Die Legende vom armen Heinrich

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Die Legende vom armen Heinrich ist ein Drama von Tankred Dorst frei nach Hartmann von AuesDer arme Heinrich[A 1]. Das Stück wurde am 16. Februar 1997 unter der Regie von Jens-Daniel Herzog in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt.[1]

Der von Gott mit Aussatz geschlagene Ritter Heinrich und das blutjunge kerngesunde Bauernmädchen Elsa werden „durch Gottes Gnade­nwunder“[2] ein Paar.

Inhalt

Die neunjährige Elsa riskiert durch ein Guckloch einen Blick in das selbstgewählte Verlies des durch die oben genannte Krankheit entstellten Ritters Heinrich und nimmt vor lauter Schreck Reißaus.

Ritter Heinrich – vor Ausbruch der Krankheit vom Glück verwöhnt[3] – hatte alle möglichen ärztlichen Behandlungen durchprobiert. Ihm bleibt nur noch Elsa. In Salerno praktiziert ein sarazenischer Chirurg. Wenn dieser einer Jungfrau, die sich freiwillig opfert, das Herz herausschneidet, kann der kranke Ritter mit deren Herzblut[A 2] gesunden. Elsa will ihr Leben hingeben. Als Elsas Eltern[A 3] davon hören, verprügeln sie die Tochter. Elsa flieht zu Heinrich. Der Ritter schimpft sie ein „dummes Tier“[4]. Elsa setzt sich durch. Als die beiden im verschneiten Deutschland gen Süditalien aufbrechen, ist aller Elternzorn verraucht. Vater und Mutter knien vor den Reisebereiten nieder. Unterwegs tritt Elsa dem Kranken barfuß durch den Schnee die Spur. Der Kranke kann der Gesunden nur mit Mühe folgen. In Italien führt der Weg unter blühenden Kirschbäumen südwärts. Im Wasserschloss Beauséjour werden die zwei Fußreisenden von der schönen Orgelouse – das ist Heinrichs ehemalige Geliebte – empfangen. Wie gut – meint die Adelige – ein frommes Bauernmädchen opfert sich. Orgelouse will in Bälde einen gesunden Geliebten wiederhaben. Die neugierige Dame fragt Heinrich nach seinem Verhältnis zu Elsa. Der Ritter erwidert, es sei eine einseitige Zuneigung; er liebe das Bauernmädchen nicht. Elsa kommt zu einem Verehrer. Der junge Mann heißt Fizzifagozzi. Das ist der junge Hoffnarr der schönen Orgelouse.

Heinrich lässt die Minne­dame[5] Orgelouse links liegen und überredet Elsa zum Weiterwandern nach Salerno. Das ungleiche Paar redet einander ins Gewissen. Das heißt, Elsa fragt sich, warum sie sterben soll. Heinrich erinnert sie an ihren Wunsch; er solle leben. Elsa sieht bei dem Ritter Gewissensbisse voraus, sobald er sein Leben ihrem Tod verdanke. Heinrich schiebt solche Konstrukte beiseite. Denn mit ihrem Opfertod werde Elsa ihr an sich belangloses Leben adeln. In der Toskana bewundert Heinrich die Türme von San Gimignano. Elsa schweigt zu dem Geschwätz und täuscht Heinrich eine Schwangerschaft vor. Für den Augenblick fällt der Ritter darauf herein; schilt Fizzafagozzi einen Lumpenhund.

Vergeblich möchte der Sarazene dem jungen Mädchen das Opfer ausreden. Da wendet sich der Chirurg an den Ritter. Heinrich soll Einhalt gebieten. Elsa wird ungeduldig. Zunächst flüchtet Heinrich, kehrt aber zurück und das Wunder geschieht. An den Opferstein gefesselt, erwartet Elsa das Messer des sarazenischen Chirurgen. Da wird sie durch die Hand des schon ziemlich faulenden[6] Heinrich befreit. Das Paar umarmt sich und Heinrich wird – wie durch Zauberschlag – gesund.[A 4] Fortan leben Elsa und Heinrich lange selig zusammen[A 5], heißt es.

Form

Mittelhochdeutsch, Fränkisch, frühneuenglische Liebeslieder[7] und Hochdeutsch wechseln in bunter Folge vor dem verwunderten Zuschauer. Elsas sprachliche Entwicklung muss erwähnt werden. Offenbar unter dem Einfluss Heinrichs, wechselt das Mädchen vom Holperdialekt der bäuerliche Eltern mit der Zeit in die Hochsprache ihres adeligen Begleiters.

Das Stück, bedingt durch seinen Bau, bietet sich als Libretto-Vorlage an. Zum Beispiel figuriert der Chor als Fragesteller, wenn gerade kein Dialogpartner zur Stelle ist.[8] Der Chor ist in dem Stück etwas ganz Besonderes. Er forciert nicht nur das Geschehen[A 6], sondern findet auch Erklärungen – zum Beispiel für Heinrichs verwerfliche Hinnahme des Menschenopfers. Der Chor erläutert:

Bös ist ja keiner
im Anfang. Hell
ist aller Beginn, doch
des Lebens Bahn zieht dich
hinab, wo am Ende
kein Licht ist.[9]

Inszenierungen

Rezeption

  • Wahre Liebe in Mull. In: Der Spiegel. 3. März 1997.
  • Kässens[12] zwingt die Beschreibung der Salerno-Reise in zwei kurze Sätze. Es sähe zwar so aus, als reise Heinrich ins Leben und Elsa in den Tod, doch beide reisten ins Licht. Das Wunder am Schluss des Stücks nennt Kässens nicht nur deus ex machina, sondern treffend das Wunder der Liebe.

Literatur

Textausgaben

  • Tankred Dorst: Die Legende vom armen Heinrich. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-518-40795-3.
  • Die Legende vom armen Heinrich. In: Tankred Dorst: Die Freude am Leben und andere Stücke. (= Werkausgabe. Band 7). 1. Auflage. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-518-41331-7, S. 7–58. (Verwendete Ausgabe).

Sekundärliteratur

  • Helmut de Boor: Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang. 1170–1250. Elfte Auflage bearbeitet von Ursula Hennig. (= Geschichte der deutschen Literatur. Band 2). C. H. Beck, München 1991, ISBN 3-406-35132-8.
  • Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Tankred Dorst (= text + kritik. Heft 145). Richard Boorberg Verlag, München 2000, ISBN 3-88377-626-2.
  • Gero von Wilpert: Lexikon der Weltliteratur. Deutsche Autoren A–Z. Stuttgart 2004, ISBN 3-520-83704-8, S. 126.

Weblinks

Anmerkungen

  1. Kässens (Nachwort in der verwendeten Ausgabe, S. 380, 3. Z.v.u.) nennt Hartmanns Werk ein „mittelalterliches Erlösung­spoem“.
  2. Nach de Boor (S. 75, 22. Z.v.o.) sei reines Kinderblut im Mittelalter ein magisches Mittel gegen Aussatz gewesen.
  3. Bei Hartmann ist der Vater des Mädchens ein Meier (de Boor, S. 75, 17. Z.v.u.). Elsa steht also gesellschaftlich weit unter dem von „der höfischen Humanität“ (de Boor, S. 75, 4. Z.v.o.) beseeltem Ritter Heinrich.
  4. Bei Hartmann überkommt den Ritter in letzter Minute die „niuwe güete“ (Hartmann zum Beispiel in der Uni-Trier-Datenbank unter „Heinrich“), als Elsa sich für ihn opfern will. Indem Heinrich – vom inneren Adel (de Boor, S. 76, 6. Z.v.u.) Elsas ergriffen – dem Mädchen die Fesseln löst, beugt er sich dem Willen Gottes und erfährt als göttliche Reaktion Gnade (de Boor, S. 76, 20. Z.v.o.).
  5. Bei Hartmann heiratet Ritter Heinrich die opferbereite Meierstochter (de Boor, S. 74, 16. Z.v.u.).
  6. Am Horizont auftauchende Problematik löst gelegentlich der Chor – noch bevor sie sich allzu sehr in den Vordergrund drängt. Zum Beispiel vertreibt der Chor Heinrichs Nebenbuhler Fizzifagozzi aus der Kulisse (Verwendete Ausgabe, S. 40, 13. Z.v.o.).

Einzelnachweise

  1. Erken bei Arnold, S. 88, linke Spalte, zweiter Eintrag
  2. de Boor, S. 74, 17. Z.v.u.
  3. de Boor, S. 75, 4. Z.v.o.
  4. Verwendete Ausgabe, S. 18, 9. Z.v.u.
  5. de Boor, S. 75, 11. Z.v.u.
  6. Verwendete Ausgabe, S. 57, 19. Z.v.u.
  7. „In darkness let me dwell“: Verwendete Ausgabe, S. 13, 12. Z.v.u., „Tell me, true love“: S. 26, 10. Z.v.u., „Though Amarillis daunce in green“: S. 35, 3. Z.v.o. und „Love ye who list, I force him not“: S. 36, 9. Z.v.u. (siehe auch Kässens im Nachwort der verwendeten Ausgabe, S. 382, 18. Z.v.u.).
  8. Verwendete Ausgabe, S. 13 Mitte
  9. Verwendete Ausgabe, S. 50, 8. Z.v.u.
  10. Shirin Sojitrawalla in der Zeit vom 27. Dezember 2001: Wundertütenwelt
  11. Köln 2010 (Memento des Originals vom 22. September 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/legendevomarmenheinrich-theater.de
  12. Kässens im Nachwort der verwendeten Ausgabe, S. 380, 5. Z.v.u. - S. 382, 6. Z.v.u.