Dorchen Richter

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Dora Richter, genannt „Dorchen“ (* 1891; † nach 1933) war die erste namentlich bekannte Person, die sich einer kompletten Geschlechtsangleichung (von Mann zu Frau) samt Vaginoplastik unterzog.[1] Sie war eine von mehreren transsexuellen bzw. Transgender-Personen in der Obhut von Magnus Hirschfeld am Berliner Institut für Sexualwissenschaft in den 1920er und frühen 1930er Jahren.[2]

Biografie

Dorchen Richter wurde 1891 in eine arme Bauernfamilie geboren[3] und wurde „Rudolph“ genannt. Schon seit früher Kindheit zeigte sie „die Neigung zum weiblichen Tun und Treiben“.[1] Im Alter von 6 Jahren versuchte sie, ihr männliches Geschlechtsteil mit einem Tourniquet zu entfernen.[4] Sie begann Mädchen- bzw. Frauenkleidung zu tragen, nannte sich Dora und lebte, soweit sie konnte, als Frau. Wegen der strengen Gesetze der Zeit war sie jedoch zunächst zu einem Doppelleben gezwungen: Während der Sommersaison arbeitete sie als Kellner unter ihrem männlichen Geburtsnamen in Berliner Hotels, lebte jedoch den Rest des Jahres als Frau. Mehrfach wurde sie eingesperrt, weil sie Kleidung „des anderen Geschlechts“ trug, und war dann gezwungen, ihre Strafe in Männergefängnissen abzubüßen, bis sie von einem Richter in die Obhut von Magnus Hirschfeld entlassen wurde.[5][6]

Hirschfeld erwirkte für sie eine besondere polizeiliche Erlaubnis, Frauenkleidung zu tragen, und da es sonst fast unmöglich war als „Transvestit[7] eine Anstellung zu bekommen, stellte er sie zusammen mit einigen anderen Transgender-Personen als Hausangestellte am Institut für Sexualforschung ein; dort wurde sie liebevoll „Dorchen“ genannt.[8][6] Im Jahr 1922 unterzog sie sich einer selbst gewünschten Orchiektomie (Entfernung der männlichen Keimdrüsen). Felix Abraham, ein am Institut tätiger Psychiater, veröffentlichte Richters Geschlechtsumwandlung als Fallstudie: „Die Kastration hat sich, wenn auch nicht weitgehend, so ausgewirkt, daß der Körper voller wurde, der Bartwuchs nachließ, Brustansatz sich bemerkbar machte und auch das Fettpolster des Beckens… weiblichere Formen annahm.“[9][1]

Im Juni 1931 ließ Dorchen Richter eine Penektomie vom Institutsarzt Ludwig Levy-Lenz und durch Felix Abraham durchführen. Der Berliner Chirurg Erwin Gohrbandt (1890–1965) schuf eine künstliche Vagina.[9][1] Dadurch wurde sie zur ersten namentlich bekannten transsexuellen Frau, die eine echte Vaginoplastik erhielt (einige Monate vor der bekannteren Lili Elbe).

Der wachsende nationalsozialistische Einfluss in Deutschland veranlasste Hirschfeld, aus dem Land zu fliehen. Im Mai 1933 griff ein Mob von Nazis das Institut an und verbrannte all seine Aufzeichnungen. Über Dorchen Richters weiteres Leben und Sterben sind keine weiteren Informationen bekannt.[6]

Levy-Lenz erinnerte sich an Dorchen Richter und die anderen vier „transvestitischen“ Dienstmädchen des Berliner Institutes für Sexualwissenschaft: „… ich werde den Anblick nie vergessen, der sich mir bot, als ich einmal nach Feierabend in die Küche des Hauses verschlagen wurde: Da saßen die fünf ‚Mädchen‘ strickend und nähend friedlich nebeneinander und sangen gemeinsam alte Volkslieder. Jedenfalls war es das beste, fleißigste und gewissenhafteste Hauspersonal, das wir je gehabt haben. Niemals hat ein Fremder, der uns besuchte, etwas davon gemerkt…“.[1][9]

Quellen

  • Felix Abraham: „Genitalumwandlung an zwei maennlichen Transvestiten“. In: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 18, 1931, S. 223–226
  • Edward Ball: Peninsula of Lies: A True Story of Mysterious Birth and Taboo Love. Simon and Schuster, 2010, S. 89. ISBN 9781451603712.
  • Dorchen's Day - Providentia, auf: drvitelli.typepad.com, abgerufen am 15. Februar 2018.
  • R. Herrn: „Vom Geschlechtsumwandlungswahn zur Geschlechtsumwandlung“, in: Pro Familia Magazin 23(2), 1995, S. 14–18.
  • Harald Rimmele: Biographie von Dorchen Richter auf www.hirschfeld.in-berlin.de, zuletzt abgerufen am 15. Februar 2018
  • E. Mancini: Magnus Hirschfeld and the Quest for Sexual Freedom: A History of the First International Sexual Freedom Movement, Google Books: S. 70, abgerufen am 15. Februar 2018.
  • „The surgical solution“, auf www.cinematter.com, zuletzt abgerufen am 15. Februar 2018.
  • „A Trans Timeline“, online auf Trans Media Watch, abgerufen am 15. Februar 2018.

Einzelnachweise

  1. a b c d e Harald Rimmele: Biographie von Dorchen Richter auf www.hirschfeld.in-berlin.de, zuletzt abgerufen am 15. Februar 2018
  2. Magnus Hirschfeld and the Quest for Sexual Freedom: A History of the First International Sexual Freedom Movement. In: Google Books. Abgerufen am 14. Mai 2016.
  3. Edward Ball: Peninsula of Lies: A True Story of Mysterious Birth and Taboo Love. Simon and Schuster, 2010, ISBN 978-1-4516-0371-2, S. 89.
  4. Dorchen's Day - Providentia, auf: drvitelli.typepad.com, abgerufen am 15. Februar 2018.
  5. Dorchen's Day - Providentia, auf: drvitelli.typepad.com, abgerufen am 15. Februar 2018.
  6. a b c Dorchen's Day – Providentia. In: drvitelli.typepad.com. 5. Dezember 2010, abgerufen am 3. Februar 2016.
  7. Dorchen Richter war in Wirklichkeit transsexuell, aber der Terminus „Transvestit“ wurde von Hirschfeld bereits 1910 eingeführt (in „Die Transvestiten“, 1910), und war zunächst geläufiger. Den Terminus transsexuell verwendete er zum ersten Mal 1923.
  8. Dorchen's Day - Providentia, auf: drvitelli.typepad.com, abgerufen am 15. Februar 2018.
  9. a b c A Trans Timeline – Trans Media Watch. In: Trans Media Watch. Abgerufen am 3. Februar 2016.