rey, S. 15 ff.
  8. Durch den Schmerz ihrer enttäuschten Liebe entwickelt die Marquesa einen neuen Blick auf die sie umgebende Welt und in den Horizont dieser Klarsicht fällt mehr und mehr auch ihre Selbstsucht. (Wilder, Die Brücke von San Luis Rey, S. 22 f., 55 f.)
  9. Wilder, Die Brücke von San Luis Rey, S. 56.
  10. Wilder, Die Brücke von San Luis Rey, S. 57 ff.
  11. Alvarado formuliert das Credo aller Verlassenen, als er Esteban zu trösten versucht: „Wir müssen weiter, so gut es geht, Esteban. Es ist nicht für lange, weißt du.“ (Wilder, Die Brücke von San Luis Rey, S. 92.)
  12. Wilder, Die Brücke von San Luis Rey, S. 95 ff.
  13. Auch der Abenteurer Pio gewinnt durch seine verschmähte Vaterliebe an philosophischer Tiefe: „Er teilte die Bewohner dieser Welt in zwei Gruppen ein; in solche, die geliebt, und solche, die nicht geliebt hatten. (...) Menschen, die nicht die Fähigkeit zu lieben (oder vielmehr, liebend zu leiden) besaßen, konnten nicht als lebendig bezeichnet werden und hätten gewiss kein Fortleben nach ihrem Tod.“ (Wilder, Die Brücke von San Luis Rey, S. 121.)
  14. Wilder, Die Brücke von San Luis Rey, S. 117 ff. Lueken, siehe Weblinks, notiert einen „fast durchgängig ironischen Ton“, „einen zwischen Parabel und Volksmärchen schwebenden Ton.“ Viebrock verbindet mit Wilders Ironie insbesondere bei religiösen Themen seine humanistische Skepsis gegenüber der asketischen Religiosität auch seines Elternhauses. (Viebrock, siehe Literatur, S. 162.) Grzimek, siehe Weblinks, bestätigt eine „bis dahin stilistisch und kompositorisch kaum dagewesene Eleganz in einem wie ätherisch wirkenden Kunstwerk.“
  15. Die Pericholé lässt sich z. B. von den Zwillingen Briefe an den eifersüchtigen Vizekönig schreiben, die somit en passant eingeführt werden. (Wilder, Die Brücke von San Luis Rey, S. 30, 68.)
  16. Viebrock beschreibt die Komposition als eine „epische Verlaufsstruktur mit episodenhaft gestraffter Dramatik (mit einer) durch einen Erzählerrahmen verbindenden Gestalt.“ (Viebrock, siehe Literatur, S, 161) Sabin, siehe Weblinks: „Das sind auch fünf miteinander verschränkte Geschichten.“
  17. Sabin, siehe Weblinks: „Alle diese Figuren, die gemeinsam in den Tod stürzten, hatten ein verborgenes Liebesleiden und alle standen vor einer Umkehr.“ Daher musste die Untersuchung Bruder Juniper schon im Ansatz doppelt scheitern: weder war in diesem Ereignis eine Kausalität zu entdecken noch - nach christlichem Verständnis - eine gerechtfertigte Strafe.
  18. Wilder, Die Brücke von San Luis Rey, S. 155. Da eine nicht-selbstsüchtige Liebe auch Zurückweisungen durch die Geliebten enthält, sei auch Liebesleid und damit Buße immer schon impliziert.
  19. Wilder, Die Brücke von San Luis Rey, S. 150.
  20. Wilder, Die Brücke von San Luis Rey, S. 121 f.
  21. Grzimek, siehe Weblinks: „Eine überraschende Erklärung, die wie ein Orakel klingt.“ Viebrock, siehe Literatur, S. 165: Wilders eigene nicht gesicherte Deutung nötige „den Leser selbst, wie ein Orakelspruch, zur eigenen Schlussfolgerung und Sinnfindung.“
  22. Wilder, Die Brücke von San Luis Rey, S. 158.
  23. Grzimek, siehe Weblinks.
  24. Viebrock, siehe Literatur, S. 164, 165, 168.
  25. Er begründet diese Bedeutung der „Überraschung“ oder „Entdeckung“ mit den in Schlüsselmomenten der Erzählung häufig zu lesenden "verbalen Signalen" aus dem Wortfeld der Überraschung, des Wunderns und Staunens. Dieser Zusammenhang sei ihm erst nach vielen Jahren des Wiederlesens aufgefallen. (Viebrock, siehe Literatur, S. 159, 164, 166, 168.)