Entlabialisierung
Unter Entlabialisierung oder Entrundung versteht man in der Phonetik Prozess und Ergebnis eines Aussprache-Wandels, durch den ursprünglich mittels der Vorderzunge gerundete Vokale ihre Lippenrundung verlieren.
Deutsch und seine Nahsprachen
Im Deutschen gilt Entrundung der mittelhochdeutschen Umlaute „ö“, „ü“ und „eu/äu“ zu „e“, „i“ und „ai“ in den meisten Dialekten des Oberdeutschen und des Mitteldeutschen. Mundarten, die sich der Entrundung entzogen haben, sind im Oberdeutschen das Hochalemannische und teilweise das Höchstalemannische sowie viele ostfränkische Dialekte, im Mitteldeutschen ripuarische Dialekte wie das Kölsche und Oecher Platt. Im niederdeutschen Sprachraum kommt bzw. kam Entrundung nur im niederpreußischen Dialekt vor.[1] In Kombination mit anderen Lautgesetzen konnte hieraus sekundär auch ein Diphthong entstehen, besonders im Bairischen und Schwäbischen, aber auch im Pfälzischen, Jiddischen, Luxemburgischen und Siebenbürgisch-Sächsischen. Einige bairische Dialekte in Österreich haben die ursprünglich gerundeten vorderen Vokale verloren, weisen aber im Zusammenhang mit der Vokalisation des auslautenden /l/ sekundär gerundete Vokale auf (z. B. wienerisch vü „viel“; anderswo hingegen vui).
Beispiele der Entlabialisierung sind etwa sche(e)n, schean, schin(g) für „schön“, ble(e)d, blead für „blöd“, Esterraich für „Österreich“, griin/grean für „grün“, Schliss(e)l für „Schlüssel“, Lait für „Leute“. Dass die deutsche Schriftsprache angesichts der in der gesprochenen (dialektalen) Sprache weitgehend durchgeführten Entrundung diese nicht nachvollzogen hat, ist demzufolge als ein äußerst konservativer Zug zu sehen.
Englisch
Im Englischen fand vom Übergang des Altenglischen ins Mittelenglische eine Entrundung von /œ/ und /øː/ zu /ɛ/ und /eː/ und später von /ʏ/ und /yː/ zu /ɪ/ and /iː/ statt. In späteren Sprachstufen haben sich diese Laute teilweise weiterentwickelt, wobei die mittelenglischen Lautungen oft noch in der Schreibung ablesbar sind. Beispiele sind etwa feet, minster, mice, vgl. deutsch „Füße“, „Münster“, „Mäuse“.
Sonderfall
Keine Entrundung im eigentlichen Sinn ist die neuzeitliche Aussprache des griechischen Ypsilons als „i“. Diese entspricht der Aussprache im Altgriechischen, die sich schon ab dem 3. Jahrhundert nach Chr. entwickelte (sogenannter Itazismus in der griechischen Sprachentwicklung.)
Im Standarddeutschen hat sich allerdings seit der Epoche des Klassizismus die anachronistische Tendenz eingestellt, das Ypsilon wieder als „ü“ auszusprechen, etwa [zʏsˈtʰeːm] statt [zɪsˈtʰeːm] für System. Es handelt sich hier um eine gewisse Sonderentwicklung des Neuhochdeutschen. Andere europäische Hauptsprachen wie Italienisch oder Französisch sind bei „i“ geblieben, doch mehrere Sprachen mit weniger Sprechern haben auch die Aussprache „ü“, beispielsweise Dänisch, Estnisch und Finnisch.
Literatur
- Helmut Glück (Hrsg.): Metzler-Lexikon Sprache. 4. Auflage; Verlag J. B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2010, ISBN 3-476-02335-4.
- Peter Wiesinger: Rundung und Entrundung, Palatalisierung und Entpalatalisierung, Velarisierung und Entvelarisierung in den deutschen Dialekten. In: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. Hrsg. von Werner Besch, Ulrich Knoop, Wolfgang Putschke, Herbert Ernst Wiegand. 2 Halbbände. Walter de Gruyter, Berlin / New York 1982. 1983 (Handbücher zur Sprache und Kommunikationswissenschaft, Band 1.1. und 1.2), S. 1101–1110 (mit Karte 58.1). ISBN 9783110203332.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Einzelheiten siehe Peter Wiesinger (1983), siehe Kapitel Literatur.