Diskussion:Atavismus (Soziologie)
Religiosität als Atavismus?
Evolutionsbiologen haben erhebliche Schwierigkeiten die Religiosität der Menschen zu erklären. Ist sie ein Atavismus? Gibt es außer dem zitierten Roman weitere Überlegungen oder Veröffentlichungen dazu?--87.143.104.159 13:35, 6. Jul. 2013 (CEST)
Brockhaus exakt; übertragen
Prowdly presenting from my Löschdiskussion:
„Atav'ismus der, -/…vismen, Rückschlag, Biologie: Wiedererscheinen von Eigenschaften entfernter Vorfahren; übertragen auch: Rückfall in urtümliche oder primitive Zustände.“
Der Wiktionary-Eintrag baut das etwas aus, mit Zitaten! Der Brockhaus-Artikel ist insofern das, was der Artikel Atavismus beschreibt. Der Artikel Atavismus (Soziologie) wurde wohl für die „übertragene“ Bedeutung verfasst. Statt einen separaten Artikel für die „übertragene“ Bedeutung zu verfassen, könnte man sich auch folgende Artikel zum Vorbild nehmen:
- Verbrämung – ein Begriff aus der Kunstgeschichte mit einer übertragenen Bedeutung im alltäglichen Wortschatz, die so auch angegeben wird.
- Urteilsschelte aus der Rechtsgeschichte, seit Jahrzehnten wird der Ausdruck in Leserbriefen über Gerichtsurteile (u. ä.) verwendet, was ich das mit einem uralten ZEIT-Artikel belegen konnte, verfasst vom ersten deutschen Inhaber eines Lehrstuhls für Politikwissenschaft.
--Lückenloswecken! 21:47, 11. Apr. 2015 (CEST)
Wiktionary gibt als „übertragen“ an (mir bisher unbekannt): „eine Auffassung oder ein Verhalten, das einem veralteten Weltbild entspricht“ mit Beleg „Aber Reisen, meine Herren, ist mittelalterlich, wir haben heute schon die Mittel der Kommunikation, die uns die Welt ins Haus liefern, es ist ein Atavismus, von einem Ort zum anderen zu fahren.“ aus Homo faber (Roman). Die angebliche übertragene Bedeutung kommt mir als ausschließlich auf diesen Satz gemünzt vor. Gegenüber der Brockhaus-Formulierung möchte ich das deshalb vorerst nicht einbauen. Vielleicht helfen die weiteren im Wiktionary-Eintrag angegebenen Quellen (andere Wörterbücher) weiter. --Lückenloswecken! 00:47, 12. Apr. 2015 (CEST)
Der Deutlichkeit halber (Vergleich mit der angeblichen Brockhaus-Quelle) nochmal die ersten zwei Sätze des Artikels, abwechslungshalber unwikifiziert wie in der zweiten Version des Artikels, zwei Minuten nach der ersten (Tippfehler korrigiert, Absatz):
„Ein Atavismus (von lateinisch atavus ‚Urahn‘[1]), veraltet auch Rückschlag, ist der Rückfall in den Zustand einer urtümlichen oder primitiven Zivilisation. Dabei treten bei Menschen bzw. Menschengruppen soziale Merkmale auf, die bei Vorfahren z.B. der Steinzeit ausgebildet waren, dem unmittelbaren Vorfahren jedoch abgingen.“
… zur Textänderung, die ich jetzt vornehme. Ich will damit nicht so sehr den Artikel retten, bin momentan sogar eher für Löschen. Der Artikel soll nur nicht weiter den Eindruck erwecken, von der „Steinzeit“-Geschichte stünde irgendwas im Brockhaus. – Was die IP da hinzugedichtet hat, finde ich gar nicht mal so schlecht versucht, Benutzer:Zulu55 hat es aber zu Recht als „unbelegte Theoriefindung“ bezeichnet, und jetzt unter scharfer Beobachtung ist das nicht mehr haltbar. (Auf Nachfrage gebe ich ca. drei ähnliche von mir verbrochene Begriffsklärungsseiten an, bei denen ich eigentlich froh wäre, wenn ein Fachmännin ein kritisches Auge drauf würfe). --Lückenloswecken! 01:09, 12. Apr. 2015 (CEST)
Kannibalismus und Medien
Der Artikel nennt jetzt ein „literarisches Beispiel“ für „soziologischen“ Atavismus. Kennt jemand ein reales Beispiel für Atavismus? Andernfalls wird Atavismus (Soziologie) von Atavismus verschluckt werden. Ein Lemma Atavismus (Soziologie) ist nur zu rechtfertigen, wenn sich in der Soziologie tatsächlich mal jemand „atavistisches Verhalten“ (keinesfalls zu verwechseln mit Atavismus#Verhaltensatavismus) als (realem) Phänomen beschäftigt hätte.
Ätsch, mir fallen reale Beispiele ein; die setzen sich so zusammen: Zum einen fanden etwa Christoph Kolumbus und James Cook auf ihren Reisen rituellen Kannibalismus bei „weniger zivilisierten“ Völkern, wohl grob auf Steinzeit-Niveau. Ein Beispiel von Atavismus wird daraus, wenn nun auch Mitglieder unserer europäisch-westlichen Zivilisation zu Kannibalen werden. Ein kulturwissenschaftlich bedeutendes Beispiel war der Schiffbruch der Méduse, in dessen Verlauf Seile zwischen Rettungsboten und einem Rettungsfloß – bekannt geworden als „das Floß der Medusa“, gekappt wurden und es aus Nahrungknappheit auf dem Floß zu Kannibalismus kam. Der französische Romantiker Théodore Géricault (1791–1824) stellte das Ereignis in einem Gemälde Le Radeau de la Méduse mit großem Erfolg dar, der viele Unterhaltungen in den Salons befeuerte. Nach Géricault konnten viele andere Künstler mit Das Floß der Medusa#Weiterbearbeitungen des Stoffs Erfolge feiern und sich ein Einkommen sichern.
„Kultureller Atavismus” konnte mindestens zwei weitere Male Kassen füllen oder hätte können: So traten Hungersnöte auf, in denen es zu Kannibalismus kam. Die Havarie von Fuerza-Aérea-Uruguaya-Flug 571 1972 in den Anden fernab der „Zivilisation” führte wieder zu Kannibalismus-Ereignissen, die sich im Film Überleben! vermarkten ließen. Es entstanden weitere Filme und Bücher, denen man weniger unterstellen mag, es sei ihnen nur um den kommerziellen Erfolg gegangen. Für mich ist auch dies nicht ein Meilenstein der soziologischen Atavismusforschung, vielmehr scheint die Möglichkeit, in Extremsituationen vor „primitivem“ und eigentlich abscheulichen Taten nicht mehr zurückzuschrecken, ein Thema zu sein, das viele Menschen sehr interessiert und mit denen man immer wieder ein großes Medienecho auslösen kann, wenn man den Lärm und das Erlebnis mag, dass die Masche immer wieder funktioniert.
In Deutschland entfachte der Kannibale von Rotenburg ein weiteres Medienereignis von Rang. Der Film wurde wohl im Hinblick auf Persönlichkeitsrechte verboten, worüber ich tendenziell zufrieden bin.
Damit habe ich Fälle von „Kannibalismus“ als „Atavismus“ dargestellt. Das ist glatte Theoriefindung, solange ich nicht die Bücher und Zeitschriften wiederfinde, die ich vor 30 Jahren zu diesen Themen gelesen habe, als unsere Schultheater-AG sich mit Georg Kaisers Floß der Medusa und Goldings Herr der Fliegen beschäftigte. Diese Werke wichen von den den realen Vorbildern weit ab und konfrontierten stattdessen Leser/Zuschauer mit der Möglichkeit, Kinder könnten in Robinsonaden in „unschuldigem Spiel“ Menschenopfer aus der Erwachsenwelt (Mesoamerikas?) nachahmen. Georg Kaiser hat zunächst das Schiffsbruchthema in dieser Weise umgedeutet; Golding ist einen Schritt weiter mit der Technik gegangen und hat den Schiffbruch durch einen Flugzeugabsturz ersetzt. --Lückenloswecken! 11:57, 12. Apr. 2015 (CEST)
Lemma im Lexikon zur Soziologie
Kopie meines Beitrages in der Löschdiskussion: Im stichwortreichen Lexikon zur Soziologie (Werner Fuchs-Heinritz und andere (Hg.), 5. Auflage, Springer, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-19670-1) gibt es das Lemma (S. 62). Dort heißt es, nachdem die Verwendung in der Evolutionsbiologie genannt wurde: „Umgangssprachlich hat sich hieraus in der Soziologie entwickelt: Rückfall von Einzelnen oder sozialen Einheiten in angenommene früh- oder vormenschliche Verhaltensweisen oder Vorstellungen.“ --Jürgen Oetting (Diskussion) 21:01, 15. Apr. 2015 (CEST)